JudikaturVfGH

E447/2022 ua – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung

Entscheidung
14. Juni 2022

Spruch

I. Die Beschwerdeführer sind durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Leben gemäß Art2 EMRK sowie im Recht gemäß Art3 EMRK, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen zu werden, verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den Beschwerdeführern zuhanden ihrer Rechtsvertreterin die mit € 3.270,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Die Beschwerdeführer sind afghanische Staatsangehörige und gehören der turkmenischen Volksgruppe sowie der sunnitisch-muslimischen Glaubensrichtung an. Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer sind die Eltern der minderjährigen Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer.

2. Die Beschwerdeführer stellten in Österreich am 28. Oktober 2015 (bzw im Fall der in Österreich geborenen Fünftbeschwerdeführerin am 14. Februar 2018) Anträge auf internationalen Schutz.

Mit Bescheiden vom 24. Oktober 2017 und 26. Februar 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diese Anträge auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan ab, erteilte keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen die Beschwerdeführer Rückkehrentscheidungen, stellte fest, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig ist, und setzte eine zweiwöchige Frist zur freiwilligen Ausreise.

Mit Erkenntnis vom 19. September 2018 wies das Bundesverwaltungsgericht die gegen diese Bescheide erhobenen Beschwerden als unbegründet ab.

3. Die Beschwerdeführer verließen in der Folge Österreich und suchten am 4. und 10. Oktober 2018 in Deutschland um Asyl an.

4. Am 22. Jänner 2019 stellten die Beschwerdeführer nach Rückübernahme aus Deutschland ihre zweiten Anträge auf internationalen Schutz in Österreich.

Mit Bescheiden vom 26. Februar 2019 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diese Anträge hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß §68 Abs1 AVG wegen entschiedener Sache zurück, erteilte keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen die Beschwerdeführer Rückkehrentscheidungen, stellte fest, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig ist, setzte keine Frist zur freiwilligen Ausreise und erließ gegen die Erstbeschwerdeführerin und den Zweitbeschwerdeführer ein auf die Dauer von zwei Jahren befristetes Einreiseverbot.

Mit Erkenntnis vom 23. April 2019 wies das Bundesverwaltungsgericht die gegen diese Bescheide erhobenen Beschwerden als unbegründet ab.

5. Am 14. Oktober 2020 stellten die Beschwerdeführer ihre dritten Anträge auf internationalen Schutz.

Mit Bescheiden vom 15. Jänner 2021 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diese Anträge wiederum hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß §68 Abs1 AVG wegen entschiedener Sache zurück und erteilte keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen.

Mit Erkenntnis vom 21. April 2021 wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerden der Beschwerdeführer hinsichtlich der Zurückweisung des Antrages auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ab. Im Übrigen behob es jedoch die angefochtenen Bescheide mit der Begründung, dass das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Gesundheitszustand des Zweitbeschwerdeführers und die Länderberichte zur Auswirkung der COVID 19-Situation in Afghanistan auf vulnerable Bevölkerungsgruppen sowie – im Hinblick auf die Möglichkeit der Erwirtschaftung eines ausreichenden Einkommens für eine Familie mit drei minderjährigen Kindern – die psychischen Probleme der Erstbeschwerdeführerin und des Zweitbeschwerdeführers nicht ausreichend berücksichtigt habe.

Mit Bescheiden vom 5. Mai 2021 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im fortgesetzten Verfahren die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß §68 Abs1 AVG wegen entschiedener Sache zurück und erteilte keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen. Dies wurde im Hinblick auf die Sicherheitslage in Afghanistan im Wesentlichen damit begründet, dass den Beschwerdeführern eine Rückkehr in die von der afghanischen Regierung kontrollierten Städte Herat und Mazar e Sharif zumutbar sei.

6. Mit Erkenntnis vom 11. Jänner 2022 wies das Bundesverwaltungsgericht die gegen diese Bescheide erhobenen Beschwerden als unbegründet ab. Dies wird im Wesentlichen damit begründet, dass das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl auf Grund der zum Zeitpunkt seiner Entscheidung maßgeblichen Sachlage zu Recht davon ausgegangen sei, dass den Beschwerdeführern eine Rückkehr in die Städte Herat und Mazar e Sharif zumutbar sei. Die nach der Erlassung der Bescheide eingetretenen Änderungen in Afghanistan seien nicht zu berücksichtigen, weil das Bundesverwaltungsgericht, sofern die Behörde einen Antrag wegen entschiedener Sache gemäß §68 Abs1 AVG zurückgewiesen habe, nur zu prüfen habe, ob diese Zurückweisung auf Grund des von der Behörde berücksichtigten Sachverhalts zu Recht erfolgt sei. Eine nachträgliche Änderung der Sachlage sei in einem Folgeverfahren zu berücksichtigen.

7. Gegen diese Entscheidung richten sich die vorliegenden, auf Art144 B VG gestützten Beschwerden, in denen die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird. Die Beschwerdeführer bringen unter anderem vor, dass das Bundesverwaltungsgericht die Verschlechterung der Sicherheitslage in Afghanistan durch die Machtübernahme der Taliban nicht berücksichtigt habe.

8. Das Bundesverwaltungsgericht hat mitgeteilt, dass die Gerichts- und Verwaltungsakten dem Verwaltungsgerichtshof vorgelegt worden sind, und hat ebenso wie das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl von der Erstattung einer Gegenschrift abgesehen.

II. Erwägungen

Die – zulässigen – Beschwerden sind begründet:

1. Das gemäß Art2 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Leben wird durch ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes verletzt, wenn es auf einer Art2 EMRK widersprechenden Rechtsgrundlage oder auf einer diesem Grundrecht widersprechenden Auslegung des Gesetzes beruht sowie auch bei groben Verfahrensfehlern.

In gleicher Weise verletzt ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes das gemäß Art3 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden, wenn eine Entscheidung des Verwaltungsgerichtes in Anwendung eines der genannten Verfassungsvorschrift widersprechenden Gesetzes ergangen ist, wenn sie auf einer dem genannten Grundrecht widersprechenden Auslegung des Gesetzes beruht oder wenn dem Verwaltungsgericht grobe Verfahrensfehler unterlaufen sind (vgl VfSlg 13.897/1994, 15.026/1997, 15.372/1998, 16.384/2001, 17.586/2005).

2. Der Verfassungsgerichtshof geht in Übereinstimmung mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (s etwa EGMR 7.7.1989, Fall Soering , EuGRZ1989, 314 [319]; 30.10.1991, Fall Vilvarajah ua , ÖJZ1992, 309 [309]; 6.3.2001, Fall Hilal , ÖJZ2002, 436 [436 f.]) davon aus, dass die Entscheidung eines Vertragsstaates, einen Fremden in welcher Form immer außer Landes zu schaffen, unter dem Blickwinkel des Art3 EMRK erheblich werden und demnach die Verantwortlichkeit des Staates nach der EMRK begründen kann, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme glaubhaft gemacht worden sind, dass der Fremde konkret Gefahr liefe, in dem Land, in das er gebracht werden soll, Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden (vgl VfSlg 13.837/1994, 14.119/1995, 14.998/1997). Nichts anderes ist im Hinblick auf Art2 EMRK anzunehmen, wenn dem Fremden im Zielland mit hoher Wahrscheinlichkeit die Tötung droht (s etwa EGMR 8.11.2005, Fall Bader ua , NLMR 2005/6, 273 [274]; 23.3.2016 [GK], Fall F.G. , NLMR 2016/2, 105 [105 f.]).

Bei der verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit der Rechtsgrundlagen des angefochtenen Erkenntnisses könnte das Bundesverwaltungsgericht den Beschwerdeführer in den gemäß Art2 und 3 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten unter anderem verletzen, wenn das Erkenntnis auf einer den genannten Grundrechten widersprechenden Auslegung des Gesetzes beruht.

3. Das Bundesverwaltungsgericht hat bei seiner Entscheidung hinsichtlich der Zurückweisung der Anträge auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten eine Art2 und 3 EMRK zuwiderlaufende Anwendung des §68 Abs1 AVG vorgenommen:

3.1. Auch wenn die Behörde einen Folgeantrag auf internationalen Schutz gemäß §68 Abs1 AVG wegen entschiedener Sache zurückweist, hat das über die dagegen erhobene Beschwerde entscheidende Bundesverwaltungsgericht das Vorbringen des Asylwerbers dahingehend zu prüfen, ob ein erstmals vorgebrachter Fluchtgrund, soweit er sachverhaltsändernde Elemente enthält, einen glaubhaften Kern aufweist und ob er im Lichte der Art2 und 3 EMRK einer Rückführung aktuell entgegensteht (vgl zB VfGH 28.11.2019, E2006/2019 ua; 8.6.2020, E2751/2019).

3.2. Das Bundesverwaltungsgericht legt seinem Erkenntnis vom 11. Jänner 2022 das Länderinformationsblatt in der am 1. April 2021 aktualisierten Fassung zugrunde und führt aus, dass die im angeführten Länderbericht dargestellte Sicherheitslage einer Rückkehr der Beschwerdeführer nach Afghanistan nicht entgegenstehe.

3.3. Nach Auffassung des Verfassungsgerichtshofes war insbesondere auf Grund der – im Entscheidungszeitpunkt des Bundesverwaltungsgerichtes verfügbaren – Kurzinformation der Staatendokumentation vom 19. Juli 2021 von einer extremen Volatilität der Sicherheitslage in Afghanistan auszugehen, sodass jedenfalls eine Situation vorliegt, in der Rückkehrer nach Afghanistan einer realen Gefahr einer Verletzung ihrer verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte gemäß Art2 und 3 EMRK ausgesetzt wären (vgl VfGH 30.9.2021, E3445/2021; 16.3.2022, E273/2022, jeweils mwN).

3.4. Da das Bundesverwaltungsgericht diese Länderinformationen im vorliegenden Fall nicht berücksichtigt hat und von einer im Hinblick auf Art2 und 3 EMRK zulässigen Rückkehrsituation der Beschwerdeführer ausgegangen ist, verstößt die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes gegen das Recht auf Leben gemäß Art2 EMRK sowie das Recht gemäß Art3 EMRK, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden, und ist daher aufzuheben (vgl zB VfGH 30.11.2021, E3097/2021; ferner VfGH 5.10.2021, E2996/2021).

III. Ergebnis

1. Die Beschwerdeführer sind somit durch das angefochtene Erkenntnis in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf Leben, ferner darauf, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden, verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 bzw §19 Abs3 Z4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. Da die Beschwerdeführer gemeinsam durch eine Rechtsanwältin vertreten sind, ist der einfache Pauschalsatz erhöht um einen Streitgenossenzuschlag von 25 vH des Pauschalsatzes zuzusprechen. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 545,– enthalten. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil die Beschwerdeführer Verfahrenshilfe (auch) im Umfang des §64 Abs1 Z1 lita ZPO genießen.

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