E2068/2023 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung
Spruch
I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden unter-einander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden. Das Erkenntnis wird aufgehoben.
II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Der Beschwerdeführer ist ein am 1. März 1989 geborener syrischer Staatsangehöriger, der der Volksgruppe der Araber und der Konfession der Sunniten angehört. Er lebte bis zu seiner Ausreise im Gouvernement Aleppo und stellte am 10. November 2021 im Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz. Bei der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl brachte er vor, dass er einen Einberufungsbefehl zum Reservedienst von der syrischen Armee erhalten habe.
2. Mit Bescheid vom 10. Mai 2022 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm jedoch den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung für ein Jahr (Spruchpunkt III.).
3. In seiner ausschließlich gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides erhobenen Beschwerde brachte der Beschwerdeführer unter anderem vor, dass er zum Reservedienst einberufen worden sei. Er befürchte bei einer Rückkehr nach Syrien, dass er zum Kämpfen aufgefordert bzw gezwungen werde. Der Beschwerdeführer lehne es ab, für jedwede Armee zu kämpfen und am Krieg teilzunehmen. Zudem befürchte er eine Verfolgung durch das syrische Regime auf Grund seiner oppositionellen Gesinnung, die sich in seiner Weigerung, wieder den Militärdienst anzutreten, manifestiere.
4. Die gegen Spruchpunkt I. erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht – nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung – mit Erkenntnis vom 7. Juni 2023 als unbegründet ab, da der Beschwerdeführer keine drohende Verfolgung, die in kausalem Zusammenhang mit einem oder mehreren Konventionsgründen im Sinn des Art1 Abschnitt A Z2 GFK stehe, glaubhaft habe machen können. Der Beschwerdeführer habe Syrien auf Grund des Krieges verlassen. Eine Verweigerung des Wehrdienstes des Beschwerdeführers habe nicht festgestellt werden können.
Im Rahmen der Beweiswürdigung führt das Bundesverwaltungsgericht dazu im Wesentlichen aus, dass der Beschwerdeführer in der Verhandlung bei der Schilderung des Fluchtgrundes keinen überzeugenden Eindruck gemacht habe, weil die Antworten auf konkrete Nachfragen und Zwischenfragen widersprüchlich und inhaltlich dürftig ausgefallen seien und teilweise unsicher und ausweichend vorgetragen worden seien. Der Beschwerdeführer habe von 2008 bis 2010 den Wehrdienst als "einfacher Soldat" abgeleistet. Die Aussagen zu seiner neuerlichen Einberufung seien schon im Verwaltungsverfahren widersprüchlich und inhaltlich dürftig ausgefallen. So habe er beispielweise nicht einmal gewusst, wie viele Soldaten für die Abfeuerung einer "Maljutka Rakete" nötig seien und wie damit geschossen werde; er habe auch noch nie eine solche Rakete abgefeuert. Der Beschwerdeführer habe im Verwaltungsgerichtsverfahren einen Strafregisterauszug vom 3. Oktober 2022 vorgelegt, wonach er am 13. Juli 2012 einberufen worden sei. Die kriminaltechnische Untersuchung dieses Strafregisterauszuges durch das Bundeskriminalamt habe ergeben, dass es sich dabei um eine Totalfälschung handle. Hinsichtlich des Datums der Einberufung habe es ebenfalls erhebliche Divergenzen gegeben. Zuletzt habe der Beschwerdeführer eine Abfrage von der Homepage des syrischen Verteidigungsministeriums vorgelegt, wonach er als Reservist gesucht werde. Ein Zusammenhang zwischen den übermittelten Ausdrucken und dem konkreten Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers könne jedoch nicht festgestellt werden.
5. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des Erkenntnisses, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, beantragt wird. Begründend wird unter anderem ausgeführt, das Bundesverwaltungsgericht habe sich nicht mit dem als Beweismittel vorgelegten Auszug der Homepage der Internetseite "mod.gov.sy" auseinandergesetzt und lediglich festgestellt, dass kein direkter Zusammenhang mit dem konkreten Fluchtvorbringen festgestellt werden könne, obwohl dies klar ersichtlich in direktem Zusammenhang mit dem Fluchtgrund des Beschwerdeführers stehe. Das Bundesverwaltungsgericht habe nicht nachvollziehbar erklärt, weshalb dem Beschwerdeführer keine aktuelle Gefahr einer Einberufung zum Militärdienst drohe.
6. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift aber – wie auch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl – abgesehen.
II. Erwägungen
1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.
2. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 13.836/1994, 14.650/1996, 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.
Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001, 20.374/2020; VfGH 14.3.2023, E3480/2022), oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001, 18.614/2008, 20.448/2021 und 20.478/2021).
Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001, 20.371/2020 und 20.405/2020).
3. Ein derartiger, in die Verfassungssphäre reichender Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:
3.1. Aus dem vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen und zum Entscheidungszeitpunkt aktuellen Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Version 8, vom 29. Dezember 2022 geht zum Thema "Wehr- und Reservedienst und Rekrutierungen" der syrischen Streitkräfte hervor, dass eine Einberufung zum Reservedienst bis zum Alter von 42 Jahren möglich sei. Der Beschwerdeführer bringt in seiner Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht vor, dass er bereits zum Reservedienst einberufen worden sei. Er wolle diesen jedoch nicht ableisten. Auf Grund der ihm dadurch unterstellten oppositionellen Gesinnung habe er in Syrien mit Verfolgungshandlungen zu rechnen. Vor diesem Hintergrund sind zunächst die bloß allgemein gehaltenen Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichtes nicht nachvollziehbar, wonach der Beschwerdeführer einen Fluchtgrund im Sinne der GFK nicht glaubhaft machen habe können bzw dass er bei der Schilderung des Fluchtgrundes keinen überzeugenden Eindruck gemacht habe.
3.2. Das Bundesverwaltungsgericht bezieht sich auf das Vorliegen einer kriminaltechnischen Untersuchung durch das Bundeskriminalamt, in welcher ein vom Beschwerdeführer vorgelegter Strafregisterauszug als "Totalfälschung" qualifiziert wurde und verweist darauf, dass sich aus diesem Schreiben keine Einberufung des Beschwerdeführers ableiten lasse. Darüber hinaus hat der Beschwerdeführer aber auch eine Abfrage von der Homepage des syrischen Verteidigungsministeriums vorgelegt, aus der hervorgeht, dass er als Reservist gesucht wird.
3.3. Aus einer – vom Bundesverwaltungsgericht nicht herangezogenen – Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zur Webseite des syrischen Verteidigungsministeriums zur Einberufung vom 18. Mai 2021 wird dazu vom Vertrauensanwalt der Österreichischen Botschaft Damaskus ausgeführt, dass die Internetseite "mod.gov.sy" die offizielle Webseite des Verteidigungsministeriums in Syrien ist. Der Vertrauensanwalt bestätigt, dass wenn anhand der eingegebenen Daten eine "Einberufung für den Reservedienst" aufscheint, die Person tatsächlich für den Dienst einberufen wurde. Eine Auflistung auf dieser Webseite ist nach den Ausführungen des Vertrauensanwaltes mit einer Einberufung zum Wehr- oder Reservedienst gleichzusetzen.
3.4. Das Bundesverwaltungsgericht führt zum vorgelegten Nachweis – ohne nähere Begründung – aus, dass "[e]in Zusammenhang zwischen den übermittelten Ausdrucken und dem konkreten Fluchtvorbringen der beschwerdeführenden Partei […] nicht festgestellt werden" könne. Vor dem Hintergrund der Ausführungen in der Anfragebeantwortung vom 18. Mai 2021 ist jedoch nicht erkennbar, weshalb das Bundesverwaltungsgericht – trotz Vorliegens dieses Nachweises – vom Nichtvorliegen einer Einberufung des Beschwerdeführers ausgeht.
3.5. Da der Beschwerdeführer einen Nachweis über die bereits erfolgte Einberufung vorgelegt hat, erweisen sich aber auch die weiteren Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichtes als nicht nachvollziehbar, in denen wohl auf das Nichtvorliegen einer Spezialausbildung abgestellt wird. So wird ausgeführt, dass die Aussagen des Beschwerdeführers zu seiner neuerlichen Einberufung "schon im Verwaltungsverfahren widersprüchlich und inhaltlich dürftig ausgefallen" seien. Er habe "beispielweise nicht einmal [gewusst], wie viele Soldaten für die Abfeuerung einer Maljutka Rakete nötig seien und wie damit geschossen werde; er habe auch noch nie eine solche Rakete abgefeuert". Gleiches gilt für die Feststellung, wonach der Beschwerdeführer seinen Wehrdienst von 2008 bis 2010 als "einfacher Soldat" abgeleistet habe.
3.6. Die angefochtene Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes entspricht sohin nicht den rechtsstaatlichen Anforderungen an die Begründung gerichtlicher Entscheidungen; sie ist einer nachprüfenden Kontrolle durch den Verfassungsgerichtshof nicht zugänglich und daher mit Willkür belastet (VfSlg 20.267/2018; 11.6.2019, E183/2019; 28.11.2019, E3541/2019; 24.2.2021, E2470/2020).
III. Ergebnis
1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) verletzt worden.
Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten.