E686/2024 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung
Spruch
I. Die Beschwerdeführerin ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.
Das Erkenntnis wird aufgehoben.
II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihrer Rechtsvertreterin die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Die minderjährige Beschwerdeführerin, eine Staatsangehörige Afghanistans, wurde am 9. November 2022 in Österreich geboren und stellte – vertreten durch ihren Vater – am 1. Dezember 2022 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 6. Dezember 2022 wurde der Antrag der Beschwerdeführerin hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) abgewiesen, ihr der Status einer subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und eine befristete Aufenthaltsberechtigung für ein Jahr erteilt (Spruchpunkt III.).
3. In der gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides gerichteten Beschwerde wurde vorgebracht, dass sich das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl nicht mit der Situation der sozialen Gruppe der Frauen und Mädchen in Afghanistan auseinandergesetzt habe. Auf Grund der aktuellen Berichtslage und der sich verschlechternden Lage in Afghanistan – insbesondere hinsichtlich Frauen und Mädchen – lägen jedenfalls Anhaltspunkte vor, die eine Ermittlungspflicht auslösten. Dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 10. August 2022 sei die besondere Gefährdungslage von Frauen und Mädchen in Afghanistan zu entnehmen: Es spreche von Ermordungen von und Hetzjagden auf Frauen, Arbeitsverboten für Frauen, gewaltsamen Auflösungen von Frauendemonstrationen, Zwangsverheiratungen, Sportverboten für Frauen und Einschränkungen im Recht auf Bildung von Frauen. Überdies entspreche die Beschwerdeführerin den Risikoprofilen des Hochkommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (United Nations High Commissioner for Refugees – UNHCR) und der Europäischen Asylagentur (European Union Agency for Asylum – EUAA) und das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hätte begründet darzulegen gehabt, warum und gestützt auf welche entgegenstehenden Berichte es zu einer anderen Einschätzung der Lage im Herkunftsstaat gekommen sei. Die Beschwerdeführerin sei auch als Kind besonders gefährdet, zumal sich aus den genannten Länderinformationen der Staatendokumentation ergebe, dass Kinder in Afghanistan besonders vulnerabel seien, wobei besonders sexueller Missbrauch von Kindern, Zwangsrekrutierung und Zwangsarbeit genannt würden. Mädchen seien ferner vom Zugang zu Schulbildung ausgeschlossen. Hinzu komme, dass die Beschwerdeführerin der Volksgruppe der Hazara angehöre und zudem – wegen unterschiedlicher Religionsbekenntnisse der Eltern – konfessionslos sei; auf Grund beider Merkmale drohe ihr in Afghanistan Diskriminierung.
4. Diese Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab.
Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht aus, dass das in der Beschwerde erstattete Vorbringen betreffend eine Verfolgungs- und Diskriminierungsgefahr der Beschwerdeführerin als Frau nicht hinreichend konkret dargelegt worden sei. Zudem sei nicht präzisiert worden, warum die erst ein Jahr alte Beschwerdeführerin konkret nur wegen ihrer Eigenschaft als Frau einer aktuellen asylrelevanten Verfolgung in Afghanistan ausgesetzt sein könnte. Auch allein auf Grund des Umstandes, dass die Beschwerdeführerin der Volksgruppe der Hazara angehöre, drohe ihr nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung. Unter Berücksichtigung der aktuellen Lage in Afghanistan könne trotz der nach wie vor bestehenden Spannungen unter den einzelnen Volksgruppen derzeit nicht davon ausgegangen werden, dass die Beschwerdeführerin ohne Hinzutreten weiterer wesentlicher individueller Umstände als Angehörige der Hazara mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aus ethnischen oder religiösen Gründen verfolgt würde.
5. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.
6. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt und ebenso wie das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl von der Erstattung einer Gegenschrift abgesehen.
II. Erwägungen
1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.
2. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 13.836/1994, 14.650/1996, 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.
Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001, 20.374/2020; VfGH 14.3.2023, E3480/2022), oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001, 18.614/2008, 20.448/2021 und 20.478/2021).
Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001, 20.371/2020 und 20.405/2020).
3. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:
3.1. Das Bundesverwaltungsgericht begründet die angefochtene Entscheidung lediglich damit, dass der Beschwerdeführerin allein auf Grund ihres Geschlechtes und ihrer Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara, ohne Hinzutreten weiterer wesentlicher individueller Umstände, in Afghanistan keine asylrelevante Verfolgung drohe.
3.2. Damit verkennt das Bundesverwaltungsgericht aber, dass die Beschwerdeführerin gerade solche individuellen Umstände darlegte, indem sie angab, dass ihr in Afghanistan nicht nur wegen ihrer Volksgruppenzugehörigkeit Verfolgung drohe, sondern auch als minderjähriges Mädchen, was sie in ihrer Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht unter Hinweis auf entsprechende Länderberichte und Einschätzungen von UNHCR und EUAA zu belegen versuchte (zur besonderen Beachtlichkeit der Länderberichte und Leitlinien des UNHCR und der EUAA s. zB VfSlg 20.358/2019, 20.372/2020).
3.3. Dem Bundesverwaltungsgericht ist daher vorzuwerfen, dass es sich mit den nicht bloß unsubstantiiert vorgebrachten Fluchtgründen der Beschwerdeführerin nicht auseinandergesetzt hat, was einem Ignorieren von Parteivorbringen gleichkommt.
4. Das Bundesverwaltungsgericht hat somit seine Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt unterlassen und Parteivorbringen ignoriert, wodurch es das angefochtene Erkenntnis mit Willkür belastet hat (vgl mwN VfGH 28.2.2023, E2502/2022).
III. Ergebnis
1. Die Beschwerdeführerin ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden.
Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– enthalten.