JudikaturVfGH

E2621/2022 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung

Entscheidung
27. November 2023

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden. Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger Afghanistans. Er wurde im August 2021 aus Afghanistan im Zuge eines ungarischen Evakuierungsfluges von Kabul nach Ungarn ausgeflogen, wo er sich rund zwei Monate in einem Camp aufhielt. Der Beschwerdeführer stellte in Ungarn keinen Antrag auf internationalen Schutz. Er war den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichtes zufolge im Besitz eines Aufenthaltstitels für sonstige Zwecke in Ungarn, zuletzt automatisch verlängert bis 30. Juni 2022. Nach seiner Einreise stellte der Beschwerdeführer am 14. Oktober 2021 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Mit Schreiben vom 3. Jänner 2022 richtete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ein auf Art12 Abs1 der Verordnung (EU) Nr 604/2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (im Folgenden: Dublin III VO), ABl. 2013 L 180, 31, gestütztes Aufnahmeersuchen an Ungarn. Ungarn stimmte dem Ersuchen mit Schreiben vom 13. Jänner 2022 zu.

3. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies in der Folge den Antrag auf internationalen Schutz mit Bescheid vom 29. März 2022 gemäß §5 Abs1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) als unzulässig zurück und sprach aus, dass Ungarn gemäß Art12 Abs1 Dublin III VO zur Prüfung des Antrages zuständig sei. Gleichzeitig wurde die Außerlandesbringung des Beschwerdeführers gemäß §61 Abs1 Z1 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) angeordnet und festgestellt, dass gemäß §61 Abs2 leg cit die Abschiebung des Beschwerdeführers zulässig sei.

4. Dagegen erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. In der Beschwerde wird unter anderem ausgeführt, dass im Fall von Ungarn der Verdacht systemischer Schwachstellen naheliege, zumal das ungarische Fremden- und Asylwesen wiederholt verschärft worden sei, weshalb ernsthafte Zweifel bestünden, ob eine menschenwürdige Versorgung überhaupt gewährleistet sei. Auf Grund der bestehenden Berichtslage lägen klare Anhaltspunkte dafür vor, dass der Beschwerdeführer im Fall seiner Überstellung nach Ungarn ohne sorgfältige Prüfung seines Schutzersuchens von Ungarn nach Afghanistan abgeschoben würde; das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl habe entsprechende Ermittlungen zu einer möglichen Kettenabschiebung nach Afghanistan unterlassen. Auch aus der Tatsache, dass sich Ungarn zur Rückübernahme des Beschwerdeführers bereit erklärt habe, könne nicht der Schluss abgeleitet werden, dass Ungarn seine sich aus der Dublin III VO und weiteren Rechtsakten der Europäischen Union ergebenden Verpflichtungen dem Beschwerdeführer gegenüber erfüllen werde. Diese Schlussfolgerung sei offenkundig ohne Berücksichtigung der tatsächlichen Lage in Ungarn getroffen worden.

5. Das Bundesverwaltungsgericht wies die Beschwerde mit Erkenntnis vom 19. August 2022 als unbegründet ab. Begründend wird im Wesentlichen ausgeführt, dass Ungarn der Aufnahme des Beschwerdeführers ausdrücklich mit dem Hinweis zugestimmt habe, dass dessen Asylantrag dort geprüft werde, weshalb davon auszugehen sei, dass das "Botschaftsverfahren" auf den Beschwerdeführer nicht anzuwenden sei. Der Beschwerdeführer sei daher grundsätzlich als Erstantragsteller anzusehen, der nach den Länderfeststellungen während seines Asylverfahrens Zugang zu Unterbringung und medizinischer Versorgung habe. Hinzu komme, dass Ungarn den Beschwerdeführer per Evakuierungsflug aus Afghanistan ins Land geholt habe. Es könne daher nicht angenommen bzw Ungarn unterstellt werden, dass der Beschwerdeführer nach seiner Dublin-Überstellung sich selbst überlassen und unversorgt bliebe. Die bisherige Vorgehensweise der ungarischen Behörden – einschließlich der ausdrücklichen Bereitschaft zur Übernahme des Beschwerdeführers und Prüfung des Asylantrages – lasse den Schluss zu, dass Ungarn seinen Verpflichtungen dem Beschwerdeführer gegenüber jedenfalls nachkommen werde.

6. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird. Dies begründet der Beschwerdeführer unter anderem damit, dass das Bundesverwaltungsgericht in entscheidenden Punkten die notwendige Ermittlungstätigkeit unterlassen habe.

7. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der es dem Beschwerdevorbringen unter Hinweis darauf, dass Ungarn der Aufnahme des Beschwerdeführers ausdrücklich mit dem Hinweis zugestimmt habe, dessen Asylantrag dort zu prüfen, entgegentritt.

II. Rechtslage

1. §5 AsylG 2005, BGBl I 100/2005, idF BGBl I 87/2012 lautet:

"Zuständigkeit eines anderen Staates

§5. (1) Ein nicht gemäß §§4 oder 4a erledigter Antrag auf internationalen Schutz ist als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder auf Grund der Dublin - Verordnung zur Prüfung des Asylantrages oder des Antrages auf internationalen Schutz zuständig ist. Mit der Zurückweisungsentscheidung ist auch festzustellen, welcher Staat zuständig ist. Eine Zurückweisung des Antrages hat zu unterbleiben, wenn im Rahmen einer Prüfung des §9 Abs2 BFA VG festgestellt wird, dass eine mit der Zurückweisung verbundene Anordnung zur Außerlandesbringung zu einer Verletzung von Art8 EMRK führen würde.

(2) Gemäß Abs1 ist auch vorzugehen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder auf Grund der Dublin - Verordnung dafür zuständig ist zu prüfen, welcher Staat zur Prüfung des Asylantrages oder des Antrages auf internationalen Schutz zuständig ist.

(3) Sofern nicht besondere Gründe, die in der Person des Asylwerbers gelegen sind, glaubhaft gemacht werden oder beim Bundesamt oder beim Bundesverwaltungsgericht offenkundig sind, die für die reale Gefahr des fehlenden Schutzes vor Verfolgung sprechen, ist davon auszugehen, dass der Asylwerber in einem Staat nach Abs1 Schutz vor Verfolgung findet."

2. §61 FPG, BGBl I 100/2005, idF BGBl I 106/2022 lautet auszugsweise:

"Anordnung zur Außerlandesbringung

§61. (1) Das Bundesamt hat gegen einen Drittstaatsangehörigen eine Außerlandesbringung anzuordnen, wenn

1. dessen Antrag auf internationalen Schutz gemäß §§4a oder 5 AsylG 2005 zurückgewiesen wird oder nach jeder weiteren, einer zurückweisenden Entscheidung gemäß §§4a oder 5 AsylG 2005 folgenden, zurückweisenden Entscheidung gemäß §68 Abs1 AVG,

2. er in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat und dieser Mitgliedstaat vertraglich oder auf Grund der Dublin-Verordnung zur Prüfung dieses Antrages zuständig ist oder

3. ihm in einem anderen Mitgliedstaat der Status des Asylberechtigten oder des subsidiär Schutzberechtigten zukommt, dieser Mitgliedstaat aufgrund des Unionsrechts, einer zwischenstaatlichen Vereinbarung oder internationaler Gepflogenheiten zur Rückübernahme verpflichtet ist und die Voraussetzungen des §52 Abs1 Z1 oder Abs4 Z1 oder 4 erfüllt sind. §52 Abs4 vorletzter und letzter Satz und Abs6 gelten sinngemäß mit der Maßgabe, dass an die Stelle der Rückkehrentscheidung die Anordnung zur Außerlandesbringung tritt.

Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.

(2) Eine Anordnung zur Außerlandesbringung hat zur Folge, dass eine Abschiebung des Drittstaatsangehörigen in den Zielstaat zulässig ist. Die Anordnung bleibt binnen 18 Monaten ab Ausreise des Drittstaatsangehörigen aufrecht.

(3) – (4) […]"

3. Art3 Dublin III-VO, ABl. 2013 L 180, 31, lautet:

"Artikel 3

Verfahren zur Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz

(1) Die Mitgliedstaaten prüfen jeden Antrag auf internationalen Schutz, den ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen stellt. Der Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird.

(2) Lässt sich anhand der Kriterien dieser Verordnung der zuständige Mitgliedstaat nicht bestimmen, so ist der erste Mitgliedstaat, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, für dessen Prüfung zuständig.

Erweist es sich als unmöglich, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der EU–Grundrechtecharta mit sich bringen, so setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat, die Prüfung der in Kapitel III vorgesehenen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann.

Kann keine Überstellung gemäß diesem Absatz an einen aufgrund der Kriterien des Kapitels III bestimmten Mitgliedstaat oder an den ersten Mitgliedstaat, in dem der Antrag gestellt wurde, vorgenommen werden, so wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der zuständige Mitgliedstaat.

(3) Jeder Mitgliedstaat behält das Recht, einen Antragsteller nach Maßgabe der Bestimmungen und Schutzgarantien der Richtlinie 32/2013/EU in einen sicheren Drittstaat zurück- oder auszuweisen."

III. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

2. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 13.836/1994, 14.650/1996, 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001, 20.374/2020; VfGH 14.3.2023, E3480/2022), oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001, 18.614/2008, 20.448/2021 und 20.478/2021).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001, 20.371/2020 und 20.405/2020).

3. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

3.1. Gemäß §5 Abs1 AsylG 2005 ist ein nicht nach §4 AsylG 2005 (Schutz im sicheren Drittstaat) oder nach §4a AsylG 2005 (Schutz im EWR Staat oder in der Schweiz) erledigter Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder auf Grund der Dublin III VO zur Prüfung des Asylantrages oder Antrages auf internationalen Schutz zuständig ist.

Eine Zurückweisung hat aber gemäß Art3 Abs2 UAbs2 Dublin III VO dann zu unterbleiben, wenn sich eine Überstellung an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat als unmöglich erweist, weil wesentliche Gründe für die Annahme vorliegen, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung iSd Art4 GRC mit sich bringen (vgl etwa VfGH 20.9.2022, E622/2022, mwN).

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union hat eine Überstellung an den zuständigen Mitgliedstaat iSd Dublin III VO dann zu unterbleiben, wenn dem die Zuständigkeit prüfenden Gericht (bzw der Behörde) "nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylwerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne dieser Bestimmung ausgesetzt zu werden" (vgl EuGH 19.3.2019, C 163/17, Jawo , Rz 85, mwN).

Das mit der Rechtssache befasste Gericht – wie zuvor auch die befasste Behörde – trifft demnach die Verpflichtung, "auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen", die einer Zurückweisung des Antrages auf internationalen Schutz entgegenstehen (EuGH, Jawo , Rz 90, mwN).

Diese "Schwachstellen" sind nur dann im Hinblick auf Art4 GRC bzw Art3 EMRK relevant, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen (EuGH, Jawo , Rz 91, mit Verweis auf EGMR 21.1.2011 [GK], 30.696/09, M.S.S. ), indem etwa "die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre" (EuGH, Jawo , Rz 92).

3.2. Zur Beurteilung der Frage, wann das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in einem Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, verweist der Gerichtshof der Europäischen Union auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 21. Jänner 2011 (GK), 30.696/09, M.S.S. (EuGH, Jawo , Rz 91). In dieser Entscheidung führt der Gerichtshof ua Folgendes aus:

"When [States] apply the Dublin Regulation [they] must make sure that the intermediary country’s asylum procedure affords sufficient guarantees to avoid an asylum-seeker being removed, directly or indirectly, to his country of origin without any evaluation of the risks he faces from the standpoint of Article 3 of the Convention." (EGMR, M.S.S. , Z342 mit Verweis auf EGMR 7.3.2000, 43.844/98, T.I. und EGMR 2.12.2008, 32.733/08, K.R.S. ).

Die Mitgliedstaaten sind daher bei der Anwendung der Dublin III VO verpflichtet zu überprüfen, ob für Asylwerber im zuständigen Mitgliedstaat Zugang zu einem ordnungsgemäßen Asylverfahren, einschließlich Non Refoulement Prüfung, besteht, das Schutz vor Verletzungen der ihnen gemäß Art3 EMRK zukommenden Rechte gewährleistet.

Auch nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes sind die über den Antrag auf internationalen Schutz entscheidenden Gerichte bzw Behörden verpflichtet zu untersuchen, ob Asylwerbern im nach der Dublin III VO zuständigen Mitgliedstaat die Gefahr einer willkürlichen Kettenabschiebung in ein Land droht, in dem sie dem Risiko einer Verletzung ihrer gemäß Art3 EMRK gewährleisteten Rechte ausgesetzt sind (zur [übertragbaren] Rechtsprechung vor Erlassung der Dublin III VO siehe VfSlg 16.160/2001 und 17.586/2005).

3.3. Aus dem der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes zugrunde liegenden – aktuellen – Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Ungarn vom 12. April 2022 geht hervor, dass in Ungarn seit Mai/Juni 2020 das "Botschaftsverfahren" zur Anwendung kommt. Dieses sei auch auf Personen anwendbar, die nach der Dublin III VO zurückgeführt würden und – wie der Beschwerdeführer – noch keinen Asylantrag in Ungarn gestellt hätten. In diesem "Botschaftsverfahren" müssten Personen, die in Ungarn Asyl suchten, zuvor persönlich eine Absichtserklärung zum Zweck der Stellung eines Asylantrages bei einer der ungarischen Botschaften in Belgrad oder Kiew abgeben. Die Absichtserklärung der Asylsuchenden werde anschließend an die Fremdenpolizeiliche Landesgeneraldirektion in Budapest weitergeleitet und der Antrag innerhalb von 60 Tagen geprüft. Bei Zulassung der Absichtserklärung stelle die Botschaft den Asylbewerbern eine spezielle einmalige Einreiseerlaubnis aus, damit der Asylantrag in Ungarn gestellt werden könne. Nur folgende Personen müssten den beschriebenen Prozess nicht durchlaufen: subsidiär Schutzberechtigte, die sich in Ungarn aufhielten; Familienangehörige von Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten, die sich in Ungarn aufhielten; und Häftlinge, die nicht auf illegale Weise eingereist seien. Für alle anderen sei nach der derzeitigen Rechtslage die unmittelbare Stellung eines Asylantrages in Ungarn oder an der Grenze nicht mehr möglich. Wenn eine Person, die noch keinen Asylantrag in Ungarn gestellt habe, gemäß der Dublin III VO zurückgeführt würde, müsste sie bei ihrer Rückkehr nach Ungarn Asyl beantragen, die derzeit geltenden Rechtsvorschriften ließen diese Möglichkeit aber nicht zu.

Der Zugang zu Unterbringung, Verpflegung und medizinischer Versorgung für Asylwerber setze allerdings voraus, dass die Asylsuchenden in Ungarn einen Asylantrag gestellt hätten. Potentielle Asylwerber hätten während der Zeit, in der sie im Drittstaat auf die einmalige Einreiseerlaubnis warteten, um den Asylantrag in Ungarn stellen zu können, keinen Anspruch auf Versorgung und genössen keinen Schutz aus Ungarn. In dieser Zeit könnten sie von den Behörden des Drittstaates, in dem sich die Botschaft befinde, festgenommen, ausgewiesen oder abgeschoben werden (vgl dazu den in der Länderinformation vom 12. April 2022 zitierten Bericht des Hungarian Helsinki Committee/Menedék – Hungarian Association for Migrants, Submission by the Hungarian Helsinki Committee and Menedék Associ-ation for Migrants; For the third cycle of the UPR of Hungary on the rights of mi-grants [25. März 2021] S 7).

Dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Ungarn vom 12. April 2022 ist zudem zu entnehmen, dass es in Ungarn eine Liste sicherer Drittstaaten gebe. Wenn der Asylwerber in einem solchen Drittstaat Gelegenheit gehabt habe, dort um Asyl anzusuchen, sei das in Ungarn ein Unzulässigkeitskriterium. Unter diesen sicheren Drittstaaten befinde sich auch Serbien, wo Kritiker einen mangelnden Zugang zum Asylverfahren, ein mangelhaftes System und die Gefahr der Kettenabschiebung orteten (s dazu den in der Länderinformation vom 12. April 2022 zitierten AIDA Country Report: Hungary vom April 2021, S 65 ff.).

3.4. Das Bundesverwaltungsgericht geht zwar – gestützt auf eine von der ungarischen Dublin-Behörde ausgestellte "Transfer acceptance" – davon aus, dass Ungarn der Aufnahme des Beschwerdeführers ausdrücklich mit dem Hinweis zugestimmt habe, dessen Asylantrag dort zu prüfen, weshalb das "Botschaftsverfahren" nicht auf ihn anwendbar sei. Diese – bereits seit längerer Zeit in Gebrauch befindliche – formelhafte "Transfer acceptance" der ungarischen Dublin-Behörde erweist sich jedoch auf Grund der wiedergegebenen Länderberichte zur Anwendung des "Botschaftsverfahrens" in Ungarn als unzureichend, weil damit nicht gesichert ist, dass der Beschwerdeführer tatsächlich innerhalb Ungarns einen Antrag auf internationalen Schutz stellen können wird. Angesichts dessen wäre das Bundesverwaltungsgericht daher verpflichtet gewesen, näher zu überprüfen, ob der Beschwerdeführer in Ungarn tatsächlich Zugang zu einem ordnungsgemäßen Asylverfahren hat, ohne dem Risiko einer Kettenabschiebung in ein Land ausgesetzt zu sein, in dem ihm die Verletzung seiner gemäß Art3 EMRK und Art4 GRC gewährleisteten Rechte drohen könnte (vgl VfGH 15.3.2023, E2042/2022 ua; vgl etwa auch VfGH 15.3.2023, E2944/2022; 12.6.2023, E3467/2022; 28.6.2023, E1275/2023; 4.10.2023, E2771/2022).

Ein pauschaler Verweis darauf, dass man den ungarischen Behörden nicht unterstellen könne, die Personen mittels Evakuierungsfluges aus Afghanistan ins Land geholt zu haben, nur um sie dann sich selbst zu überlassen, und die Annahme, dass der Beschwerdeführer weiterhin die oder ähnliche Betreuung und Unterstützung wie nach seiner Ankunft in Ungarn genießen würde, stellen vor dem Hintergrund der aktuellen Berichtslage keine ausreichende Begründung für das Ergebnis dar, dass bei einer Rückkehr der Zugang zu einem ordnungsgemäßen Asylverfahren gesichert und damit eine entsprechende Versorgung gegeben sei (vgl VfGH 15.3.2023, E2042/2022 ua).

4. Da das Bundesverwaltungsgericht die erforderlichen Ermittlungstätigkeiten in einem entscheidenden Punkt unterlassen hat, ist seine Entscheidung mit Willkür belastet.

IV. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten.

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