E1609/2023 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung
Spruch
I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.
Das Erkenntnis wird aufgehoben.
II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Der Beschwerdeführer ist syrischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Kurden an und bekennt sich zum muslimischen Glauben. Er ist am 1. Jänner 2007 geboren, stammt aus Ad Darbasiyah in der Provinz Al Hasaka und ist im Jahr 2021 aus Syrien ausgereist. Nach seiner Einreise in das Bundesgebiet stellte der Beschwerdeführer am 2. August 2021 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Mit Bescheid vom 16. März 2022 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß §3 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG 2005 ab. Es erkannte den Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß §8 Abs1 AsylG 2005 zu und erteilte dem Beschwerdeführer gemäß §8 Abs4 AsylG 2005 eine auf ein Jahr befristete Aufenthaltsberechtigung.
3. Die gegen die Abweisung des Antrages im Hinblick auf den Status des Asylberechtigten erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 5. April 2023 als unbegründet ab. Begründend führt das Bundesverwaltungsgericht hinsichtlich der vom Beschwerdeführer behaupteten Gefahr einer Zwangsrekrutierung durch kurdische Kräfte im Wesentlichen aus, dass dem – im Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung – 16 jährigen Beschwerdeführer auf Grund seines Alters gegenwärtig mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keine Einberufung oder Einziehung drohe. Auch eine sonstige asylrelevante Verfolgung liege nicht vor. Dem Beschwerdeführer sei es nicht gelungen, eine konkret und gezielt gegen seine Person gerichtete, aktuelle Verfolgung glaubhaft zu machen.
4. Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende, auf Art144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu die Abtretung an den Verwaltungsgerichtshof, beantragt wird.
5. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt und von der Erstattung einer Gegenschrift abgesehen.
II. Erwägungen
1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.
2. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 13.836/1994, 14.650/1996, 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.
Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001, 20.374/2020; VfGH 14.3.2023, E3480/2022), oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001, 18.614/2008, 20.448/2021 und 20.478/2021).
Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001, 20.371/2020 und 20.405/2020).
3. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:
3.1. Das Bundesverwaltungsgericht geht davon aus, dass dem Beschwerdeführer keine aktuelle Gefahr einer Einberufung zum "kurdischen Militärdienst" drohe, weil der Beschwerdeführer im Entscheidungszeitpunkt 16 Jahre alt sei und die gesetzliche Verpflichtung zur Ableistung des Wehrdienstes in Syrien, insbesondere auch im – von der kurdischen Autonomiebehörde kontrollierten – Herkunftsgebiet des Beschwerdeführers, erst ab dem Alter von 18 Jahren bestehe. Der Beschwerdeführer sei also noch nicht im wehrpflichtfähigen Alter und habe daher mit keiner Zwangsrekrutierung zu rechnen. Es treffe zwar zu, dass Fälle von Zwangsrekrutierungen Minderjähriger zu den kurdischen Einheiten dokumentiert seien. Den Länderberichten könne jedoch nicht entnommen werden, dass eine systematische Zwangsrekrutierung Minderjähriger erfolge. Vor diesem Hintergrund sei nicht davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mit einer Zwangsrekrutierung zu rechnen habe.
3.2. Das Bundesverwaltungsgericht setzt sich zwar mit der Gefahr einer möglichen Zwangsrekrutierung als Minderjähriger durch die kurdischen Kräfte auseinander, auf die Gefahr einer Zwangsrekrutierung, weil der Beschwerdeführer nach einer Rückkehr das wehrfähige Alter erreichen wird, geht das Bundesverwaltungsgericht mit Hinweis auf das derzeitige Alter des Beschwerdeführers nicht ein. Das Bundesverwaltungsgericht unterlässt somit ausschließlich deshalb eine Prüfung anhand der in diesem Zusammenhang maßgeblichen Kriterien.
3.3. Die asylrelevante Verfolgungsgefahr muss aktuell sein und somit im Entscheidungszeitpunkt des Bundesverwaltungsgerichtes vorliegen (vgl Filzwieser/Frank/Kloibmüller/Raschhofer , Asyl- und Fremdenrecht, 2016, §3, K61). Auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den Konventionsgründen zu befürchten habe (siehe VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).
3.4. Nach den im angefochtenen Erkenntnis abgedruckten Länderberichten ist für Männer zwischen 18 und 24 Jahren die Ableistung eines "Wehrdienstes" in der "Demokratischen Selbstverwaltung für Nord und Ostsyrien" verpflichtend. Für den im Jänner 2007 geborenen Beschwerdeführer besteht somit im Entscheidungszeitpunkt in weniger als 2 Jahren die Gefahr, durch die "Demokratische Selbstverwaltung für Nord und Ostsyrien" zwangsrekrutiert zu werden (Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Syrien, Version 8, vom 29.12.2022, S 124 f.). Insbesondere vor dem Hintergrund, dass es zu Überprüfungen von möglichen Rekruten an Checkpoints und auch zu Ausforschungen komme und das "Dekret Nr 3 vom 4. September 2021" teilweise mit Gewalt durchgesetzt werde, hätte das Bundesverwaltungsgericht nicht ohne weiteres eine fehlende Verfolgung annehmen dürfen, sondern sich im Rahmen seiner Prognoseentscheidung mit einer etwaigen asylrelevanten Verfolgung im Zusammenhang mit der Gefahr einer Zwangsrekrutierung durch die "Demokratische Selbstverwaltung für Nord und Ostsyrien" im Zuge des Erreichens der Volljährigkeit des Beschwerdeführers auseinandersetzen müssen. Der Beschwerdeführer befindet sich mit 16 Jahren in einem Alter, in dem eine mögliche Zwangsrekrutierung ab Erreichen des 18. Lebensjahres nicht allein mit den Hinweisen darauf, dass er derzeit das "wehrfähige" Alter von 18 Jahren noch nicht erreicht hat und die Gefahr der Rekrutierung als Minderjähriger nicht besteht, als reale Verfolgungsgefahr ausgeschlossen werden kann.
4. Indem das Bundesverwaltungsgericht es unterlassen hat, die vorgebrachte Gefahr einer Zwangsrekrutierung durch die "Demokratische Selbstverwaltung für Nord und Ostsyrien", wenn der Beschwerdeführer das "wehrfähige" Alter erreicht, zu prüfen, mangelt es der angefochtenen Entscheidung an einer schlüssigen Begründung, warum diesbezüglich keine asylrelevante Verfolgung vorliegt, womit sie schon aus diesem Grund mit Willkür belastet ist (vgl VfGH 20.9.2022, E1138/2022; 27.2.2023, E3307/2022; 13.6.2023 E693/2023 ua).
III. Ergebnis
1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) verletzt worden.
Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil der Antragsteller Verfahrenshilfe (auch) im Umfang des §35 Abs1 VfGG iVm §64 Abs1 Z1 lita ZPO genießt.
4. Damit erübrigt sich ein Abspruch über den Antrag, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.