JudikaturVfGH

E4021/2023 ua – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung

Entscheidung
26. Juni 2024

Spruch

I. Die Beschwerdeführer sind durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den Beschwerdeführern zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Die in Armenien geborene Erstbeschwerdeführerin stellte am 15. September 2006 einen Antrag auf internationalen Schutz. Am 23. Februar 2007 stellte sie einen solchen Antrag auch für ihren Sohn, den am 19. Dezember 2006 in Österreich geborenen Zweitbeschwerdeführer. Nach der Abweisung dieser Anträge durch Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 31. Jänner 2010 wurden den Beschwerdeführern am 6. März 2012 jeweils Aufenthaltstitel "Rot-Weiß-Rot-Karte" erteilt. Im Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses verfügten die Beschwerdeführer über Aufenthaltstitel "Daueraufenthalt EU".

2. Den Beschwerdeführern wurden am 23. November 2012 und am 15. März 2013 von der Bezirkshauptmannschaft Baden Fremdenpässe ausgestellt, in denen ihre Staatsangehörigkeit jeweils als "ungeklärt" angegeben wurde. Am 2. Dezember 2014 und am 30. August 2017 wurden ihnen vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Fremdenpässe ausgestellt, in denen vermerkt war, dass sie armenische Staatsangehörige seien.

3. Nachdem Anträge auf Ausstellung neuer Fremdenpässe vom 17. Juni 2022 mangels Verbesserung zurückgewiesen worden waren, brachten die Beschwerdeführer am 21. Dezember 2022 die verfahrenseinleitenden Anträge auf Ausstellung von Fremdenpässen für Staatenlose bzw Personen ungeklärter Staatsangehörigkeit beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ein. Mit einer Verständigung über die Ergebnisse einer Beweisaufnahme vom 3. April 2023 teilte ihnen die Behörde mit, dass nach der zu diesem Zeitpunkt bestehenden Aktenlage keine Ausstellung von Fremdenpässen gemäß §88 Abs2 Fremdenpolizeigesetz (FPG) geboten erscheine, weil weder Staatenlosigkeit noch eine ungeklärte Staatsangehörigkeit vorliege. Daraufhin erklärten die Beschwerdeführer mit Stellungnahme vom 20. April 2023, dass sie in Armenien behördlich nicht erfasst und sohin staatenlos seien und ihnen deshalb keine armenischen Pässe ausgestellt würden. Der verfahrensgegenständliche Antrag werde nunmehr auch auf §88 Abs1 Z2 FPG gestützt. Da die Erstbeschwerdeführerin einen Reisepass benötige, um beruflich reisen zu können, und der Zweitbeschwerdeführer ein Gymnasium besuche und an einer geplanten Sprachreise seiner Klasse teilnehmen wolle, falle eine Interessenabwägung zu Gunsten der Beschwerdeführer aus.

4. Mit Bescheiden vom 21. Juli 2023 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Anträge der Beschwerdeführer ab.

Begründend wird ausgeführt, dass die Beschwerdeführer armenische Staatsangehörige seien, sodass die Ausstellung von Fremdenpässen gemäß §88 Abs2 FPG nicht in Betracht komme. Soweit die Anträge auf Abs1 Z2 leg cit gestützt würden, seien sie abzuweisen gewesen, weil die Ausstellung von Fremdenpässen im Hinblick auf die Beschwerdeführer nicht im Interesse der Republik gelegen sei.

5. Die dagegen erhobene Beschwerde wurde vom Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit Erkenntnis vom 21. November 2023 als unbegründet abgewiesen.

Dagegen richtet sich die vorliegende, auf Art144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Ausreisefreiheit gemäß Art2 4. ZPEMRK sowie die Verletzung in Rechten wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes (§88 Abs1 FPG) behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.

6. Das Bundesverwaltungsgericht und das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl haben die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt. Von der Erstattung einer Gegenschrift wurde jeweils Abstand genommen.

II. Rechtslage

Die im vorliegenden Fall maßgebliche Rechtslage stellt sich wie folgt dar:

§88 Fremdenpolizeigesetz (FPG), BGBl I 100/2005 idF BGBl I 68/2013, lautet:

"11. Hauptstück

Österreichische Dokumente für Fremde

1. Abschnitt

Fremdenpässe und Konventionsreisepässe

Ausstellung von Fremdenpässen

§88. (1) Fremdenpässe können, sofern dies im Hinblick auf die Person des Betroffenen im Interesse der Republik gelegen ist, auf Antrag ausgestellt werden für

1. Staatenlose oder Personen ungeklärter Staatsangehörigkeit, die kein gültiges Reisedokument besitzen;

2. ausländische Staatsangehörige, die über ein unbefristetes Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet verfügen und nicht in der Lage sind, sich ein gültiges Reisedokument ihres Heimatstaates zu beschaffen;

3. ausländische Staatsangehörige, die nicht in der Lage sind, sich ein gültiges Reisedokument ihres Heimatstaates zu beschaffen und bei denen im Übrigen die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels 'Daueraufenthalt – EU' (§45 NAG) gegeben sind;

4. ausländische Staatsangehörige, die nicht in der Lage sind, sich das für die Auswanderung aus dem Bundesgebiet erforderliche Reisedokument ihres Heimatstaates zu beschaffen oder

5. ausländische Staatsangehörige, die seit mindestens vier Jahren ununterbrochen ihren Hauptwohnsitz im Bundesgebiet haben, sofern der zuständige Bundesminister oder die Landesregierung bestätigt, dass die Ausstellung des Fremdenpasses wegen der vom Fremden erbrachten oder zu erwartenden Leistungen im Interesse des Bundes oder des Landes liegt.

(2) Fremdenpässe können auf Antrag weiters ausgestellt werden für Staatenlose, die sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten, oder Personen ungeklärter Staatsangehörigkeit, die kein gültiges Reisedokument besitzen und sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten.

(2a) Fremdenpässe sind Fremden, denen in Österreich der Status des subsidiär Schutzberechtigten zukommt und die nicht in der Lage sind, sich ein gültiges Reisedokument ihres Heimatstaates zu beschaffen, auf Antrag auszustellen, es sei denn, dass zwingende Gründe der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung dem entgegenstehen.

(3) Die Gestaltung der Fremdenpässe wird entsprechend den für solche Reisedokumente international üblichen Anforderungen durch Verordnung des Bundesministers für Inneres bestimmt. Im Übrigen hat die Verordnung den für Reisepässe geltenden Regelungen des Paßgesetzes 1992, BGBl Nr 839, zu entsprechen.

(4) Hinsichtlich der weiteren Verfahrensbestimmungen über die Ausstellung eines Fremdenpasses, der Bestimmungen über die Verarbeitung und Löschung von personenbezogenen Daten und der weiteren Bestimmungen über den Dienstleister gelten die Bestimmungen des Paßgesetzes entsprechend."

III. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

2. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 13.836/1994, 14.650/1996, 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001, 20.374/2020; VfGH 14.3.2023, E3480/2022), oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001, 18.614/2008, 20.448/2021 und 20.478/2021).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001, 20.371/2020 und 20.405/2020).

3. Ein solcher in die Verfassungssphäre reichender Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

3.1. Das Bundesverwaltungsgericht weist die auf die Ausstellung von Fremdenpässen gerichteten Anträge der Beschwerdeführer mit der Begründung ab, dass sie Staatsangehörige Armeniens und somit weder staatenlos noch ungeklärter Staatsbürgerschaft seien, weshalb ihnen keine Fremdenpässe gemäß §88 Abs2 FPG auszustellen seien. Soweit die – bereits vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, und nicht erst wie vom Bundesverwaltungsgericht ausgeführt in der Beschwerde gestellten – Anträge der Beschwerdeführer auf §88 Abs1 Z2 FPG gestützt werden, erfolgt die Abweisung der Anträge ohne Durchführung der in Hinblick auf Art2 4. ZPEMRK gebotenen Verhältnismäßigkeitsprüfung (vgl VfGH 16.6.2023, E3489/2022 ua) lediglich auf Grund der Annahme, dass die Ausstellung der begehrten Fremdenpässe nicht im Interesse der Republik Österreich läge.

3.2. Das Fehlen der Verhältnismäßigkeitsprüfung, in der das Interesse der Beschwerdeführer an der Ausstellung von die Ausreise ermöglichenden Reisedokumenten mit dem Interesse der Republik Österreich abzuwägen gewesen wäre, verletzte die Beschwerdeführer nur dann nicht in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, wenn auch die übrigen Erteilungsvoraussetzungen nicht vorlägen. Zu den übrigen Erteilungsvoraussetzungen des §88 Abs1 Z2 FPG trifft das Bundesverwaltungsgericht jedoch weder Feststellungen noch setzt es sich in der rechtlichen Beurteilung seiner Entscheidung mit dem Vorliegen dieser Voraussetzungen auseinander. Vor diesem Hintergrund erweist sich die Behauptung des Bundesverwaltungsgerichtes, dass es unbeachtlich sei, ob die Beschwerdeführer in der Lage wären, sich gültige Reisedokumente ihres Heimatstaates zu beschaffen, als nicht nachvollziehbar.

IV. Ergebnis

1. Die Beschwerdeführer sind somit durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973) verletzt worden.

2. Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten.

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