E291/2022 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung
Spruch
I. Die Beschwerdeführerin ist durch Spruchpunkt A) I. des angefochtenen Erkenntnisses im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.
Spruchpunkt A) I. des Erkenntnisses wird aufgehoben.
II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihrer Rechtsvertreterin die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Die Beschwerdeführerin ist eine nigerianische Staatsangehörige. Sie stellte am 22. November 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz. Begründend gab sie an, den Herkunftsstaat verlassen zu haben, um der Armut zu entkommen. Mit Bescheid vom 17. Jänner 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diesen Antrag ab, erließ gegen die Beschwerdeführerin eine Rückkehrentscheidung und erklärte die Abschiebung für zulässig. Die dagegen erhobene Beschwerde der Beschwerdeführerin wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 17. April 2018 als unbegründet abgewiesen.
2. Die Beschwerdeführerin begab sich im Juni 2018 nach Deutschland, wurde jedoch am 6. Dezember 2018 nach Österreich überstellt und in Schubhaft genommen. Sie stellte am 10. Jänner 2019 einen Folgeantrag und gab an, dass sie Nigeria aus Angst vor einer Genitalverstümmelung verlassen habe und in Europa zur Prostitution gezwungen worden sei. Mit Bescheid vom 24. Mai 2019 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Folgeantrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz hinsichtlich Asyl und subsidiären Schutz ab, erteilte ihr jedoch eine "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" gemäß §57 AsylG 2005.
3. Mit Erkenntnis vom 20. Dezember 2021 wies das Bundesverwaltungsgericht die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde der Beschwerdeführerin in Spruchpunkt A) I. hinsichtlich des Status der Asylberechtigten ab, gab der Beschwerde jedoch mit Spruchpunkt A) II. hinsichtlich des Status der subsidiär Schutzberechtigten statt und erkannte der Beschwerdeführerin in Bezug auf den Herkunftsstaat Nigeria den Status einer subsidiär Schutzberechtigten zu. Dies wird im Wesentlichen wie folgt begründet:
Die Beschwerdeführerin sei als Minderjährige Opfer von Menschenhandel geworden. Sie sei im Alter von 16 Jahren über Libyen und Italien nach Österreich verbracht worden, wo sie zur Prostitution gezwungen worden sei. Die Beschwerdeführerin habe in Österreich gegen ihre "Madam" und das Menschenhandelsnetzwerk ausgesagt, sei deshalb bedroht worden und habe im Fall ihrer Rückkehr mit Vergeltungsmaßnahmen zu rechnen. Es sei glaubhaft, dass die Beschwerdeführerin von ihrer Familie keine Unterstützung zu erwarten habe, weil sie bei einer Unterkunftnahme bei ihrer Familie mit Repressionen durch das Netzwerk der Menschenhändler zu rechnen habe. Eine innerstaatliche Fluchtalternative komme angesichts der besonderen Vulnerabilität der Beschwerdeführerin, die mehrere Jahre von ihrem Herkunftsland abwesend gewesen sei, weder solide familiäre Bindungen noch eine abgeschlossene Berufsausbildung habe und bei ihrer Verbringung nach Europa minderjährig gewesen sei, nicht in Betracht. Es bestehe daher die reale Gefahr, dass die Beschwerdeführerin nach ihrer Rückkehr wieder von einem Menschenhandelsnetzwerk ausgebeutet und erneut Opfer von Menschenhandel werde, weshalb der Beschwerdeführerin der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuzusprechen sei.
Der Status der Asylberechtigten könne der Beschwerdeführerin hingegen nicht zugesprochen werden, weil ihre Eigenschaft als Opfer von Menschenhandel nicht den Asylgrund der Zugehörigkeit zu einer "sozialen Gruppe" iSd Art1 Abschnitt A Z2 GFK erfülle. Nicht jede aus Europa zurückkehrende Frau, die Opfer von Menschenhandel geworden sei, sei bei ihrer Rückkehr von Misshandlungen und Diskriminierungen betroffen, weil dies etwa auch von der Vermögenssituation der Frau abhänge. Es liege somit keine "deutlich abgegrenzte Identität" dieser Personengruppe vor, weshalb eine Voraussetzung für das Vorliegen einer "sozialen Gruppe" nicht erfüllt sei.
4. Gegen Spruchpunkt A) I. dieses Erkenntnisses richtet sich die vorliegende, auf Art144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 BVG zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung BGBl 390/1973) behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, beantragt werden.
Begründend wird im Wesentlichen ausgeführt, dass das Bundesverwaltungsgericht sich vor dem Hintergrund der Länderberichte zur Gefahr von "Re-Trafficking" nicht mit der individuellen Rückkehrsituation der Beschwerdeführerin auseinandergesetzt habe. Insbesondere habe es nicht berücksichtigt, dass die Beschwerdeführerin über keine Unterstützung durch ihre Familie verfüge, ihre Tante mit Menschenhändlern zusammenarbeite, sie in einem jungen Alter Opfer von Menschenhandel geworden sei und sie eine Zeugin im Strafverfahren gegen die Täterin gewesen sei. Das Bundesverwaltungsgericht habe dabei auch die Stellungnahme der Interventionsstelle für Betroffene des Frauenhandels (LEFÖ-IBF) vom 17. Mai 2019 außer Acht gelassen, aus der sich ergebe, dass die Beschwerdeführerin in ihrem Herkunftsstaat Eingriffe asylrelevanter Intensität zu erwarten habe.
5. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt und ebenso wie das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl von der Erstattung einer Gegenschrift abgesehen.
II. Erwägungen
1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet:
2. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.
Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).
Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).
3. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:
3.1. Gemäß §3 Abs1 AsylG 2005 ist einer Fremden, die in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht zurückzuweisen ist, der Status der Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihr im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art1 Abschnitt A Z2 GFK, demnach aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung, droht.
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union zu Art10 Abs1 litd Status RL (vgl EuGH 7.11.2013, Rs C-199/12, X ua, Rz 45; 25.1.2018, Rs C 473/16, F , Rz 30; 4.10.2018, Rs C 652/16, Ahmedbekova ua , Rz 89), auf die sich auch der Verwaltungsgerichtshof bei der Auslegung des Asylgrundes der "Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe" iSd Art1 Abschnitt A Z2 GFK bezieht (vgl zB VwSlg 17.225 A/2007; VwGH 13.11.2014, Ra 2014/18/0011; 16.11.2016, Ra 2015/18/0295; 22.3.2017, Ra 2016/19/0350; 11.12.2019, Ra 2019/20/0295), müssen für das Vorliegen einer "sozialen Gruppe" kumulativ zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Zum einen müssen die Mitglieder der Gruppe angeborene Merkmale oder einen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben, oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten. Zum anderen muss diese Gruppe eine deutlich abgegrenzte Identität haben, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird.
Bei der Bestimmung der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der Ermittlung eines Merkmals einer solchen Gruppe müssen geschlechtsbezogene Aspekte angemessen berücksichtigt werden (Art10 Abs1 litd Status RL; vgl auch Erwägungsgrund 30 der Status RL sowie die UNHCR-Richtlinie Nr 1: Geschlechtsspezifische Verfolgung, 7.5.2002, Rz 2).
3.2. Ausgehend davon, dass die Beschwerdeführerin in Nigeria Opfer von Menschenhandel geworden ist und ihr bei einer Rückkehr nach Nigeria die reale Gefahr droht, wieder Opfer von Menschenhandel zu werden (siehe Punkt I.3.), prüft das Bundesverwaltungsgericht, ob die Beschwerdeführerin einer "bestimmten sozialen Gruppe" iSd Art1 Abschnitt A Z2 GFK und Art10 Abs1 litd Status RL angehört, nämlich der Gruppe "nach Nigeria zurückkehrende[r] Frauen, die Opfer von Menschenhandel geworden sind und die sich hiervon befreit haben". Unter Hinweis auf die zuvor zitierte Rechtsprechung stellt das Bundesverwaltungsgericht nicht in Frage, dass nigerianische Frauen, die Opfer von Menschenhandel geworden sind, durch ihre sexuelle Ausbeutung einen gemeinsamen Hintergrund teilen, der nicht verändert werden kann, und dass damit das erste Kriterium für das Vorliegen einer "sozialen Gruppe" erfüllt ist.
Zum zweiten Kriterium, der "deutlich abgegrenzten Identität", führt das Bundesverwaltungsgericht mit Verweis auf aktuelle Länderberichte aus, dass nigerianische Frauen, die Opfer von Menschenhandel geworden seien und ohne Vermögen aus Europa zurückkehren würden, einer sozialen Stigmatisierung unterlägen, weil angenommen werde, dass sie der Prostitution nachgegangen seien (siehe insbesondere den EASO Country of Origin Information Report, Nigeria: Trafficking in Human Beings, April 2021, S 47 ff.; EASO Country Guidance: Nigeria, Oktober 2021, S 81). Das Bundesverwaltungsgericht nimmt im vorliegenden Fall auch an, dass die Beschwerdeführerin – eine alleinstehende, mittellose Frau, ohne formale Bildung und ohne familiäre Unterstützung im Herkunftsland – eben jener Gruppe der Opfer von Menschenhandel angehört, die bei einer Rückkehr mit Stigmatisierung zu rechnen hat. Das Bundesverwaltungsgericht verneint die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe gleichwohl mit dem Hinweis, dass nicht jede nach Nigeria zurückkehrende Frau, die Opfer von Menschenhandel wurde, identisch behandelt werde, sondern es auf die konkreten Umstände ankomme, weshalb eine "deutlich abgegrenzte Identität" fehle. Diese Begründung ist im vorliegenden Fall jedoch nicht tragfähig: Denn das Bundesverwaltungsgericht nimmt selbst an, dass die Beschwerdeführerin jener (Teil-)Gruppe angehört, der eine Stigmatisierung droht. Gerade hierin manifestiert sich aber die "deutlich abgegrenzte Identität" dieser Gruppe, weil sie von der sie umgebenden Gesellschaft offensichtlich als andersartig betrachtet wird (vgl EASO Guidance on membership of a particular social group, März 2020, S 24).
Soweit sich das Bundesverwaltungsgericht auf den Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom 14. August 2020, Ro 2020/14/0002, bezieht, ist dem entgegenzuhalten, dass der Verwaltungsgerichtshof darin nicht in Zweifel gezogen hat, dass eine "abgegrenzte Identität" bei gesellschaftlicher Stigmatisierung von Opfern des Menschenhandels vorliegen kann (vgl dazu auch Hembach/Thaler/Nedwed , Die "soziale Gruppe" – ein "update", in: Filzwieser/Kasper [Hrsg.], Jahrbuch Asyl- und Fremdenrecht 2021, 2021, 151 [177 f.]). Auch der Verfassungsgerichtshof hat in vergleichbaren Fällen, in denen das Bundesverwaltungsgericht jeweils von der Asylrelevanz der Eigenschaft als Opfer von Menschenhandel ausgegangen ist, das Vorliegen einer sozialen Gruppe nicht in Frage gestellt (vgl VfGH 25.2.2020, E2875/2019; 22.9.2021, E1109/2021; vgl auch VfGH 10.10.2012, U882/12; 21.11.2013, U76/2013; 5.3.2014, U36/2013).
3.3. Dem angefochtenen Erkenntnis fehlt somit eine nachvollziehbare Begründung, warum die Beschwerdeführerin – eine nigerianische Frau, die als Opfer von Menschenhandel sexuell ausgebeutet wurde und bei ihrer Rückkehr nach Nigeria stigmatisiert, ausgegrenzt oder diskriminiert würde – nicht Mitglied einer "bestimmten soziale Gruppe" iSd Art10 Abs1 litd Status RL und Art1 Abschnitt A Z2 GFK sei. Das Erkenntnis ist daher in Bezug auf Spruchpunkt A) I. mit Willkür belastet.
III. Ergebnis
1. Die Beschwerdeführerin ist somit durch Spruchpunkt A) I. des angefochtenen Erkenntnisses im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) verletzt worden.
2. Spruchpunkt A) I. des Erkenntnisses ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– enthalten. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil die Beschwerdeführerin Verfahrenshilfe (auch) im Umfang des §64 Abs1 Z1 lita ZPO genießt.