JudikaturVfGH

E2592/2023 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung

Entscheidung
26. Februar 2024

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer ist ein im Jahr 2002 geborener syrischer Staatsangehöriger aus dem Gouvernement Al Hasaka, der der Volksgruppe der Kurden angehört und sich zum sunnitischen Islam bekennt. Er verließ Syrien 2013 und hielt sich zunächst rund acht Jahre im Irak auf. Am 4. November 2021 stellte der Beschwerdeführer einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich und begründete diesen damit, in Syrien eine Einberufung zum Militärdienst zu befürchten. Er habe sein ganzes Leben keine Waffe getragen und möchte dies auch künftig nicht tun.

2. Mit Bescheid vom 26. April 2022 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diesen Antrag hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.), erkannte dem Beschwerdeführer den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte diesem eine befristete Aufenthaltsberechtigung für die Dauer eines Jahres (Spruchpunkt III.).

3. Eine gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht – ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung – mit Erkenntnis vom 19. Juli 2023 als unbegründet ab.

Begründend führt das Bundesverwaltungsgericht insbesondere aus, es sei unstrittig, dass sich der Beschwerdeführer im wehrpflichtigen Alter befinde und seinen Wehrdienst nicht abgeleistet habe. Dennoch sei er nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit von einer zwangsweisen Einberufung durch das syrische Regime bedroht: Das syrische Militärdienstgesetz erlaube es wehrpflichtigen Männern mit Wohnsitz im Ausland, eine Gebühr zu entrichten, um von der Wehrpflicht befreit zu werden. Wer zwei, drei, vier oder mehr Jahre im Ausland wohnhaft sei, müsse "USD 9.000,–, 8.000,– bzw 7.000,–" bezahlen, um befreit zu werden. Für jedes Jahr, in dem ein Wehrpflichtiger weder eine Befreiungsgebühr bezahle noch den Wehrdienst aufschiebe oder sich zu diesem melde, fielen zusätzliche Gebühren an. Der Beschwerdeführer, der seit 2013 außerhalb Syriens lebe, habe die Möglichkeit der Entrichtung einer Befreiungsgebühr in seiner Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl nicht in Abrede gestellt. Wenngleich die Länderberichte ausführten, dass die Handhabung von Befreiungsgründen durch die syrischen Behörden in der Praxis vielfach von Willkür geprägt sei und auch Fälle bekannt seien, in denen es trotz Leistung einer Befreiungsgebühr zur Einberufung gekommen sei, sei nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu prognostizieren, dass dies auch im Fall des Beschwerdeführers zutreffen würde.

Hinzukomme, dass der Beschwerdeführer aus der Stadt Qamischli stamme, die sich im überwiegenden Einflussbereich der kurdischen Autonomiebehörden befinde. Aktuellen Karten und Länderberichten sei zu entnehmen, dass das syrische Regime weiterhin nur drei kleinere Teile der Stadt, etwa um den Flughafen Qamischli, kontrolliere, während das übrige Stadtgebiet unter Kontrolle der kurdisch geführten SDF stehe. Außerhalb der Enklaven – die der Beschwerdeführer nicht betreten müsste – finde keine Rekrutierung und Strafverfolgung statt. Einer ACCORD Anfragebeantwortung vom 14. Oktober 2022 sei zu entnehmen, dass eine Wehrpflicht in Gebieten, die nicht unter der Kontrolle des Regimes stünden, de facto nicht umsetzbar sei, da der Zugriff auf die Administration und die davon betroffenen Personen fehle. Vor diesem Hintergrund sei trotz der für den Beschwerdeführer geltenden Wehrpflicht nicht davon auszugehen, dass er in seinem Herkunftsgebiet mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr ausgesetzt wäre, zwangsweise von der syrischen Armee eingezogen zu werden.

Vor dem Hintergrund des Gesagten komme der Glaubwürdigkeit des erstmals in der Beschwerde erstatteten Vorbringens, demzufolge einem Onkel des Beschwerdeführers im Zuge einer Reise nach Damaskus ein Einberufungsbefehl für diesen ausgehändigt worden sei, im vorliegenden Fall keine maßgebliche Relevanz zu. Nichtsdestotrotz sei festzuhalten, dass dieses Vorbringen in keiner Weise substantiiert bzw durch Vorlage des erhaltenen Schriftstückes untermauert worden sei. Zudem sei kein Grund ersichtlich, weshalb der Beschwerdeführer den Erhalt eines Einberufungsbefehles nicht bereits im Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zur Sprache gebracht hätte.

4. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) und auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung (Art47 Abs2 GRC) behauptet und unter anderem die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.

5. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hat die Verwaltungsakten, das Bundesverwaltungsgericht die Gerichtsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift wurde aber jeweils abgesehen.

II. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

2. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 13.836/1994, 14.650/1996, 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001, 20.374/2020; VfGH 14.3.2023, E3480/2022), oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001, 18.614/2008, 20.448/2021 und 20.478/2021).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001, 20.371/2020 und 20.405/2020).

3. Derartige, in die Verfassungssphäre reichende Fehler sind dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

3.1. Das Bundesverwaltungsgericht stellt fest, dass der Beschwerdeführer 21 Jahre alt ist, aus der Stadt Qamischli im Gouvernement Al Hasaka stammt und seinen verpflichtenden Wehrdienst bei der syrischen Armee noch nicht abgeleistet hat. Dass er dennoch nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit von einer zwangsweisen Einberufung durch das syrische Regime bedroht sei, wird im angefochtenen Erkenntnis zum einen damit begründet, dass sich die Herkunftsregion des Beschwerdeführers, Qamischli, überwiegend im Einflussbereich der kurdischen Autonomiebehörden befinde. Das syrische Regime kontrolliere nur drei kleinere Teile der Stadt. Außerhalb dieser Enklaven, die der Beschwerdeführer nicht betreten müsse, finde keine Rekrutierung oder Strafverfolgung statt, sodass eine zwangsweise Einziehung im Herkunftsgebiet nicht maßgeblich wahrscheinlich sei.

3.2. Das Bundesverwaltungsgericht stellt jedoch weder fest, aus welchem Teil von Qamischli der Beschwerdeführer stammt, noch welche "drei kleineren Teile" der Stadt die syrische Regierung kontrolliere. Es hält lediglich exemplarisch fest, dass diese "etwa das Gebiet um den Flughafen" umfassen würden. Als Herkunftsregion des Beschwerdeführers wird im angefochtenen Erkenntnis ohne nähere Differenzierung auf die (gesamte) Stadt Qamischli abgestellt. Bezogen auf diese Herkunftsregion lässt sich die Gefahr einer zwangsweisen Rekrutierung durch die syrische Armee nicht pauschal verneinen:

Das Bundesverwaltungsgericht legt seinen Feststellungen das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation für Syrien vom 24. Jänner 2022 (Version 5) zugrunde, obwohl im Entscheidungszeitpunkt bereits das Länderinformationsblatt vom 17. Juli 2023 (Version 9) zur Verfügung stand. Der im Entscheidungszeitpunkt aktuellen Version des Länderinformationsblattes ist (so wie bereits früheren seit Jänner 2022 erfolgten Aktualisierungen des Länderinformationsblattes) unter anderem zu entnehmen, dass die syrische Regierung über mehrere kleine Gebiete im kurdischen Selbstverwaltungsgebiet verfüge. In Qamischli und Al Hasaka würden diese die Bezeichnung "Sicherheitsquadrate" tragen. Dort befänden sich verschiedene staatliche Behörden, darunter auch solche mit Zuständigkeit für die Rekrutierung. Während die syrischen Behörden im Allgemeinen keine Rekrutierungen im kurdischen Selbstverwaltungsgebiet durchführen könnten, gingen die Aussagen über das Rekrutierungsverhalten in den Regimeenklaven bzw "Sicherheitsquadraten" auseinander – auch bezüglich etwaiger Unterschiede zwischen dort wohnenden Wehrpflichtigen und Personen von außerhalb der Enklaven. Ein befragter Rechtsexperte der österreichischen Botschaft Damaskus berichte, dass die syrische Regierung in den Gebieten unter Kontrolle der Selbstverwaltung dort rekrutieren könne, wo sie im "Sicherheitsquadrat" im Zentrum der Gouvernements präsent ist, wie etwa in Qamischli oder in Deir ez Zor (Länderinformationsblatt 17. Juli 2023, S 116 f.).

3.3. Vor dem Hintergrund dieser Länderberichte wäre das Bundesverwaltungsgericht gehalten gewesen, sich näher mit der Einberufungs- und Rekrutierungssituation in der – teils von der syrischen Regierung kontrollierten – Herkunftsregion des Beschwerdeführers auseinanderzusetzen, um nachvollziehbar zum Ergebnis zu kommen, dass ihm als syrischem Staatsangehörigen im wehrdienstfähigen Alter bei einer Rückkehr nach Qamischli keine aktuelle Gefahr einer zwangsweisen Rekrutierung durch die syrische Armee drohe (vgl VfGH 29.6.2023, E3450/2022). Insbesondere wäre darzulegen gewesen, auf Grund welcher Feststellungen das Bundesverwaltungsgericht davon ausgeht, dass der Beschwerdeführer die Regierungsenklaven nicht betreten müsste.

3.4. Zum anderen argumentiert das Bundesverwaltungsgericht, dass es dem Beschwerdeführer möglich wäre, sich durch Zahlung einer "Befreiungsgebühr" in Höhe von etwa 7.000 bis 10.000 US Dollar von der Wehrpflicht zu befreien.

3.5. Ausführungen dazu, ob es dem Beschwerdeführer im Zeitpunkt der Entscheidung tatsächlich – auch finanziell – möglich war, sich vom Wehrdienst der syrischen Armee "freizukaufen", finden sich im angefochtenen Erkenntnis jedoch nicht. Das Bundesverwaltungsgericht lässt außer Acht, dass der Beschwerdeführer dieser Annahme in seiner Beschwerde entgegentrat, indem er unter anderem ausführte, mangels relevanter Einkünfte nicht in der Lage zu sein, für die Befreiungsgebühr aufzukommen (vgl VfGH 13.6.2023, E588/2023). Allein der Umstand, dass der Beschwerdeführer die Möglichkeit der Entrichtung einer Befreiungsgebühr vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl "nicht in Abrede" gestellt habe – er antwortete auf die Frage, warum er sich nicht vom Wehrdienst freigekauft habe, dass diese Möglichkeit für die reguläre syrische Armee, nicht aber für die kurdische Armee bestehe – entbindet das Bundesverwaltungsgericht nicht davon, seine Annahmen nachvollziehbar zu begründen.

3.6. Damit hat das Bundesverwaltungsgericht seine Ermittlungstätigkeit in entscheidenden Punkten unterlassen, wodurch es das angefochtene Erkenntnis mit Willkür belastet hat.

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander gemäß ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes BGBl 390/1973 verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher aufzuheben.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten.

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