E16/2023 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung
Spruch
I. 1. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit seine Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht gegen das auf 18 Monate befristete Einreiseverbot abgewiesen wird, wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in seinen Rechten verletzt worden.
Das Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.
2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.
II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsvertretung die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger des Irak, stellte am 10. Juli 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz, der in allen Instanzen negativ beschieden wurde. In einem weiteren, darauffolgendem Verfahren wurde dem Beschwerdeführer mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 29. Juni 2020 ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt I.), gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt II.), festgestellt, dass eine Abschiebung in den Irak zulässig sei (Spruchpunkt III.), einer Beschwerde gegen diese Rückkehrentscheidung die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt IV.), eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht gewährt (Spruchpunkt V.) und gegen den Beschwerdeführer ein Einreiseverbot in der Dauer von 18 Monaten erlassen (Spruchpunkt VI.).
2. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit der Maßgabe als unbegründet ab, dass die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage. Das Einreiseverbot begründet das Bundesverwaltungsgericht zusammengefasst mit dem rechtswidrigen Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet, der Weigerung, trotz bestehender Ausreiseverpflichtung in den Irak zurückzukehren, den fehlenden Unterhaltsmitteln und der sorglosen Einstellung der österreichischen Rechtsordnung gegenüber.
3. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten sowie die Verletzung wegen Anwendung einer verfassungswidrigen Gesetzesbestimmung behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird. Die Anwendung einer verfassungswidrigen Bestimmung sei für die Rechtsstellung des Beschwerdeführers jedenfalls nachteilig gewesen, zumal das Bundesverwaltungsgericht das verhängte Einreiseverbot ausdrücklich mit der Mittellosigkeit des Beschwerdeführers begründet habe.
4. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Verwaltungs- und Gerichtsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet.
II. Erwägungen
1. Die zulässige Beschwerde ist – soweit sie sich gegen die Erlassung des befristeten Einreiseverbotes richtet – begründet:
2. Der Verfassungsgerichtshof hat mit Erkenntnis vom 6. Dezember 2022, G264/2022, §53 Abs2 Z6 des Bundesgesetzes über die Ausübung der Fremdenpolizei, die Ausstellung von Dokumenten für Fremde und die Erteilung von Einreisetitel (Fremdenpolizeigesetz 2005 – FPG), BGBl I 100/2005, idF BGBl I 87/2012, als verfassungswidrig aufgehoben und verfügt, dass diese Bestimmung nicht mehr anzuwenden ist.
Gemäß Art140 Abs7 B VG ist daher die aufgehobene Gesetzesbestimmung nicht nur im Anlassfall, sondern ausnahmslos in allen Fällen und folglich auch im vorliegenden Fall nicht mehr anzuwenden (VfSlg 15.401/1999, 19.419/2011).
Das Bundesverwaltungsgericht wendete bei Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses die als verfassungswidrig aufgehobene Gesetzesbestimmung an. Es ist nach Lage des Falles nicht ausgeschlossen, dass diese Gesetzesanwendung für die Rechtsstellung des Beschwerdeführers nachteilig war. Der Beschwerdeführer wurde somit durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit die Beschwerde gegen die Erlassung eines auf 18 Monate befristeten Einreiseverbotes abgewiesen wird, wegen Anwendung einer verfassungswidrigen Gesetzesbestimmung in seinen Rechten verletzt.
Das Erkenntnis ist daher insoweit aufzuheben.
3. Im Übrigen – soweit sich die Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §57 AsylG 2005, die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung in den Irak und den Ausspruch, dass eine Frist von 14 Tagen für die freiwillige Ausreise besteht, richtet – wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt:
4. Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat oder von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B VG). Eine solche Klärung ist dann nicht zu erwarten, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.
Die vorliegende Beschwerde behauptet die Verletzung in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973), gemäß Art3 EMRK, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden sowie im gemäß Art8 EMRK gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens.
Der Verfassungsgerichtshof geht in Übereinstimmung mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (s etwa EGMR 7.7.1989, Fall Soering , EuGRZ1989, 314 [319]; 30.10.1991, Fall Vilvarajah ua, ÖJZ1992, 309 [309]; 6.3.2001, Fall Hilal , ÖJZ2002, 436 [436 f.]) davon aus, dass die Entscheidung eines Vertragsstaates, einen Fremden in welcher Form immer außer Landes zu schaffen, unter dem Blickwinkel des Art3 EMRK erheblich werden und demnach die Verantwortlichkeit des Staates nach der EMRK begründen kann, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme glaubhaft gemacht worden sind, dass der Fremde konkret Gefahr liefe, in dem Land, in das er gebracht werden soll, Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden (vgl VfSlg 13.837/1994, 14.119/1995, 14.998/1997).
Das Bundesverwaltungsgericht hat weder eine grundrechtswidrige Gesetzesauslegung vorgenommen noch sind ihm grobe Verfahrensfehler unterlaufen, die eine vom Verfassungsgerichtshof aufzugreifende Verletzung des genannten Grundrechtes darstellen (vgl VfSlg 13.897/1994, 15.026/1997, 15.372/1998, 16.384/2001, 17.586/2005; zu den krankheitsbedingten Gründen vgl auch VfSlg 18.407/2008 und 19.086/2010). Ob ihm sonstige Fehler bei der Rechtsanwendung unterlaufen sind, hat der Verfassungsgerichtshof nicht zu beurteilen.
Wie der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis VfSlg 17.340/2004 ausgeführt hat, darf eine aufenthaltsbeendende Maßnahme nicht verfügt werden, wenn dadurch das Recht auf Schutz des Privat- und Familienlebens des Betroffenen verletzt würde. Bei der Beurteilung nach Art8 EMRK ist eine Interessenabwägung vorzunehmen (vgl die in VfSlg 18.223/2007 und 18.224/2007 wiedergegebene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte).
Das Bundesverwaltungsgericht hat sich mit der Frage der Gefährdung des Beschwerdeführers in seinen Rechten auseinandergesetzt. Ihm kann unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten nicht entgegengetreten werden, wenn es auf Grund der Umstände des vorliegenden Falles davon ausgeht, dass das öffentliche Interesse an der Beendigung des Aufenthalts von Fremden ohne Aufenthaltstitel das Interesse am Verbleib im Bundesgebiet aus Gründen des Art8 EMRK überwiegt (vgl VfSlg 19.086/2010).
Die im Übrigen gerügten Rechtsverletzungen wären im vorliegenden Fall nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen, insbesondere der Frage, ob das Bundesverwaltungsgericht seine Entscheidung in jeder Hinsicht rechtmäßig begründet hat, nicht anzustellen.
III. Ergebnis
1. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit seine Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht gegen das auf 18 Monate befristete Einreiseverbot abgewiesen wird, wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in seinen Rechten verletzt worden.
Das Erkenntnis ist daher in diesem Umfang aufzuheben.
2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.
3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG bzw §19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
4. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten.