JudikaturVfGH

E2070/2021 ua – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung

Entscheidung
29. April 2022

Spruch

I. Die Beschwerdeführer sind durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander gemäß ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl Nr 390/1973, verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den Beschwerdeführern zuhanden ihrer Rechtsvertreterin die mit € 2.877,60 bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der am 20. April 1978 geborene Erstbeschwerdeführer und die am 5. Dezember 1985 geborene Zweitbeschwerdeführerin sind irakische Staatsangehörige und miteinander verheiratet. Die Beschwerdeführer gehören der arabischen Volksgruppe an, bekennen sich zum sunnitischen Islam und stammen aus Mossul. Sie stellten am 1. Jänner 2016 nach Einreise in das Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz. Begründend stützten sie sich darauf, dass sie als arabische Sunniten im Irak sowohl durch den Islamischen Staat (IS) als auch durch die schiitischen Milizen besonders gefährdet seien.

2. Mit Bescheiden vom 2. Jänner 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: BFA) die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz gemäß §3 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG 2005 ab; ebenso wurden die Anträge auf Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten gemäß §8 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG 2005 in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak abgewiesen. Weiters wurden Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §57 AsylG 2005 nicht erteilt, gemäß §10 Abs1 Z3 AsylG 2005 iVm §9 BFA VG Rückkehrentscheidungen gemäß §52 Abs2 Z2 FPG erlassen und gemäß §52 Abs9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung in den Irak gemäß §46 FPG zulässig sei. Zudem wurde gemäß §55 Abs1 bis 3 FPG eine 14 tägige Frist zur freiwilligen Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen gesetzt.

3. Auf Grund einer Beschwerde der Beschwerdeführer wurden diese Bescheide des BFA mit zwei Beschlüssen des Bundesverwaltungsgerichtes vom 18. April 2018 gemäß §28 Abs3 VwGVG aufgehoben und die Angelegenheit an das BFA zurückverwiesen.

4. Mit Bescheiden des BFA vom 16. Oktober 2018 wurde erneut gleichlautend über die Anträge entschieden.

5. Die gegen diese Bescheide erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht ─ nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung ─ mit Erkenntnis vom 7. April 2021 als unbegründet ab.

5.1. Die Beschwerdeführer hätten kein asylrelevantes Vorbringen erstattet, zumal sie angegeben hätten, den Irak lediglich auf Grund der allgemeinen schlechten Sicherheitslage im Land verlassen zu haben. Eine konkrete Bedrohungssituation hätten sie hingegen nicht vorgebracht. Die Beschwerdeführer gehörten keiner Personengruppe mit speziellem Risikoprofil an, weshalb eine Rückkehr möglich und zumutbar sei.

5.2. Die Beschwerdeführer seien zudem nicht lebensbedrohlich erkrankt und gehörten keiner Risikogruppe für einen schweren Verlauf einer Covid 19-Erkrankung an. Der Erstbeschwerdeführer habe sich im Jahr 2016 bei einem Fahrradunfall im österreichischen Bundesgebiet eine Schienbeinkopffraktur zugezogen, die mittels Verplattung operativ versorgt worden sei. Er gehe nunmehr gelegentlich zur Physiotherapie. Daneben habe er einen Bandscheibenvorfall gehabt und trage einen Stützgürtel. Die Zweitbeschwerdeführerin leide an einer posttraumatischen Belastungsstörung.

6. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, insbesondere im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander gemäß ArtI Abs1 BVG BGBl 390/1973 und auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art8 EMRK, behauptet und die Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.

Begründend wird dazu im Wesentlichen ausgeführt, dass das Bundesverwaltungsgericht jegliche Ermittlungen betreffend die aktuelle Situation im Irak, auch konkret in Bezug auf die Identität der Beschwerdeführer als sunnitische Araber und ihre Rückkehrmöglichkeiten, unterlassen habe. Zudem seien die herangezogenen Länderberichte vor dem Hintergrund der volatilen Sicherheitslage nicht ausreichend aktuell gewesen. Weiters sei eine Rückkehr vor dem Hintergrund des Gesundheitszustandes der Zweitbeschwerdeführerin unzumutbar.

7. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift jedoch Abstand genommen.

II. Erwägungen

1. Die ─ zulässige ─ Beschwerde ist begründet.

2. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungs-sphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechts-lage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

3. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

3.1. Nach den Erwägungen des United Nations High Commissioner for Refugees (im Folgenden: UNHCR) vom Mai 2019 zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen, besteht für Personen, die verdächtigt werden, den IS zu unterstützen, ein besonderes Risikoprofil. Dazu zählen "Personen mit überwiegend sunnitisch-arabischer Identität, und zwar vornehmlich [...] Männer und Jungen im kampffähigen Alter aus Gebieten, die zuvor von ISIS besetzt waren", sowie "Familien und insbesondere Frauen und Kinder, die mit tatsächlichen oder vermeintlichen ISIS-Mitgliedern verbunden sind" (UNHCR-Erwägungen, S 69 ff.). Die "Männer und Jungen im kampffähigen Alter aus Gebieten, die zuvor von ISIS besetzt waren," werden "kollektiv verdächtigt, mit ISIS verbunden zu sein oder ISIS zu unterstützen" (UNHCR-Erwägungen, S 69). Mit solchen Personen verbundene Familienangehörige sind auf Grund ihrer Verwandtschafts- oder Stammesbeziehungen unterschiedlichen Menschenrechtsverletzungen und Missbräuchen durch lokale Behörden, die Irakischen Sicherheitskräfte (ISF) und damit verbundene Gruppen, lokale Milizen sowie Mitglieder der Stämme und Gemeinschaften, denen diese Familien angehören, ausgesetzt (UNHCR-Erwägungen, S 72).

Angehörige dieser beiden Personengruppen benötigten nach Auffassung des UNHCR "wahrscheinlich internationalen Flüchtlingsschutz" (UNHCR-Erwägungen, S 77), was auf Grund der besonderen Umstände des jeweiligen Falles individuell geprüft werden müsse (siehe zur ähnlichen Berichtslage auch die Country Guidance: Iraq des European Asylum Support Office [EASO] von Jänner 2021, S 64 ff.).

Hat der Beschwerdeführer ein substantiiertes Vorbringen erstattet, dass er auf Grund dieses besonderen Risikoprofils individuell bei einer Rückkehr der Gefahr der Verfolgung ausgesetzt sein werde, und nicht bloß auf die Zugehörigkeit zur Personengruppe mit diesem Risikoprofil entsprechend den UNHCR-Erwägungen verwiesen, also auf allgemeine Behauptungen einer Verfolgungssituation, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen auffindbar ist (vgl VwGH 10.8.2018, Ra 2018/20/0314; 21.12.2020, Ra 2020/14/0445), dann hat das Bundesverwaltungsgericht eine Prüfung der besonderen Umstände des Falles durchzuführen, sich also mit der individuellen Situation des Beschwerdeführers bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat in Bezug auf das dargestellte besondere Risikoprofil auseinanderzusetzen.

3.2. Die Beschwerdeführer begründeten ihre Anträge auf internationalen Schutz ua damit, dass der Erstbeschwerdeführer von Mitgliedern des IS bedroht und verfolgt worden sei und mit der Zweitbeschwerdeführerin habe flüchten müssen. Da Mitglieder des IS sein Lebensmittelgeschäft und sein Auto beschlagnahmt hätten, würden die nunmehr in Mossul vorherrschenden Milizen dies als Unterstützung des IS erachten und ihn beschuldigen, selbst ein IS Mitglied zu sein.

3.3. Das Bundesverwaltungsgericht stellte fest, dass die Beschwerdeführer sunnitische Araber seien, die den Irak aber nicht auf Grund einer Verfolgung durch den IS oder durch schiitische Milizen verlassen hätten. Sie seien im Irak nicht auf Grund ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung verfolgt worden und würden nach einer Rückkehr auch nicht verfolgt werden.

Das Bundesverwaltungsgericht geht in seiner Entscheidung hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten also davon aus, dass die von den Beschwerdeführern geschilderte Bedrohung durch den IS oder schiitischer Milizen nicht vorliege. Aus den Länderberichten ergebe sich zwar, dass Sunniten oftmals einzig auf Grund ihrer Glaubensrichtung als IS Sympathisanten stigmatisiert oder gar strafrechtlich verfolgt würden, allerdings hätten die Beschwerdeführer eine diesbezügliche Verfolgung nicht glaubhaft machen können, zumal ihre Angaben vage und im Hinblick auf den chronologischen Ablauf der Geschehnisse sowie auf die Schilderung betreffend die Begegnung mit Mitgliedern des IS oftmals widersprüchlich gewesen seien. Es sei ihnen zudem möglich gewesen, legal per Flugzeug auszureisen, und sie hätten zuvor auch ungehindert von Mossul nach Kirkuk, Suleymania und Bagdad übersiedeln können. Zudem seien die Beschwerdeführer ihren eigenen Behauptungen zufolge bis knapp zwei Monate nach dem behaupteten Vorfall Anfang August ohne weitere Vorfälle – sei es mit dem IS, sei es mit den irakischen Behörden – noch im Irak aufhältig gewesen.

Betreffend die sunnitische Religionszugehörigkeit der Beschwerdeführer führt das Bundesverwaltungsgericht auf den Seiten 28 ff. des angefochtenen Erkenntnisses aus, dass sich "entsprechend de[n] herangezogenen Länderberichte[n] und aktuellen Medienberichte[n] die Situation für sunnitische Araber nicht derart gestaltet, dass von Amts wegen aufzugreifende Anhaltspunkte dafür existieren, dass diese gegenwärtig im Irak generell mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit allein aufgrund ihrer Volks- oder Religionszugehörigkeit einer eine maßgebliche Intensität erreichenden Verfolgung ausgesetzt bzw staatlichen Repressionen unterworfen sein würden." Weiters könne aus den länderkundlichen Feststellungen zur Lage im Irak nicht abgeleitet werden, dass im Irak eine generelle und systematische Verfolgung von Arabern sunnitischer Glaubensrichtung stattfinde. Außerdem gehörten die Beschwerdeführer keiner Personengruppe mit speziellem Risikoprofil an, weshalb sich kein zu berücksichtigender Sachverhalt ergebe, der zur Unzulässigkeit der Abschiebung, Zurückschiebung oder Zurückweisung in den Herkunftsstaat führen könnte. Schließlich führt das Bundesverwaltungsgericht an, dass der UNHCR die Ansicht vertrete, dass arabisch-sunnitische, kinderlose Paare im arbeitsfähigen Alter in der Lage seien, in Bagdad auch ohne Unterstützung durch ihre Familie bzw ihren Stamm zu bestehen. Den Beschwerdeführern sei daher jedenfalls eine Rückkehr nach Bagdad zumutbar.

Das Bundesverwaltungsgericht verneint damit eine asylrelevante Verfolgung der Beschwerdeführer, ohne zu berücksichtigen, dass nach den UNHCR-Erwägungen für den aus einem ehemals vom IS besetzten Gebiet stammenden Erstbeschwerdeführer im wehrfähigen Alter und für die Zweitbeschwerdeführerin als dessen Ehefrau ein besonderes Risikoprofil besteht. Damit unterlässt es das Bundesverwaltungsgericht aber, sich mit der individuellen Situation der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat, die ausführlich als Fluchtgrund vorgebracht wurde, im Lichte dieses besonderen Risikoprofils der Beschwerdeführer auseinanderzusetzen (vgl VfGH 8.6.2021, E149/2021 ua; 7.10.2021, E2372/2021 ua).

3.4. Indem das Bundesverwaltungsgericht den Umstand unberücksichtigt lässt, dass die Beschwerdeführer dem in den erwähnten Länderberichten beschriebenen besonderen Risikoprofil entsprechen und dazu ein substantiiertes Vorbringen erstattet haben, hat es die Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt unterlassen und daher sein Erkenntnis mit Willkür belastet (vgl VfGH 6.10.2020, E1728/2020; 30.11.2021, E3540/2020).

III. Ergebnis

1. Die Beschwerdeführer sind somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) verletzt worden.

2. Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten sind ein Streitgenossenzuschlag in der Höhe von € 218,– sowie Umsatzsteuer in Höhe von € 479,60 enthalten. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil die Beschwerdeführer Verfahrenshilfe im Umfang des §64 Abs1 Z1 lita ZPO genießen.

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