E3401/2023 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung
Spruch
I. Die Beschwerdeführerin ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.
Das Erkenntnis wird aufgehoben.
II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihrer Rechtsvertreterin die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Die Beschwerdeführerin trat am 9. August 2023 um 14:25 Uhr im Polizeianhaltezentrum der Landespolizeidirektion Kärnten einen Teil ihrer Ersatzfreiheitsstrafe an. Vorgesehenes Haftende war der 20. September 2023 um 14:25 Uhr. Die Haftdauer sollte somit sechs Wochen betragen.
Am 1. September 2023 ersuchte die Beschwerdeführerin die Vollzugsbehörde um Ausführung ins Zahnambulatorium der Österreichischen Gesundheitskasse, um ihre starken Zahnschmerzen behandeln zu lassen. Nach Untersuchung durch den Polizeiamtsarzt vor Ort sah dieser eine rasche Intervention durch einen Zahnarzt dringend geboten. Er forderte deshalb eine unverzügliche Ausführung der Beschwerdeführerin zum Zahnarzt. Ihm wurde mitgeteilt, dass "an diesem Freitag" die Personalressourcen im Polizeianhaltezentrum eine Ausführung nicht möglich machten. Daraufhin wurde vom Polizeiamtsarzt – den Feststellungen des Landesverwaltungsgerichtes Kärnten zufolge – eine "kurze Haftentlassung im Sinne einer Haftunterbrechung für ein paar Stunden mit sofortiger Wiederaufnahme nach der Zahnentfernung" in die Wege geleitet; der Polizeiamtsarzt teilte dem Behördenvertreter mit, dass die Beschwerdeführerin haftunfähig sei. Daraufhin wurde die Beschwerdeführerin um 9:35 Uhr aus der Haft entlassen. Nach erfolgter Zahnbehandlung trat sie die Haft um 14:07 Uhr, also vier Stunden und 32 Minuten später, wieder an. Ihr Wiederantritt wurde als Antritt eines weiteren – noch offenen – Vollzuges ihrer Ersatzfreiheitsstrafe gewertet mit der Folge, dass die Haftdauer neu berechnet und als neues Haftende der sechs Wochen nach Wiederantritt des Vollzuges liegende 13. Oktober 2023, 14 Uhr, bestimmt wurde.
2. Gegen diese Neuberechnung der Haft – konkret gegen den über sechs Wochen dauernden Strafvollzug – wandte sich die Beschwerdeführerin mit einer Maßnahmenbeschwerde an das Landesverwaltungsgericht Kärnten. Dieses führte am 28. September 2023 eine Verhandlung durch und verkündete im Anschluss daran die Abweisung der Beschwerde. Die schriftliche Ausfertigung der Entscheidung erging am 13. Oktober 2023.
In der Begründung seiner Entscheidung ging das Landesverwaltungsgericht Kärnten zusammengefasst davon aus, dass der Strafvollzug durch den Zahnarztbesuch der Beschwerdeführerin nicht durchgängig, sondern unterbrochen gewesen sei, weshalb der weitere Vollzug der Ersatzfreiheitsstrafe von sechs Wochen nach Rückkehr der Beschwerdeführerin in das Polizeianhaltezentrum nicht gegen §54a Abs3 VStG verstoße, weil diese Bestimmung eine sechsmonatige Haftunterbrechung nur vorschreibe, wenn der Bestrafte während der letzten sechs Monate sechs Wochen "ununterbrochen" in Haft gewesen sei. Die Anhaltung der Beschwerdeführerin über das ursprünglich errechnete Haftende hinaus sei daher nicht als unangemessen anzusehen.
3. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit geltend gemacht und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird. Ausgeführt wird, dass das Landesverwaltungsgericht Kärnten §54a Abs3 VStG denkunmöglich angewendet habe, indem es das Aufsuchen des Zahnambulatoriums als eine Unterbrechung des Strafvollzuges gewertet habe und dementsprechend die Haft über das ursprüngliche Haftende des 20. September 2023 hinaus um drei weitere Wochen und einen Tag, sohin bis zum 13. Oktober 2023, für rechtmäßig befunden habe.
4. Das Landesverwaltungsgericht Kärnten hat die Verfahrensakten vorgelegt, Gegenschrift hat es keine erstattet.
II. Rechtslage
§54a Verwaltungsstrafgesetz 1991 – VStG, BGBl 52, idF BGBl I 57/2018 lautet wie folgt:
"
Aufschub und Unterbrechung des Strafvollzuges
§54a. (1) Auf Antrag des Bestraften kann aus wichtigem Grund der Strafvollzug aufgeschoben werden, insbesondere wenn
1. durch den sofortigen Vollzug der Freiheitsstrafe die Erwerbsmöglichkeit des Bestraften oder der notwendige Unterhalt der ihm gegenüber gesetzlich unterhaltsberechtigten Personen gefährdet würde oder
2. dringende Angelegenheiten, die Angehörige (§36a AVG) betreffen, zu ordnen sind.
(2) Auf Antrag des Bestraften kann aus wichtigem Grund (Abs1) auch die Unterbrechung des Vollzuges der Freiheitsstrafe bewilligt werden. Die Zeit der Unterbrechung des Strafvollzuges ist nicht in die Strafzeit einzurechnen.
(3) Der Strafvollzug ist auf Antrag oder von Amts wegen für die Dauer von mindestens sechs Monaten aufzuschieben oder zu unterbrechen, wenn der Bestrafte während der letzten sechs Monate schon ununterbrochen sechs Wochen wegen einer von einer Verwaltungsbehörde verhängten Strafe in Haft war und dem Strafvollzug nicht ausdrücklich zustimmt.
(4) Liegen die Voraussetzungen des §53b Abs2 zweiter Satz vor, darf der Aufschub oder die Unterbrechung des Strafvollzuges nicht bewilligt werden oder ist dessen bzw deren Bewilligung von Amts wegen zu widerrufen."
III. Erwägungen
1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.
2. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 13.836/1994, 14.650/1996, 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.
Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001, 20.374/2020; VfGH 14.3.2023, E3480/2022), oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001, 18.614/2008, 20.448/2021 und 20.478/2021).
Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001, 20.371/2020 und 20.405/2020).
3. Ein solcher Fehler ist dem Landesverwaltungsgericht Kärnten unterlaufen:
Es besteht die grundrechtliche Verpflichtung des Staates, die medizinische Betreuung eines Häftlings sicherzustellen (vgl VfSlg 11.687/1988 mwN, 16.638/2002; s. auch §10 Abs1 AnhO). Diese Verpflichtung beinhaltet, organisatorische Vorkehrungen zu treffen, die im Falle eines medizinischen Notfalls die medizinisch indizierte gesundheitliche Versorgung des Häftlings gewährleisten. Kann diese Versorgung nicht unmittelbar vor Ort erfolgen, muss dafür Sorge getragen werden, dass dem Häftling der Zugang zur konkret gebotenen medizinischen Versorgung ermöglicht wird, ohne dass ihm daraus – ungeachtet an welchem Ort die medizinische Versorgung tatsächlich erfolgt – nachteilige Folgen erwachsen.
Zwar konnte die Beschwerdeführerin die dringend gebotene (zahn-)medizinische Behandlung letztlich in Anspruch nehmen; das Landesverwaltungsgericht Kärnten hat aber dadurch, dass es organisatorische Defizite bei der Zurverfügungstellung der medizinischen Versorgung zu Lasten der Beschwerdeführerin gewertet hat, sein Erkenntnis durch die denkunmögliche Auslegung des §54a VStG mit Willkür belastet.
IV. Ergebnis
1. Die Beschwerdeführerin ist somit durch die angefochtene Entscheidung in ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, verletzt worden.
2. Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten.