JudikaturVfGH

E119/2023 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung

Entscheidung
03. Oktober 2024

Spruch

I. Die beschwerdeführenden Parteien sind durch den angefochtenen Beschluss wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt worden.

Der Beschluss wird aufgehoben.

II. Das Land Wien ist schuldig, den beschwerdeführenden Parteien zuhanden ihrer Rechtsvertreterin die mit € 3.139,20 bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Entscheidungsgründe

1. Die beschwerdeführenden Parteien sind afghanische Staatsangehörige. Die Erstbeschwerdeführerin ist Mutter der Zweitbeschwerdeführerin sowie des minderjährigen Dritt- und Viertbeschwerdeführers. Die Erstbeschwerdeführerin hält sich seit 2002 rechtmäßig in Österreich auf. Im Jahr 2004 wurde ihr der Status der Asylberechtigten zuerkannt. Die Kinder der Erstbeschwerdeführerin wurden in Österreich geboren.

2. Die Erstbeschwerdeführerin beantragte am 23. September 2021 die Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft und deren Erstreckung auf ihre drei (damals) minderjährigen Kinder. Mit Bescheid vom 22. Juni 2022 wies die belangte Behörde die Anträge ab, da der Lebensunterhalt der Erstbeschwerdeführerin nicht ausreichend gesichert gewesen sei.

In der dagegen fristgerecht erhobenen Beschwerde bzw mit ergänzendem Schriftsatz wurden Anträge auf Gewährung von Verfahrenshilfe für das verwaltungsgerichtliche Verfahren gestellt. Mit Beschluss vom 17. November 2022 wies das Verwaltungsgericht Wien diese Anträge ab. Aus §8a Abs1 VwGVG folge, dass die Gewährung der Verfahrenshilfe nicht in allen Verfahren der Verwaltungsgerichte in Betracht komme, sondern erfordere, dass der Anwendungsbereich des Art6 Abs1 EMRK oder des Art47 GRC eröffnet sei. Den Anträgen würden Verfahren betreffend den Erwerb der Staatsbürgerschaft zugrunde liegen, wobei die Verleihung der Staatsbürgerschaft nicht vom Begriff der "civil rights" im Sinne des Art6 EMRK erfasst sei. Zudem werde dieses – konkret afghanische Staatsangehörige betreffende – Verfahren nicht in Durchführung von Unionsrecht im Sinne des Art51 Abs1 GRC geführt, weshalb dieses Verfahren auch nicht den Garantien des Art47 GRC unterliegen würde. Die Gewährung von Verfahrenshilfe sei daher weder auf Grund des Art6 EMRK noch des Art47 GRC geboten. Da die von §8a VwGVG geforderte Grundrechtsakzessorietät damit nicht gegeben sei, seien die Anträge abzuweisen.

3. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Beschlusses beantragt wird. Zur Beurteilung der Frage, ob die Gewährung von Verfahrenshilfe auf Grund des Art6 EMRK bzw des Art47 GRC geboten ist, komme es im Sinne der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sowie des Gerichtshofes der Europäischen Union darauf an, ob die Beigebung eines Rechtsbeistandes für einen effektiven Zugang zum Gericht unentbehrlich ist. Ungeachtet dessen, dass der Gewährung der Verfahrenshilfe nach §8a VwGVG Ausnahmecharakter zukomme, könne dies im Einzelfall erforderlich sein. Die pauschale Verweigerung, Fremden in Verfahren zur Erlangung der Staatsbürgerschaft Verfahrenshilfe zu gewähren, verstoße gegen das Willkürverbot.

Aus Anlass dieser Beschwerde leitete der Verfassungsgerichtshof gemäß Art140 Abs1 Z1 litb B VG von Amts wegen ein Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des §8a des Bundesgesetzes über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz – VwGVG), BGBl I 33/2013, idF BGBl I 109/2021 ein. Mit Erkenntnis vom heutigen Tag, G3504/2023, hob er die Wort- und Zeichenfolge "dies auf Grund des Art6 Abs1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl Nr 210/1958, oder des Art47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ABl. Nr C83 vom 30.03.2010 S. 389, geboten ist," in §8a Abs1 des Bundesgesetzes über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz – VwGVG), BGBl I 33/2013, idF BGBl I 24/2017 als verfassungswidrig auf.

4. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

Das Landesverwaltungsgericht hat eine verfassungswidrige Gesetzesbestimmung angewendet. Es ist nach Lage des Falles nicht auszuschließen, dass ihre Anwendung für die Rechtsstellung der beschwerdeführenden Parteien nachteilig war.

Die beschwerdeführenden Parteien wurden also durch den angefochtenen Beschluss wegen Anwendung einer verfassungswidrigen Gesetzesbestimmung in ihren Rechten verletzt (zB VfSlg 10.404/1985).

Der Beschluss ist daher aufzuheben.

5. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

6. Die Kostenentscheidung beruht auf §88a Abs1 iVm §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 523,20 enthalten. Da die beschwerdeführenden Parteien gemeinsam durch eine Rechtsanwältin vertreten sind, ist der einfache Pauschalsatz, erhöht um einen entsprechenden Streitgenossenzuschlag zuzusprechen. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil die beschwerdeführenden Parteien Verfahrenshilfe (auch) im Umfang des §64 Abs1 Z1 lita ZPO genießen.

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