E3409/2023 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung
Spruch
I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden.
Das Erkenntnis wird aufgehoben.
II. Der Bund (Bundeskanzler) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsvertreterin die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde, Vorverfahren und Prüfungsbeschluss
1. Der Beschwerdeführer ist österreichischer Staatsbürger. Nach einer Unterbrechung seines ordentlichen Zivildienstes erließ die Zivildienstserviceagentur am 5. Dezember 2022 eine als Bescheid bezeichnete Erledigung, in deren Spruch der Beschwerdeführer einer näher bezeichneten Einrichtung zur Leistung der Restdienstzeit des ordentlichen Zivildienstes zugewiesen wurde. Die Erledigung enthält weiters eine Begründung sowie eine Rechtsmittelbelehrung, wurde ihrem Erscheinungsbild nach elektronisch erstellt und weist die folgende Fertigung auf:
"Der Leiter der Zivildienstserviceagentur
[Vor- und Nachname des Genehmigenden]"
Weder auf dem der Beschwerde beigelegten noch auf dem im Akt liegenden Duplikat der Erledigung ist eine Amtssignatur vorhanden. Nach den Angaben der Zivildienstserviceagentur sei auch die Urschrift der Erledigung nicht elektronisch genehmigt worden, sondern mittels Unterschrift einer näher bezeichneten, für den Leiter der Zivildienstserviceagentur genehmigungsberechtigten Person; allerdings sei beim Druck eine falsche Fertigungsklausel als Vorlage verwendet worden.
2. Die gegen diese Erledigung erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 20. September 2023 als unbegründet ab. Die angefochtene Erledigung erfülle die Voraussetzungen des §18 Abs3 AVG. Hinsichtlich der Zustellung einer Ausfertigung an zumindest eine der Parteien gelte die besondere Verfahrensbestimmung des §74 Zivildienstgesetz 1986 (ZDG), nach der schriftliche Ausfertigungen von Erledigungen iSd §18 AVG, die unter Verwendung elektronischer Datenverarbeitungsanlagen hergestellt würden, weder der Unterschrift noch der Beglaubigung bedürften. Die Lesbarkeit der Unterschrift auf dem "Bescheid" sei daher unerheblich. Die Erledigung weise alle konstitutiven Bescheidmerkmale auf.
Darüber hinaus sei das Beschwerdevorbringen, aus dem Unterbrechungsbescheid ergebe sich, dass der Beschwerdeführer zu den zugewiesenen Tätigkeiten nicht in der Lage sei, nicht nachvollziehbar. Die bei der Zuweisung anfallenden Tätigkeiten seien nicht gleichartig zu jenen, die bei der damals unterbrochenen Zuweisung zu leisten gewesen wären. Zusammengefasst habe der Beschwerdeführer das gemäß §7 Abs1 ZDG erforderliche Alter und sei zur Leistung des Zivildienstes bescheidmäßig verpflichtet worden; zudem lägen keine rechtlichen Hinderungsgründe vor. Auch sei der Beschwerdeführer im Stande, die ihm übertragenen Aufgaben zu erfüllen. Die Beschwerde sei daher abzuweisen gewesen. Eine mündliche Verhandlung habe gemäß §24 Abs4 VwGVG entfallen können.
3. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, beantragt wird.
Hinsichtlich einer Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz bringt die Beschwerde im Wesentlichen vor, das Bundesverwaltungsgericht habe die Rechtslage gehäuft verkannt und in qualifizierter Weise Verfahrensvorschriften verletzt. Unter anderem habe das Bundesverwaltungsgericht verkannt, dass ein Nichtbescheid vorliege, weil die Erledigung weder eine iSd §18 Abs3 AVG rechtskonforme Unterschrift bzw Beglaubigung aufweise noch eine Amtssignatur enthalte. Unabhängig von der Bestimmung des §74 ZDG sei weiterhin eine unabdingbare Voraussetzung eines Bescheides, dass eine Ausfertigung in Form von elektronischen Dokumenten – soweit sie nicht eine iSd §18 Abs3 AVG rechtskonforme Unterschrift bzw Beglaubigung aufweise – mit einer Amtssignatur zu versehen sei.
4. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift jedoch Abstand genommen.
5. Die Zivildienstserviceagentur hat keine Äußerung erstattet.
6. Aus Anlass dieser Beschwerde leitete der Verfassungsgerichtshof gemäß Art140 Abs1 Z1 litb B VG von Amts wegen ein Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des §74 ZDG, BGBl 679/1986 (WV), idF BGBl 675/1991 ein. Mit Beschluss vom 24. September 2024, G32/2024, hat er das Gesetzesprüfungsverfahren mangels Präjudizialität der in Prüfung gezogenen Bestimmung eingestellt.
II. Erwägungen
1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.
2. Eine Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz kann nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (zB VfSlg 10.413/1985, 14.842/1997, 15.326/1998, 16.488/2002 und 20.299/2018) nur vorliegen, wenn die angefochtene Entscheidung auf einer dem Gleichheitsgebot widersprechenden Rechtsgrundlage beruht, wenn das Verwaltungsgericht der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat.
Ein willkürliches Verhalten kann dem Verwaltungsgericht unter anderem dann vorgeworfen werden, wenn die angefochtene Entscheidung wegen gehäuften Verkennens der Rechtslage in einem besonderen Maße mit den Rechtsvorschriften in Widerspruch steht (zB VfSlg 10.065/1984, 14.776/1997, 16.273/2001 und 19.518/2011).
3. Ein derartiger Widerspruch ist im vorliegenden Fall gegeben:
3.1. Mit Beschluss vom 24. September 2024, G32/2024, hat der Verfassungsgerichtshof ausgesprochen, dass dem §74 ZDG durch die Novelle BGBl I 5/2008 materiell derogiert wurde. Das Bundesverwaltungsgericht begründet das Vorliegen eines "Bescheides" jedoch im Wesentlichen damit, dass die Voraussetzungen des §18 Abs3 AVG erfüllt seien und "[i]m Anwendungsbereich des ZDG […] die besondere Verfahrensbestimmung des §74 ZDG" gelte.
3.2. Zwar ist dem Bundesverwaltungsgericht nicht subjektiv vorwerfbar, dass es die materielle Derogation der von ihm dem Erkenntnis zugrunde gelegten Rechtsvorschrift nicht erkannt hat. Gleichwohl hat der Verfassungsgerichtshof den nunmehr deutlich gewordenen Fehler aufzugreifen: Indem das Bundesverwaltungsgericht eine im Entscheidungszeitpunkt nicht mehr dem Rechtsbestand angehörende Bestimmung tragend angewendet hat, hat es das angefochtene Erkenntnis mit Willkür belastet (vgl VfGH 11.6.2019, E4632/2018; 11.6.2019, E4633/2018).
III. Ergebnis
1. Der Beschwerdeführer ist somit durch die angefochtene Entscheidung in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden.
Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten.