E2555/2021 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung
Spruch
I. 1. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit seine Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak, gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, gegen den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung in den Irak und gegen die Festsetzung einer 14 tägigen Frist für die freiwillige Ausreise abgewiesen wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.
Das Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.
2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.
II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsvertreterin die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Der am 14. Juli 1972 geborene Beschwerdeführer ist irakischer Staatsangehöriger, gehört der arabischen Volksgruppe an, bekennt sich zum sunnitischen Islam und stammt ursprünglich aus Bagdad. Er stellte am 17. Dezember 2015 nach Einreise in das Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz. Begründend gab er vor dem Bundesverwaltungsgericht an, dass er Bagdad wegen vermehrter interkonfessioneller Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten habe verlassen müssen. Er sei daraufhin in die Stadt Ramadi geflohen, wo er mehrere Jahre gelebt habe. Nachdem der Islamische Staat (IS, auch ISIS) Ramadi erobert habe, habe er den Irak verlassen.
2. Mit Bescheid vom 15. Mai 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: BFA) den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß §3 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG 2005 ab; ebenso wurde der Antrag auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß §8 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG 2005 in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak abgewiesen. Weiters wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §57 AsylG 2005 nicht erteilt, gemäß §10 Abs1 Z3 AsylG 2005 iVm §9 BFA VG eine Rückkehrentscheidung gemäß §52 Abs2 Z2 FPG erlassen und gemäß §52 Abs9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung in den Irak gemäß §46 FPG zulässig sei. Zudem wurde gemäß §55 Abs1 bis 3 FPG eine 14 tägige Frist zur freiwilligen Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung gesetzt.
3. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht ─ nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung ─ mit Erkenntnis vom 19. Mai 2021 als unbegründet ab. Der Beschwerdeführer habe keine individuell gegen seine Person gerichtete, asylrelevante Verfolgung glaubhaft machen können. Auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten hielt das Bundesverwaltungsgericht für nicht gegeben.
4. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, insbesondere im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander gemäß ArtI Abs1 BVG BGBl 390/1973 und auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art8 EMRK, behauptet und die Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.
Begründend wird dazu im Wesentlichen ausgeführt, dass das Bundesverwaltungsgericht jegliche Ermittlungen betreffend die aktuelle Situation im Irak, auch konkret in Bezug auf die Herkunft des Beschwerdeführers als sunnitischer Araber und seine Rückkehrmöglichkeiten, unterlassen habe. Zudem seien die herangezogenen Länderberichte vor dem Hintergrund der volatilen Sicherheitslage nicht ausreichend aktuell gewesen, um eine Rückkehrentscheidung zu erlassen.
5. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift jedoch Abstand genommen.
II. Erwägungen
A. Soweit sich die – zulässige – Beschwerde gegen die Abweisung der Beschwerde durch das Bundesverwaltungsgericht hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten, der Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung, der Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung in den Irak und der Festsetzung einer zweiwöchigen Frist für die freiwillige Ausreise richtet, ist sie auch begründet:
1. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.
Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).
Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).
2. Ein derartiger, in die Verfassungssphäre reichender Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht bei seiner Entscheidung hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten unterlaufen:
2.1. Gemäß §8 Abs1 AsylG 2005 ist einem Fremden, dessen Antrag auf internationalen Schutz in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird, der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art2 oder 3 EMRK oder der Protokolle Nr 6 oder Nr 13 zur EMRK bedeuten oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
2.2. Die Begründung des Bundesverwaltungsgerichtes hinsichtlich einer möglichen Verletzung des Beschwerdeführers in seinen durch Art2 und 3 EMRK gewährleisteten Rechten "im Falle seiner Rückkehr in den Irak" erschöpft sich im Wesentlichen darin, dass es sich beim Beschwerdeführer um einen – trotz seiner gesundheitlichen Beeinträchtigungen als Diabetiker – arbeitsfähigen Mann handle, der über Familienangehörige im Irak verfüge und bei dem auf Grund seiner Arbeitserfahrungen als Goldschmied und im Autohandel davon auszugehen sei, dass er in der Lage sei, sich den Lebensunterhalt im Herkunftsstaat wieder mit Erwerbsarbeit zu verdienen.
2.3. Das Bundesverwaltungsgericht hat es bei seinen Ausführungen hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten unterlassen, sich konkret mit der aktuellen allgemeinen Lage in jener Region auseinanderzusetzen, aus der der Beschwerdeführer stammt bzw die als innerstaatliche Fluchtalternative fungieren soll, und diese in der Begründung des Erkenntnisses zur individuellen Situation des Beschwerdeführers in Beziehung zu setzen (zu diesen Anforderungen in den Irak betreffenden Fällen vgl zB VfSlg 20.140/2017, 20.141/2017; VfGH 9.6.2017, E3235/2016; 9.6.2017, E566/2017; 27.2.2018, E2927/2017; 11.6.2018, E4317/2017; 26.6.2018, E4387/2017; 25.9.2018, E1764/2018; 29.11.2021, E4103/2020; 15.12.2021, E2434/2020 ua). Eine pauschale Beurteilung der Sicherheits- und Versorgungslage im Irak wird den Anforderungen an eine am Maßstab der Art2 und 3 EMRK vorzunehmende Beurteilung der Rückkehrsituation in solchen Staaten nicht gerecht, in denen die Sicherheits- und Versorgungslage instabil ist und von Provinz zu Provinz variiert (siehe dazu bezogen auf den Irak VfSlg 20.141/2017; vgl auch zB VfGH 11.6.2018, E4317/2017; 26.6.2018, E4387/2017; 26.2.2019, E4766/2018).
2.4. Soweit sich das Erkenntnis auf die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und daran anknüpfend auf die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, auf die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung und der Abschiebung in den Herkunftsstaat Irak unter Setzung einer 14 tägigen Frist für die freiwillige Ausreise richtet, ist es somit mit Willkür behaftet und insoweit aufzuheben.
B. Im Übrigen – soweit sich die Beschwerde gegen die Abweisung des Antrages auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten richtet – wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt:
1. Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B VG). Ein solcher Fall liegt vor, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.
2. Die Beschwerde rügt die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten. Die gerügten Rechtsverletzungen wären im vorliegenden Fall aber nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen, insbesondere ob das Bundesverwaltungsgericht das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers zu Recht als unglaubwürdig erachtet hat, nicht anzustellen.
III. Ergebnis
1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit seine Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak, gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, gegen die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung und gegen die Festsetzung einer 14 tägigen Frist für die freiwillige Ausreise abgewiesen wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) verletzt worden.
Das Erkenntnis ist daher in diesem Umfang aufzuheben.
2. Im Übrigen wird von der Behandlung der Beschwerde abgesehen.
3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 bzw §19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– enthalten. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil der Beschwerdeführer Verfahrenshilfe im Umfang des §64 Abs1 Z1 lita ZPO genießt.