JudikaturVfGH

E615/2024 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung

Entscheidung
16. September 2024

Spruch

I. Die Beschwerdeführerin ist durch den angefochtenen Beschluss im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt.

Der Beschluss wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Die Beschwerdeführerin wurde – den Feststellungen des Verwaltungsgerichtes Wien zufolge – am 11. Mai 2023 nach Auflösung einer Versammlung der Gruppe "Letzte Generation" nach §35 Z3 VStG in Verbindung mit §14 Abs1 Versammlungsgesetz 1953 festgenommen, gemäß §40 Abs1 SPG durchsucht und – wie bereits die Tage zuvor – in das Polizeianhaltezentrum Rossauer Lände gebracht.

Im Polizeianhaltezentrum wurde sie von einer Beamtin der Landespolizeidirektion Wien durchsucht (vgl §40 Abs1 SPG und §6 Abs4 AnhO). Zu diesem Zweck musste sich die Beschwerdeführerin bis auf ihre Unterhose entkleiden. Der Aufforderung, ihre Unterhose unter die Hüfte zu ziehen, kam die Beschwerdeführerin nicht nach. Ihre Weigerung hatte zur Folge, dass sie von der Beamtin durch die Unterhose abgetastet wurde. Diese Vorgehensweise der Beamtin geschah gegen den Willen der Beschwerdeführerin, die dies auch mehrfach zum Ausdruck brachte.

Nachdem sich die Beschwerdeführerin wieder angezogen hatte, begleiteten sie zwei Beamtinnen der Landespolizeidirektion Wien zu einer Gemeinschaftszelle, in der die Beschwerdeführerin bereits am Vortag angehalten wurde. Auf dem Weg zur Gemeinschaftszelle erklärten ihr die Beamtinnen, dass sie "dort putzen darf", weil eine Wand der Gemeinschaftszelle mit einer Aufschrift (einem Spruch) versehen sei. Der Beschwerdeführerin wurde gesagt, dass "sie diesen Spruch beseitigen soll". Als die Beschwerdeführerin die Gemeinschaftszelle betrat, begann sie zu weinen. Ihr wurden mehrere Schwämme und ein Kübel mit Putzmitteln in die Zelle gestellt.

Dazu führte das Verwaltungsgericht Wien aus:

"[Die Beschwerdeführerin] teilte gegenüber einer Beamtin mit, dass sie das nicht will und die Beschwerdeführerin fühlte sich in der Situation ausgeliefert. Sie fühlte sich alleine und hatte auf Grund der gerade gemachten Erfahrung bei der Personendurchsuchung, den subjektiven Eindruck, dass ihr etwas passieren könnte, wenn sie nicht das machen würde, wozu sie aufgefordert wurde, weshalb sie in weiterer Folge zu putzen begann und diese Wand mit dem […] Spruch reinigte.

Es konnte demgegenüber nicht festgestellt werden, dass gegenüber der Beschwerdeführerin bei objektiver Betrachtungsweise eine unverzüglich einsetzende physische Sanktion angedroht wurde bzw eine solche tatsächlich zu erwarten war, wenn sie die Gemeinschaftszelle nicht gereinigt hätte bzw der ihr gegenüber erfolgten Aufforderung, die Zelle zu reinigen, nicht nachgekommen wäre. Ein ausdrücklicher Befolgungsanspruch mit zu erwartender physischer Sanktion ist nicht hervorgekommen."

2. Gegen das Abtasten im Zuge der Durchsuchung und die Aufforderung, die Gemeinschaftszelle zu putzen, erhob die Beschwerdeführerin eine Beschwerde wegen Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt an das Verwaltungsgericht Wien.

3. Das Verwaltungsgericht Wien führte eine mündliche Verhandlung durch und erkannte mit seiner im Anschluss an die Verhandlung mündlich verkündeten und schriftlich ausgefertigten Entscheidung das Abtasten der Beschwerdeführerin im Zuge der Durchsuchung ihrer Person für rechtswidrig. In der Aufforderung, die Gemeinschaftszelle zu reinigen, sah es dagegen mangels Vorliegens eines Aktes unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- oder Zwangsgewalt keinen zulässigen Beschwerdegegenstand und wies die Beschwerde insoweit zurück.

Zur Zurückweisung führte das Verwaltungsgericht Wien beweiswürdigend aus, dass ein ausdrücklicher Befolgungsanspruch im Verfahren nicht hervorgekommen sei. Die Beamtin habe in der Verhandlung offen zugestanden, dass sie die erforderlichen Putzmittel zur Verfügung stelle, jedoch habe sie auch unmissverständlich ausgeführt, dass sie niemanden dazu zwingen könne. Die Beschwerdeführerin habe in der Verhandlung dazu glaubhaft erklärt, dass sie zwar gemeint habe, es könne ihr auf Grund der von ihr unmittelbar zuvor gemachten Erfahrung bei der Personendurchsuchung etwas passieren. Diese Befürchtung habe sich aber – so das Verwaltungsgericht Wien weiter – auf ihre subjektive, emotionale Ebene beschränkt, da keine unverzüglich einsetzende physische Sanktion verbalisiert oder sonst zum Ausdruck gebracht worden sei. Es habe sich auch um eine andere Beamtin gehandelt als bei der Personendurchsuchung. Konkrete Darlegungen, welche weiteren Sanktionen drohen würden und weshalb sie in ihrer Beschwerde vermeint habe, aus diesem Grund später aus der Haft entlassen zu werden, seien nicht erfolgt.

In der Folge verneinte das Verwaltungsgericht Wien einen Akt unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt mit folgender Begründung:

"Das Beweisverfahren hat ergeben, dass weder aus dem Beschwerdevorbringen noch nach Durchführung der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht Wien eine unverzüglich einsetzende physische Sanktion angedroht wurde bzw eine solche zu erwarten war, sodass mangels ausdrücklichem Befolgungsanspruch und auch bei objektiver (und nicht subjektiver) Betrachtungsweise nicht der Eindruck entstanden sein kann, dass mit einer zwangsweisen Durchsetzung zu rechnen war, zumal [die Beschwerdeführerin] Befürchtungen respektive Ängste, somit eine auf subjektiver Ebene verortete Begründung darlegte. Konkrete Anhaltspunkte, dass eine unverzüglich einsetzende Sanktion konkret angedroht wurde oder zu erwarten war, sind demgegenüber nicht hervorgekommen." Ein tauglicher Beschwerdegegenstand sei daher nicht vorgelegen.

4. Gegen die Zurückweisung der Beschwerde richtet sich die vorliegende, auf Art144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, insbesondere im Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter, behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Beschlusses beantragt wird.

Ausgeführt wird, dass bei rechtsrichtiger Betrachtung der Gesamtsituation das Verwaltungsgericht Wien zum Ergebnis kommen hätte müssen, dass ein Akt unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- oder Zwangsgewalt vorgelegen sei: Die Beschwerdeführerin habe sich in Haft befunden und befürchtet, bei Nichtbefolgung der Anordnung nicht bzw später entlassen zu werden. Die Beamtin habe eine Uniform getragen, weshalb ihrer Anordnung erhöhte Bestimmtheit zugekommen sei. Obwohl die Beschwerdeführerin geweint und der Beamtin erklärt habe, dem Befehl nicht nachkommen zu wollen, seien ihr Putzmittel in die Zelle gestellt worden. Auch sei die Beschwerdeführerin unter dem unmittelbaren Eindruck der zwangsweisen Durchsetzung einer für sie äußerst demütigenden Personendurchsuchung gestanden.

5. Auf Aufforderung des Verfassungsgerichtshofes legte das Verwaltungsgericht Wien die Gerichtsakten vor, die Landespolizeidirektion Wien reagierte auf die Aufforderung des Verfassungsgerichtshofes, die Verwaltungsakten vorzulegen, nicht.

II. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

2. Das Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wird durch die Entscheidung eines Verwaltungsgerichtes verletzt, wenn das Verwaltungsgericht eine ihm gesetzlich nicht zukommende Zuständigkeit in Anspruch nimmt (zB VfSlg 15.372/1998, 15.738/2000, 16.066/2001, 16.298/2001, 16.717/2002 und 20.260/2018) oder wenn es in gesetzwidriger Weise seine Zuständigkeit ablehnt, etwa indem es zu Unrecht eine Sachentscheidung verweigert (zB VfSlg 15.482/1999, 15.858/2000, 16.079/2001, 16.737/2002, 20.385/2020 und 20.392/2020).

3. Ein solcher Fehler ist dem Verwaltungsgericht Wien unterlaufen:

Das Verwaltungsgericht Wien hat die Beschwerde mit der Begründung zurückgewiesen, dass die Anordnung der Beamtin der Landespolizeidirektion Wien, die Gemeinschaftszelle zu putzen, ohne Befolgungsanspruch ergangen sei, weil weder eine physische Sanktion angedroht worden sei noch zu erwarten gewesen wäre. Auch könne bei objektiver Betrachtungsweise nicht der Eindruck entstanden sein, dass mit der zwangsweisen Durchsetzung der Anordnung zu rechnen gewesen wäre. Dargelegte Befürchtungen bzw Ängste der Beschwerdeführerin seien bloß subjektiver Natur, konkrete Anhaltspunkte, die eine unverzüglich einsetzende Sanktion erwarten ließen, seien nicht hervorgekommen.

Voraussetzung für die Qualifizierung einer verwaltungsbehördlichen Anordnung als Akt unmittelbarer Befehlsgewalt ist nach ständiger Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes ein unmittelbarer Befolgungsanspruch. Das bedeutet, dass dem Befehlsadressaten bei Nichtbefolgung des Befehls unverzüglich eine physische Sanktion droht (zB VfSlg 10.020/1984, 10.420/1985 und 10.662/1985). Liegt ein derartiger Befolgungsanspruch (objektiv) nicht vor, kommt es darauf an, ob aus Sicht des Betroffenen der Eindruck entstehen musste, dass bei Nichtbefolgung der behördlichen Anordnung mit ihrer unmittelbaren zwangsweisen Durchsetzung zu rechnen ist, wobei das behördliche Vorgehen in seiner Gesamtheit zu beurteilen ist (VfSlg 18.836/2009 mwN und VfGH 6.10.2021, E3811/2020 ua).

Vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung verkennt das Verwaltungsgericht Wien, dass aus Sicht der inhaftierten Beschwerdeführerin die Anordnung, dass "sie diesen Spruch beseitigen soll", in Verbindung mit dem Hinstellen eines Putzkübels jedenfalls als rechtlich durchsetzbare Anordnung verstanden werden musste.

Dass im vorliegenden Fall genügend (objektive) Anhaltspunkte für den Eindruck eines Befolgungsanspruches vorlagen, kann nach Lage des Falles nicht bezweifelt werden: Die Beschwerdeführerin, die sich durch ihre Anhaltung bereits in einer Situation eingeschränkter Willensfreiheit befand, musste sich unmittelbar vor der an sie gerichteten Anordnung durch eine Organwalterin der Landespolizeidirektion Wien, die Zellenwand zu putzen, entkleiden und durch eine Beamtin abtasten lassen. Noch unter dem Eindruck dieser – vom Verwaltungsgericht Wien gleichzeitig mit dem angefochtenen Beschluss für rechtswidrig erkannten – Personendurchsuchung wurde sie zu einer die Pflichten von Häftlingen (s etwa die Hygienebestimmung in §12 AnhO) übersteigenden und – betrachtet man die konkreten Umstände – anscheinend gezielt demütigenden Arbeit, nämlich die Zellenwand einer Gemeinschaftszelle zu putzen, aufgefordert; die Aufforderung verdeutlichend wurde ihr ein Putzkübel in die Zelle gestellt.

Durch all diese Umstände musste der Eindruck entstehen, dass die Anordnung der Beamtin im Falle der Nichtbefolgung auch zwangsweise durchgesetzt werden würde bzw durchgesetzt werden könnte. Dass die Beamtin in der Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht Wien angegeben hat, dass sie die Häftlinge ohnehin nicht zum Putzen zwingen könne, ist bei dieser gebotenen Betrachtung und der daraus folgenden Beurteilung unmaßgeblich.

Dadurch, dass das Verwaltungsgericht Wien insoweit das Vorliegen eines Aktes unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehlsgewalt verneint hat, obwohl aus Sicht der Beschwerdeführerin auf Grund der Gesamtsituation davon ausgegangen werden musste, die Anordnung sei unmittelbar zwangsbewehrt, hat sie die Beschwerdeführerin in ihrem Recht auf ein Verfahren vor dem (verfassungs-)gesetzlichen Richter verletzt (s VfSlg 18.836/2009; VfGH 10.3.2021, E2735/2020; 6.10.2021, E3811/2020 ua).

III. Ergebnis

Die Beschwerdeführerin ist somit durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden.

Der Beschluss ist daher schon deshalb aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf §88 iVm §88a VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten.

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