E1547/2023 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung
Spruch
I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in seinen Rechten verletzt worden.
Das Erkenntnis wird aufgehoben.
II. Das Land Wien ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Entscheidungsgründe
1. Der Beschwerdeführer ist tschechischer Staatsangehöriger. Der Vater des Beschwerdeführers war bis 1936 österreichischer Staatsbürger; er verlor die österreichische Staatsbürgerschaft mit (auf Antrag seines Vormundes erfolgter) Verleihung der tschechoslowakischen Staatsangehörigkeit.
2. Mit am 7. September 2020 eingelangtem Schreiben richtete der Beschwerdeführer eine Anzeige gemäß §58c Abs1a StbG an die Wiener Landesregierung. Mit Bescheid vom 22. September 2022 stellte die Wiener Landesregierung gemäß §39 StbG fest, dass der Beschwerdeführer die österreichische Staatsbürgerschaft auf Grund der Anzeige vom 7. September 2020 gemäß §58c Abs1a StbG nicht erworben habe.
2.1. In der dagegen fristgerecht erhobenen Beschwerde an das Verwaltungsgericht Wien vom 27. Oktober 2022 wurde ein Antrag auf Gewährung von Verfahrenshilfe für das verwaltungsgerichtliche Verfahren gestellt. Mit Beschluss vom 15. Dezember 2022 wies das Verwaltungsgericht Wien diesen Antrag ab. Aus §8a Abs1 VwGVG folge, dass die Gewährung der Verfahrenshilfe nicht in allen Verfahren der Verwaltungsgerichte in Betracht komme, sondern erfordere, dass der Anwendungsbereich des Art6 Abs1 EMRK oder des Art47 GRC eröffnet sei. Dem Antrag würde ein Verfahren betreffend die Feststellung des Erwerbes der Staatsbürgerschaft zugrunde liegen, wobei die Verleihung der Staatsbürgerschaft nicht vom Begriff der "civil rights" im Sinne des Art6 EMRK erfasst sei. Dies gelte auch für Verfahren wie das vorliegende, bei dem festgestellt werden solle, ob die Staatsbürgerschaft durch Anzeige ex lege erworben wurde. Zudem werde dieses Verfahren nicht in Durchführung von Unionsrecht im Sinne des Art51 Abs1 GRC geführt, weshalb dieses Verfahren auch nicht den Garantien des Art47 GRC unterliegen würde. Die Gewährung von Verfahrenshilfe sei daher weder auf Grund des Art6 EMRK noch des Art47 GRC geboten. Da die von §8a VwGVG geforderte Grundrechtsakzessorietät damit nicht gegeben sei, sei der Antrag abzuweisen.
2.2. Mit Eingabe vom 10. Jänner 2023 wurde beim Verfassungsgerichtshof ein Antrag auf Gewährung von Verfahrenshilfe zur Erhebung einer Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichtes Wien vom 15. Dezember 2022 gestellt, der zur Zahl E138/2023 protokolliert wurde. Diesem Antrag wurde mit Beschluss vom 27. April 2023, E138/2023-7, stattgegeben. Am 22. Juni 2023 wurde fristgerecht eine auf Art144 B VG gestützte Beschwerde durch den bestellten Verfahrenshelfer eingebracht.
2.3. Mit – im Rahmen des Beschwerdeverfahrens zur Zahl E138/2023 erstatteter – Gegenschrift vom 7. Juli 2023 teilte das Verwaltungsgericht Wien dem Verfassungsgerichtshof mit, dass im Hauptverfahren vor dem Verwaltungsgericht, im Rahmen dessen jener Verfahrenshilfeantrag gestellt wurde, der Gegenstand des verfassungsgerichtlichen Verfahrens zu E138/2023 ist, bereits eine Enderledigung erlassen wurde (siehe Pkt. 3).
Diese zu E138/2023 protokollierte Beschwerde des Beschwerdeführers wurde daraufhin mit Beschluss des Verfassungsgerichtshofes vom 4. Oktober 2023, E138/2023-25, in Ermangelung eines Rechtsschutzinteresses des Beschwerdeführers mangels Legitimation zurückgewiesen. Begründend führt der Verfassungsgerichtshof aus, dass das Verwaltungsgericht Wien im Verfahren, auf das sich der Verfahrenshilfeantrag an das Verwaltungsgericht Wien bezogen hat, mittlerweile in der Sache entschieden habe, dieses Verfahren somit abgeschlossen sei und eine allenfalls zu Unrecht erfolgte Verweigerung der Verfahrenshilfe gegebenenfalls die Entscheidung in der Hauptsache mit einem Mangel belasten würde.
3. Mit Erkenntnis vom 19. April 2023 wurde die Beschwerde gegen den Bescheid der Wiener Landesregierung vom 22. September 2022, mit dem festgestellt wurde, dass die Anzeige des Beschwerdeführers vom 7. September 2020 gemäß §58c Abs1a StbG nicht zum Erwerb der Staatsbürgerschaft geführt hat, vom Verwaltungsgericht Wien als unbegründet abgewiesen.
4. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung des Beschwerdeführers im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) sowie die Verletzung in seinen Rechten wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu die Abtretung an den Verwaltungsgerichtshof beantragt wird.
5. Das Verwaltungsgericht Wien und die Wiener Landesregierung haben die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift aber jeweils Abstand genommen.
6. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet:
6.1. Der Verfassungsgerichtshof hat mit Erkenntnis vom 3. Oktober 2024, G3504/2023, die Wort- und Zeichenfolge "dies auf Grund des Art6 Abs1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl Nr 210/1958, oder des Art47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ABl. Nr C83 vom 30.03.2010 S. 389, geboten ist," in §8a Abs1 des Bundesgesetzes über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz – VwGVG), BGBl I 33/2013, idF BGBl I 24/2017 als verfassungswidrig aufgehoben.
6.2. Gemäß Art140 Abs7 B VG wirkt die Aufhebung eines Gesetzes auf den Anlassfall zurück. Es ist daher hinsichtlich des Anlassfalles so vorzugehen, als ob die als verfassungswidrig erkannte Norm bereits zum Zeitpunkt der Verwirklichung des der angefochtenen Entscheidung des Verwaltungsgerichtes zugrunde gelegten Tatbestandes nicht mehr der Rechtsordnung angehört hätte.
Dem in Art140 Abs7 B VG genannten Anlassfall (im engeren Sinn), anlässlich dessen das Gesetzesprüfungsverfahren tatsächlich eingeleitet worden ist, sind all jene Beschwerdefälle gleichzuhalten, die zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung im Gesetzesprüfungsverfahren (bei Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung zu Beginn der nichtöffentlichen Beratung) beim Verfassungsgerichtshof bereits anhängig waren (VfSlg 10.616/1985, 11.711/1988); darüber hinaus muss der das Verwaltungsverfahren einleitende Antrag vor Bekanntmachung des dem unter Pkt. 6.1. genannten Erkenntnis zugrunde liegenden Prüfungsbeschlusses des Verfassungsgerichtshofes gestellt worden sein (VfSlg 17.687/2005).
6.3. Die nichtöffentliche Beratung im Gesetzesprüfungsverfahren begann am 18. Juni 2024; der dieses Gesetzesprüfungsverfahren einleitende Beschluss wurde am 8. Jänner 2024 bekannt gemacht. Die vorliegende Beschwerde ist beim Verfassungsgerichtshof am 13. September 2023 eingelangt, war also zu Beginn der nichtöffentlichen Beratung schon anhängig; da der das Verwaltungsverfahren auslösende Antrag ausweislich der Verwaltungsakten auch vor Bekanntgabe des Prüfungsbeschlusses, nämlich am 27. Oktober 2022, gestellt worden ist, ist der Fall somit einem Anlassfall gleichzuhalten.
Das Verwaltungsgericht Wien wendete im Verfahren zur Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses die als verfassungswidrig aufgehobene Gesetzesbestimmung an. Es ist nach Lage des Falles nicht ausgeschlossen, dass diese Gesetzesanwendung für die Rechtsstellung des Beschwerdeführers nachteilig war. Der Beschwerdeführer wurde somit wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in seinen Rechten verletzt.
Das Erkenntnis ist daher aufzuheben.
7. Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung wurde gemäß §19 Abs4 VfGG abgesehen.
8. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil der Beschwerdeführer Verfahrenshilfe (auch) im Umfang des §64 Abs1 Z1 lita ZPO genießt.