JudikaturVfGH

E2090/2023 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung

Entscheidung
10. Juni 2024

Spruch

I. Die Beschwerdeführer sind durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz (Art2 StGG und Art7 Abs1 B VG) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Das Land Tirol ist schuldig, den Beschwerdeführern zuhanden ihrer Rechtsvertreter die mit € 3.640,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Mit Bescheid des Bürgermeisters der Marktgemeinde St. Johann in Tirol vom 25. Juni 2018 wurde der mitbeteiligten Partei die Baubewilligung für den Neubau einer Wohnanlage mit 67 Wohneinheiten, Geschäften, Büros, Praxis und Tiefgarage auf dem Grundstück Nr 78/3, KG St. Johann in Tirol, erteilt. Die Beschwerdeführer sind als Miteigentümer von Grundstücken, welche jeweils durch eine Straße vom Baugrundstück getrennt sind, Nachbarn iSd §33 Abs2 TBO 2022.

2. Die von den Beschwerdeführern gegen die Baubewilligung erhobene Beschwerde wies das Landesverwaltungsgericht Tirol mit Erkenntnis vom 2. April 2019 ab. Die Behandlung der dagegen erhobenen Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof wurde mit Beschluss vom 24. Februar 2021, E1854/2019, abgelehnt. Der daraufhin erhobenen außerordentlichen Revision wurde mit Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 10. Jänner 2023, Ra 2021/06/0091, insbesondere mit der Begründung, dass das lärmtechnische Gutachten des im landesverwaltungsgerichtlichen Verfahren beigezogenen Sachverständigen nicht vollständig sei, Folge gegeben und das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichtes Tirol wurde aufgehoben.

3. Im fortgesetzten Verfahren wies das Landesverwaltungsgericht Tirol − nach Einholung eines ergänzenden Gutachtens des lärmtechnischen Sachverständigen – die Beschwerde der Beschwerdeführer mit Erkenntnis vom 30. Mai 2023 mit der Maßgabe als unbegründet ab, dass sich die erteilte baurechtliche Genehmigung vom 25. Juni 2018 "auf die im landesverwaltungsgerichtlichen Verfahren vorgelegten Planunterlagen vom 13.04.2023 bezieht".

Begründend wird im Wesentlichen ausgeführt, dass der Flächenwidmungsplan entgegen dem Vorbringen der Beschwerdeführer gesetzmäßig kundgemacht worden sei, gegen die Widmungsänderung keine Bedenken bestünden, zumal das raumordnungsfachliche Gutachten zur Widmungsänderung positiv und nachvollziehbar sei, und die Vorgaben des Bebauungsplanes mit der geänderten Flächenwidmung vereinbar seien. Das von den Beschwerdeführern erstattete Vorbringen betreffend die Baugrubensicherung sei nicht von deren Rechten gemäß §33 Abs3 TBO 2022 umfasst. Die Einwendungen in Bezug auf den Brandschutz würden nach dem Gutachten des brandschutztechnischen Sachverständigen ins Leere gehen. In Bezug auf die Bauhöhe sei auf das Gutachten des bauchtechnischen Sachverständigen zu verweisen, nach welchem die Vorgaben des Bebauungsplanes eingehalten würden. Die Verletzung von Abstandsbestimmungen könne von den Beschwerdeführern nicht eingewendet werden, weil deren Grundstücke von dem Baugrundstück jeweils durch eine Straße getrennt seien. Das ergänzende Gutachten des lärmtechnischen Sachverständigen komme zu dem Ergebnis, dass die zu erwartenden Lärmimmissionen sowohl bei Tag als auch am Abend und in der Nacht unter dem zulässigen Widmungsgrenzwert lägen. Insgesamt komme den erhobenen Einwendungen daher keine Berechtigung zu.

4. Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende, auf Art144 B VG gestützte Beschwerde, in welcher die Verletzung im verfassungsrechtlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz sowie die Verletzung in Rechten wegen Anwendung eines gesetzwidrigen Bebauungsplanes behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt werden. Begründend wird dazu unter anderem ausgeführt, dass der Spruch des angefochtenen Erkenntnisses auf im landesverwaltungsgerichtlichen Verfahren vorgelegte Planunterlagen vom 13. April 2023 verweise. Solche Planunterlagen gebe es jedoch nicht. Zumindest seien sie den Beschwerdeführern nicht zur Kenntnis gebracht und in der mündlichen Verhandlung vom 24. Mai 2023 auch nicht erörtert worden. Damit sei nicht nachvollziehbar, welche Pläne nunmehr genehmigt seien, zumal gegenüber einem anderen Nachbarn ein weiteres abweisendes Erkenntnis ergangen sei, das sich auf die ursprünglichen Planunterlagen beziehe. Das angefochtene Erkenntnis sei daher mit Willkür belastet.

5. Die Verwaltungsbehörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt. Das Landesverwaltungsgericht Tirol hat die Gerichtsakten vorgelegt. Eine Äußerung – insbesondere zum Beschwerdevorbringen, dass nicht ersichtlich sei, auf welche Planunterlagen sich der Spruch der angefochtenen Entscheidung beziehe – wurde nicht erstattet.

II. Rechtslage

§33 Tiroler Bauordnung 2022 − TBO 2022, LGBl 44/2022, lautet auszugsweise wie folgt:

"§33

Parteien

(1) Parteien im Bauverfahren sind der Bauwerber, die Nachbarn und der Straßenverwalter.

(2) Nachbarn sind die Eigentümer der Grundstücke,

a) die unmittelbar an den Bauplatz angrenzen oder deren Grenzen zumindest in einem Punkt innerhalb eines horizontalen Abstandes von 15 m zu einem Punkt der Bauplatzgrenze liegen und

b) deren Grenzen zumindest in einem Punkt innerhalb eines horizontalen Abstandes von 50 m zu einem Punkt der baulichen Anlage oder jenes Teiles der baulichen Anlage, die (der) Gegenstand des Bauvorhabens ist, liegen.

Nachbarn sind weiters jene Personen, denen an einem solchen Grundstück ein Baurecht zukommt.

(3) Nachbarn, deren Grundstücke unmittelbar an den Bauplatz angrenzen oder deren Grenzen zumindest in einem Punkt innerhalb eines horizontalen Abstandes von 5 m zu einem Punkt der Bauplatzgrenze liegen, sind berechtigt, die Nichteinhaltung folgender bau- und raumordnungsrechtlicher Vorschriften geltend zu machen, soweit diese auch ihrem Schutz dienen:

a) der Festlegungen des Flächenwidmungsplanes, soweit damit ein Immissionsschutz verbunden ist,

b) der Bestimmungen über den Brandschutz,

c) der Festlegungen des Bebauungsplanes hinsichtlich der Baufluchtlinien, der Baugrenzlinien, der Bauweise und der Bauhöhe,

d) der Festlegungen des örtlichen Raumordnungskonzeptes nach §31b Abs2 des Tiroler Raumordnungsgesetzes 2022 hinsichtlich der Mindestabstände baulicher Anlagen von den Straßen und der Bauhöhen,

e) der Abstandsbestimmungen des §6,

f) das Fehlen eines Bebauungsplanes bei Grundstücken, für die nach den raumordnungsrechtlichen Vorschriften ein Bebauungsplan zu erlassen ist, im Fall der Festlegung einer besonderen Bauweise auch das Fehlen eines ergänzenden Bebauungsplanes.

[(4)−(9) …]"

III. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet:

1.1. Eine Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz kann nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (zB VfSlg 10.413/1985, 14.842/1997, 15.326/1998, 16.488/2002 und 20.299/2018) nur vorliegen, wenn die angefochtene Entscheidung auf einer dem Gleichheitsgebot widersprechenden Rechtsgrundlage beruht, wenn das Verwaltungsgericht der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat.

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 8808/1980 mwN, 14.848/1997, 15.241/1998 mwN, 16.287/2001, 16.640/2002 und 19.518/2011).

1.2. Ein solcher Fehler ist dem Landesverwaltungsgericht Tirol unterlaufen:

Das Landesverwaltungsgericht Tirol weist die Beschwerde der Beschwerdeführer mit der Maßgabe ab, dass sich die erteilte baurechtliche Genehmigung "auf die im landesverwaltungsgerichtlichen Verfahren vorgelegten Planunterlagen vom 13.04.2023 bezieht". Die genannten Planunterlagen finden sich jedoch weder in den Gerichts- noch in den Behördenakten und ihr Inhalt kann auch der Begründung der angefochtenen Entscheidung nicht entnommen werden; schließlich haben sich die belangte Behörde und das Landesverwaltungsgericht Tirol auch im Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof nicht dazu geäußert. Es ist daher nicht nachvollziehbar, auf welches konkrete Bauvorhaben sich die vom Landesverwaltungsgericht Tirol erteilte Bewilligung bezieht. Die angefochtene Entscheidung ist damit einer nachprüfenden Kontrolle durch den Verfassungsgerichtshof nicht zugänglich und insofern mit Willkür belastet (VfSlg 20.267/2018 ; VfGH 11.6.2019, E 183/2019 ; 28.11.2019, E 3541/2019 ; 24.2.2021, E2470/2020).

IV. Ergebnis

1. Die Beschwerdeführer sind somit durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden.

2. Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten sind die Umsatzsteuer in Höhe von € 606,67 sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten.

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