JudikaturVfGH

E139/2022 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung

Entscheidung
18. März 2022

Spruch

I. 1. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit seine Beschwerde gegen die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten, gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung und gegen den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat Afghanistan unter Setzung einer zweiwöchigen Frist für die freiwillige Ausreise abgewiesen wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Leben gemäß Art2 EMRK sowie im Recht gemäß Art3 EMRK, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden, verletzt worden.

Das Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.

2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger sunnitischen Glaubens, gehört der Volksgruppe der Paschtunen an und stammt aus dem Dorf Sherkhel, im Distrikt Tagab, in der Provinz Kapisa. Am 19. Oktober 2020 stellte er in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz. Diesen Antrag wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl mit Bescheid vom 11. April 2021 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung, stellte die Zulässigkeit der Abschiebung nach Afghanistan fest und setzte eine zweiwöchige Frist für die freiwillige Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.

2. Mit Erkenntnis vom 22. Dezember 2021 wies das Bundesverwaltungsgericht die vom Beschwerdeführer gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl erhobene Beschwerde als unbegründet ab und führt in der Beweiswürdigung unter der Rubrik "Zu einer Rückkehr des BF in seinen Herkunftsstaat" ua wörtlich Folgendes aus (Wiedergabe ohne die im Original enthaltenen Hervorhebungen):

"[…] Zur jüngsten Machtübernahme der Taliban ist festzuhalten, dass das BVwG allein aufgrund dieses Umstandes keinen Grund für eine de facto automatische Unzulässigkeit der Rückkehrentscheidung zu erkennen vermag. Das trifft umso mehr auf jene – dem gegenständlichen Sachverhalt vergleichbare – Konstellationen zu, in denen BF über Schul- und Berufserfahrung sowie […] familiäre Anknüpfungspunkte in Afghanistan verfügen.

[…]

Hinzu kommt, dass sich die allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan insofern geändert hat, als die von den Taliban verübten Anschläge und Übergriffe nicht mehr (jedenfalls nicht mehr in dieser Intensität) vorkommen, weil sie ihr Ziel, nämlich die Machtübernahme, erreicht haben. Im Gegensatz zur Lage vor ihrer Machtübernahme, wo sie selbst (als 'Täter') jahrelang die politische Lage, insbesondere durch Selbstmordanschläge, zu destabilisieren versuchten, scheinen die Taliban – als nunmehrige Regierungsverantwortliche – bemüht, auch entschlossen gegen terroristische Netzwerke, wie insbesondere den IS, vorzugehen (vgl Tagesschau 04.10.2021: 'Taliban attackieren IS-Kämpfer in Kabul', https://www.tagesschau.de/ausland/afghanistan/taliban-angriff-is-101.html bzw ORF 04.10.2021: 'Taliban: Haben IS-Zelle in Kabul zerschlagen', https://orf.at/stories/3231043/).

Ferner kann aus dem EASO Bericht aus November 2021 zwar entnommen werden, dass es laut der Kartierung des Long WarJournals in 15 Distrikten in Panjshir, Baghlan, Parwan, Kapisa, Wardak und Takhar Guerilla-Aktivitäten gab (stand 01.10.2021), jedoch befindet sich der Heimatdistrikt des BF vollständig unter Taliban-Kontrolle. Im Heimatdistrikt des BF wurden keine Guerilla-Aktivitäten verzeichnet […].

[…] Das BVwG verkennt ferner nicht, dass die allgemeine Versorgungslage in Afghanistan bereits vor der Machtübernahme der Taliban sehr angespannt war. Diese angespannte Lage hat sich durch die Machtübernahme der Taliban insofern noch verstärkt, als beispielsweise der Internationale Währungsfonds (IWF) Afghanistan – nach der Eroberung Kabuls durch die Taliban – den Zugang zu seinen Mitteln verwehrt hat […].

[…]

Das BVwG verkennt weiters nicht, dass das aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu den Themenbereichen 'Wohnungsmarkt und Lebenserhaltungskosten' bzw 'Arbeitsmarkt' ausdrücklich darauf hinweist, dass die möglichen Auswirkungen durch die Machtübernahme der Taliban noch nicht abgesehen werden können, womit aber eine Verschlechterung der allgemeinen Versorgungslage in Afghanistan in näherer Zukunft nicht auszuschließen ist. Daraus jedoch den Schluss zu ziehen, dass durch die Machtübernahme der Taliban die Grund- und Versorgungslage in ganz Afghanistan von heute auf morgen jedenfalls 'einbrechen' wird, erscheint dem BVwG nicht zulässig. Dies erhellt sich schon aufgrund pragmatischer Erwägungen, wonach die Taliban auf gefestigte Strukturen, welche die Vorgängerregierung geschaffen hat, aufbauen werden (müssen). Somit sind aber auch die unter dem Kapitel 'Grundversorgung und Wirtschaft' enthaltenen Länderberichte, die zwangsläufig noch die Versorgungslage in Afghanistan vor der Machtübernahme der Taliban schildern, nach wie vor aktuell. Derzeit ist somit die Versorgungslage jedenfalls noch so weit aufrecht, dass die existenziellen Grundbedürfnisse vom größten Teil der Bevölkerung gedeckt werden können. Im gegenständlichen Fall kommt hinzu, dass sich die gesamten Familienangehörige[n] des BF in Afghanistan, konkret im Heimatdorf, aufhalten und sich – wie der Rest der Bevölkerung – ihren Lebensstandard sichern müssen. Warum es dann aber ausgerechnet dem BF – als offenbar einzigem von der gesamten Familie – nicht möglich sein sollte, nach Afghanistan zurückzukehren und dort wieder zu leben, erschließt sich für das BVwG nicht."

In der rechtlichen Beurteilung führt das Bundesverwaltungsgericht unter der Rubrik "Zur Nichtzuerkennung von subsidiärem Schutz im Fall des BF" ua wörtlich Folgendes aus (Wiedergabe ohne die im Original enthaltenen Hervorhebungen):

"Beim BF ist daher zunächst eine Rückkehr in seinen Herkunftsort zu prüfen. Dazu wurde bereits in der Beweiswürdigung ausgeführt, dass die Sicherheitslage dort einer Rückkehr nicht entgegensteht. Weiters ist auszuführen, dass die Taliban zwar die Macht in Afghanistan seit Mitte August 2021 übernommen haben. Seit der Machtübernahme sind jedoch sowohl die Zahl der Anschläge als auch die Zahl der zivilen Opfer deutlich zurückgegangen […]. Dabei wird nicht verkannt, dass der ISKIP vereinzelt terroristische Anschläge verübt, welche sich derzeit hauptsächlich gegen die Taliban oder allenfalls gegen Schiiten richten. Jedoch ist der Aktionsradius des ISKP in Afghanistan durchaus beschränkt und es sind keine Berichte über größere Anschläge in der Heimatregion des BF bekannt.

Durch die Machtübernahme der Taliban hat sich die Sicherheitslage zwar für einige Gruppen, insbesondere die der Frauen oder der Menschenrechtsaktivisten, verschlechtert. Der BF ist aber nicht dazu zu zählen. Vielmehr ist der BF selbst gläubiger Sunnit und gehört damit der Mehrheitsreligionsgemeinschaft in Afghanistan, der auch die Taliban in überwiegender Mehrheit angehören, an. Der BF ist nie gegen die Taliban in eigendeiner Weise aufgetreten oder Verhaltensweisen angenommen, die jenen der Taliban entgegenstünden. Der BF wird bei einer Rückkehr entsprechend den ihm bestens bekannten religiösen und gesellschaftlichen Gepflogenheiten leben, die Moschee besuchen und etwa auch fasten. Der BF gehört damit einer Gruppe an, die von den Taliban keine gezielten Repressionen zu befürchten hat. Als Paschtune gehört der BF auch keiner eth[n]ischen Minderheit an. Der BF ist auch bereits unter den Taliban aufgewachsen, da diese vor seiner Ausreise nach Europa in seiner Heimatregion aktiv und präsent gewesen sind, weswegen er weiß, wie er sich unter deren Herrschaft zu verhalten hat. Der BF kann ferner durch den Kontakt mit seiner Familie auch bereits vor seiner Rückkehr über die aktuelle Sicherheitslage informiert werden und seine Anreise dementsprechend planen und vorbereiten. Hierbei wird ihm sein eigenes soziales Netzwerk, aber auch jenes seiner Familie und Freunde zur Verfügung stehen. Die Region ist auch sicher erreichbar, zumal der Flughafen Kabul wieder international angeflogen wird. Auch die Weiterreise in die Heimatregion ist über den Landweg möglich. Vom Flughafen kann der BF von seiner Familie abgeholt werden. Die Sicherheitslage steht daher einer Rückkehr nicht entgegen.

Auch die Versorgungslage begründet derzeit im Fall des BF keine reale Gefahr der Verletzung von Art2, 3 EMRK (siehe EASO November 2021, S. 104f). Dabei verkennt das BVwG nicht, dass die wirtschaftliche Situation in Afghanistan aufgrund verschiedener Umstände (Dürre, Lebensmittelunsicherheit, Aussetzung ausländischer Hilfsgelder) höchst angespannt ist. Wie bereits in der Beweiswürdigung näher dargelegt, ist aus den Bericht im Fall des BF nicht davon auszugehen, dass er seine Grundversorgung nicht mehr bestreiten können wird. Im konkreten Fall ist nämlich zu beachten, dass der BF zu seiner Familie zurückkehren und dort wohnen kann, die Familie verfügt über ein Haus im Heimatdorf und zudem über landwirtschaftlich bewirtschaftete Grundstücke sowie eine Granatapfelplantage. Durch die Landwirtschaft ist die Ernährung des BF jedenfalls sichergestellt. Ferner ist die Familie des BF wirtschaftlich jedenfalls so weit abgesichert, dass sie ihre existenziellen Bedürfnisse decken kann. Die Heimatprovinz des BF ist im Vergleich zu anderen Provinzen nicht besonders von der Dürre oder der Ernährungssicherheit betroffen (siehe Afghanistan I Famine Early Warning Systems Network (fews.net), Zugriff am 16.12.2021). Der BF kann zudem in seinem Heimatdorf auch durch seine Netzwerke wieder eine Arbeit finden. Selbst wenn der BF keine Arbeit in Afghanistan finden sollte, wird er seine Grundbedürfnisse für längere Zeit decken können, zumal ihm die Unterstützung seiner Familie zugutekommen wird.

[…]

Der Vollständigkeit halber ist darauf hinzuweisen, dass dem BVwG bewusst ist, dass es der UNHCR noch im August 2021 – aufgrund der damaligen volatilen Lage in Afghanistan – als nicht angemessen erachtete, internationalen Schutz auf Grundlage einer innerstaatlichen Fluchtalternative zu verweigern. Ebenso verkennt es die jüngst ergangenen Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes, in denen Erkenntnisse des BVwG im Hinblick auf die Nichtgewährung des subsidiären Schutzes aus dem Grund aufgehoben wurden, dass zum Zeitpunkt der jeweiligen Entscheidungen des BVwG von einer 'extremen Volatilität' der Sicherheitslage in Afghanistan auszugehen war, sodass jedenfalls eine Situation vorlag, die den Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan einer realen Gefahr einer Verletzung seiner verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte gemäß Art2 und 3 EMRK ausgesetzt hätte (vgl VfGH 24.09.2021, E3047/2021 und VfGH 30.09.2021, E3445/2021). Jedoch sind sowohl die Stellungnahme des UNHCR als auch die Ausführungen des Verfassungsgerichtshofes in den zitierten Erkenntnissen im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit den Kampfhandlungen vom Juli beziehungsweise August 2021 ergangen und daher im gegenwärtigen Zeitpunkt schon wieder als 'überholt' zu betrachten, zumal sich die Sicherheitslage jedenfalls insofern beruhigt hat, als keine Kampfhandlungen mehr stattfinden und selbst die Führer der Hazara in Gespräche mit den Taliban eingetreten sind. In gleicher Weise nicht mehr aktuell ist auch die Entscheidung des EGMR vom 02.08.2021 zu qualifizieren, in der der EGMR im Fall R.A. gegen Österreich mittels vorläufiger Maßnahme die Abschiebung eines afghanischen Asylwerbers bis 31.08.2021 aussetzte. Die Lage ist nicht mehr derart volatil, wie sie die Gerichte noch vor Augen hatten. Die Abweisung des internationalen Schutzes gründet zudem auch nicht auf der Verweisung auf eine innerstaatliche Fluchtalternative, sodass die Empfehlung des UNCHR auch nicht unmittelbar anwendbar ist.

Auch die Country Guidance des EASO aus November 2021 steht der gegenständlichen Entscheidung nicht entgegen. Dort wird zwar ausgeführt, dass eine innerstaatliche Fluchtalternative in Afghanistan derzeit nicht verfügbar sei (S. 36), eine solche zieht das BVwG hier allerdings auch keineswegs in Betracht. Vielmehr prüft es eine Rückkehr in die Heimatregion des BF, für die aber andere rechtliche Vorgaben gelten, wie oben bereits festgehalten wurde (siehe auch EASO November 2021, S. 118), insbesondere, weil der BF dort auf das bestehende familiäre und soziale Netzwerk vertrauen kann. Das EASO legt auch dar, dass die Situation in Afghanistan zum Zeitpunkt des Verfassens des Berichts nach wie vor volatil sei, was eine abschließende Bewertung schwierig mache. Das wird auch vom BVwG keineswegs verkannt, dennoch liegt nicht mehr eine derartige Volatilität vor, wie sie der Verfassungsgerichtshof bei seinen Entscheidungen im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit dem Vormarsch der Taliban und der Übernahme ganz Afghanistans vor Augen hatte. Die Situation in Afghanistan ist zwar daher durchaus nach wie vor volatil, allerdings nicht mehr in dieser Intensität. Aufgrund der Volatilität und wirtschaftlich unsicheren Lage wird der BF auch gerade nicht auf Fluchtalternativen verwiesen, sondern es wurde ausschließlich geprüft, ob er zu seiner Familie heimkehren kann, welche Situation er dort vorfinden wird und ob seine Grundbedürfnisse dort gestillt werden können.

Das EASO führt auch aus, dass folgende Punkte bei den Entscheidungen berücksichtigt werden sollten: Die begrenzte Verfügbarkeit von verlässlichen Informationen beziehungsweise deren Widersprüchlichkeit und die Unterberichterstattung aus verschiedenen Landesteilen Afghanistans; die Ungewissheit der Vorhersehbarkeit des Handelns der Taliban und die verbesserten Fähigkeiten der Taliban in Bezug auf eine Verfolgung; die Berücksichtigung des künftigen Risikos willkürlicher Gewalt im in Betracht kommenden Teil des Landes, aber auch im gesamten Land unter Berücksichtigung der aktuellsten Informationen (S. 43). Das EASO berücksichtigt dabei nur die Berichtslage bis Ende August 2021 (S. 106). Die gegenständliche Entscheidung berücksichtigt dagegen entsprechend der höchstgerichtlichen Vorgaben Berichte bis zum Tag der Entscheidung. Das EASO hält auch fest, dass bei Personen, die nicht unter die Personengruppe fallen, die Asyl benötigt, eine individuelle Einzelfallprüfung nötig ist (S. 118). Das EASO geht daher offensichtlich nicht davon aus, dass jedem Afghanen subsidiärer Schutz zu gewähren ist. Es legt dann dar, dass dabei das Alter, das Geschlecht, die gesundheitliche Situation des BF, die ökonomische Situation, das Wissen über das Gebiet und der Beruf (S. 119) zu berücksichtigen sind. Eine umfassende Beurteilung dieser Umstände zeigt, wie oben näher dargelegt, beim BF, dass für ihn keine Vulnerabilitäten vorliegen und er in den sicheren Kreis seiner Familie zurückkehren kann, deren Versorgung gesichert ist und die für ihn ohne Risiko gut erreichbar ist, weshalb eine reale Gefahr einer Verletzung der in §8 AsylG genannten Rechte nicht vorliegt.

Eine Berücksichtigung dieser Punkte führt daher beim BF nicht zum Ergebnis, dass ihm subsidiärer Schutz zu erteilen wäre. Es ist richtig, dass nur begrenzt Berichte verfügbar sind und von einer Unterberichterstattung aus verschiedenen Landesteilen Afghanistans auszugehen ist, Kapisa ist dazu allerdings nicht zu zählen. Wie oben bereits des Näheren dargelegt, ergibt sich aus diesen Berichten in Zusammenschau mit der persönlichen Situation des BF keine Gefährdung des BF. Dabei wurde selbstverständlich auch die Unvorhersehbarkeit des weiteren Handelns der Taliban beachtet. Es kann aber nicht davon ausgegangen werden, dass die Taliban gegenüber der gläubigen sunnitischen Mehrheitsbevölkerung, die auch nicht gegen die Taliban auftritt, irgendwelche Repressionshandlungen setzen würden. Ansonsten müssten sie gegen die gesamte Zivilbevölkerung Afghanistans vorgehen, was aber nicht nur nicht in ihrem Interesse liegen kann, sondern auch organisatorisch von ihnen nicht zu bewältigen und schlicht nicht annähernd plausibel ist. Für die normale Zivilbevölkerung, die den Sunniten angehört und die nicht gegen die Taliban protestieren oder sonst in irgendeiner Weise gegen sie auftreten, wie etwa beim BF, ist daher die Vorhersehbarkeit (gerade noch) verlässlich gegeben. Es ist daher auch nicht von einer zukünftigen willkürlichen Gewalt auszugehen. Auch sind keine Hinweise in diese Richtung ersichtlich, dass sich dort bewaffneter Widerstand etablieren würde."

3. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.

4. Der Verfassungsgerichtshof führte zu dieser Beschwerde im Hinblick auf §19 Abs3 Z4 VfGG kein weiteres Verfahren durch.

II. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist, soweit sie sich gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan, die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung sowie die Festsetzung einer zweiwöchigen Frist für die freiwillige Ausreise richtet, begründet:

2. Das gemäß Art2 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Leben wird durch ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes verletzt, wenn es auf einer Art2 EMRK widersprechenden Rechtsgrundlage oder auf einer diesem Grundrecht widersprechenden Auslegung des Gesetzes beruht sowie auch bei groben Verfahrensfehlern. In gleicher Weise verletzt ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes das gemäß Art3 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden, wenn eine Entscheidung des Verwaltungsgerichtes in Anwendung eines der genannten Verfassungsvorschrift widersprechenden Gesetzes ergangen ist, wenn sie auf einer dem genannten Grundrecht widersprechenden Auslegung des Gesetzes beruht oder wenn dem Verwaltungsgericht grobe Verfahrensfehler unterlaufen sind (vgl VfSlg 13.897/1994, 15.026/1997, 15.372/1998, 16.384/2001, 17.586/2005).

3. Der Verfassungsgerichtshof geht – in Zusammenhang mit Art3 EMRK – in Übereinstimmung mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (s etwa EGMR 7.7.1989, Fall Soering, EuGRZ1989, 314 [319]; 30.10.1991, Fall Vilvarajah ua, ÖJZ1992, 309 [309]; 6.3.2001, Fall Hilal, ÖJZ2002, 436 [436 f.]) davon aus, dass die Entscheidung eines Vertragsstaates, einen Fremden in welcher Form immer außer Landes zu schaffen, unter dem Blickwinkel des Art3 EMRK erheblich werden und demnach die Verantwortlichkeit des Staates nach der EMRK begründen kann, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme glaubhaft gemacht worden sind, dass der Fremde konkret Gefahr liefe, in dem Land, in das er gebracht werden soll, Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden (vgl VfSlg 13.314/1992, 13.837/1994, 14.119/1995, 14.998/1997). Nichts anderes ist im Hinblick auf Art2 EMRK anzunehmen, wenn dem Fremden im Zielland mit hoher Wahrscheinlichkeit die Tötung droht (s etwa EGMR 8.11.2005, Fall Bader ua, NLMR 2005/6, 273 [274]; 23.3.2016 [GK], Fall F.G., NLMR 2016/2, 105 [105 f.]).

Bei der verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit der Rechtsgrundlagen des angefochtenen Erkenntnisses könnte das Bundesverwaltungsgericht den Beschwerdeführer in den gemäß Art2 und 3 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten unter anderem verletzen, wenn das Erkenntnis auf einer den genannten Grundrechten widersprechenden Auslegung des Gesetzes beruht.

4. Das Bundesverwaltungsgericht hat bei seiner Entscheidung hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten eine Art2 und 3 EMRK zuwiderlaufende Anwendung des §8 Abs1 AsylG 2005 vorgenommen:

4.1. Gemäß §8 Abs1 AsylG 2005 ist einem Fremden, dessen Antrag auf internationalen Schutz in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird, der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art2 oder 3 EMRK oder des 6. oder 13. ZPEMRK bedeuten oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

4.2. Das Bundesverwaltungsgericht stellt in seinem Erkenntnis vom 22. Dezember 2021 fest, dass dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in sein Heimatdorf Sherkhel in der Provinz Kapisa mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit kein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen würde. Diese Feststellung versucht das Bundesverwaltungsgericht auf das Wesentliche zusammengefasst damit zu begründen, dass sich die Sicherheitslage im Herkunftsstaat wieder beruhigt habe. Dies sei etwa insofern der Fall, "als die von den Taliban verübten Anschläge und Übergriffe nicht mehr (jedenfalls nicht mehr in dieser Intensität) vorkommen, weil sie ihr Ziel, nämlich die Machtübernahme, erreicht haben" und außerdem "keine Kampfhandlungen mehr stattfinden und selbst die Führer der Hazara in Gespräche mit den Taliban eingetreten sind". Der Beschwerdeführer könne mit finanzieller und organisatorischer Unterstützung durch Familienangehörige, die im Heimatdorf des Beschwerdeführers in der Provinz Kapisa lebten und keine finanziellen Probleme hätten, rechnen. Trotz einer nicht auszuschließenden Verschlechterung der allgemeinen Versorgungslage würden "die Taliban" auf "gefestigte" Versorgungsstrukturen "schon aufgrund pragmatischer Erwägungen […] aufbauen […] (müssen)". Länderberichte, die die Versorgungslage "vor der Machtübernahme der Taliban" schilderten, seien daher nach wie vor aktuell.

4.3. Nach Auffassung des Verfassungsgerichtshofes ist insbesondere auf Grund der Kurzinformation der Staatendokumentation vom 19. Juli 2021 spätestens ab 20. Juli 2021 von einer extremen Volatilität der Sicherheitslage in Afghanistan auszugehen, sodass jedenfalls eine Situation vorliegt, in der Rückkehrer nach Afghanistan einer realen Gefahr einer Verletzung ihrer verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte gemäß Art2 und 3 EMRK ausgesetzt wären (vgl VfGH 30.9.2021, E3445/2021). Angesichts der im Entscheidungszeitpunkt vorliegenden sowie der aktuellen Berichtslage, wonach die Lage in Afghanistan (nach wie vor) volatil bleibe (vgl zB das in der Entscheidung behandelte Update der EASO Country Guidance Afghanistan aus November 2021 sowie die in der Entscheidung herangezogene Länderinformation der Staatendokumentation zu Afghanistan [Version 5] vom September 2021; zur aktuellen Situation vgl die UNHCR Leitlinien zum internationalen Schutzbedarf von Personen, die aus Afghanistan fliehen vom Februar 2022), sieht sich der Verfassungsgerichtshof nicht veranlasst, von dieser Auffassung abzugehen (vgl VfGH 16.3.2022, E273/2022).

4.4. Auch die Einschätzung des Bundesverwaltungsgerichtes in Bezug auf die Versorgungslage in Afghanistan ist für den Verfassungsgerichtshof mit Blick auf die aktuelle Berichtslage nicht nachvollziehbar (vgl zB schon das Situation Update von UNHCR zur "Afghanistan situation: Emergency preparedness and response in Iran" vom 15. Dezember 2021, wonach sich die wirtschaftliche und humanitäre Lage in Afghanistan weiter verschlechtert habe).

4.5. Indem das Bundesverwaltungsgericht unzutreffend von einer im Hinblick auf Art2 und 3 EMRK zulässigen Rückkehrsituation des Beschwerdeführers ausgegangen ist, verstößt die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes, soweit sie sich auf die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und – daran anknüpfend – die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, die Erlassung einer Rückkehrentscheidung und den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat Afghanistan unter Setzung einer zweiwöchigen Frist für die freiwillige Ausreise bezieht, gegen das Recht auf Leben gemäß Art2 EMRK, ferner darauf, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden (Art3 EMRK), und ist insoweit aufzuheben.

5. Die Behandlung der Beschwerde wird im Übrigen, soweit damit die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten bekämpft wird, aus folgenden Gründen abgelehnt:

Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat oder von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B VG). Eine solche Klärung ist dann nicht zu erwarten, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.

Der Beschwerdeführer behauptet die Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art6 EMRK. Das Asylverfahren ist jedoch nicht von Art6 EMRK erfasst (vgl VfSlg 13.831/1994).

Die im Übrigen gerügten Rechtsverletzungen wären im vorliegenden Fall nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beurteilung der aufgeworfenen Fragen, insbesondere der Frage, ob das Ermittlungsverfahren in jeder Hinsicht rechtmäßig war, insoweit nicht anzustellen.

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit seine Beschwerde gegen die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten, gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung und gegen den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat Afghanistan unter Setzung einer zweiwöchigen Frist für die freiwillige Ausreise abgewiesen wurde, in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf Leben sowie darauf, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden, verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher in diesem Umfang aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2. Im Übrigen wird von der Behandlung der Beschwerde abgesehen.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs3 Z4 bzw §19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– enthalten. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil der Beschwerdeführer Verfahrenshilfe (auch) im Umfang des §64 Abs1 Z1 lita ZPO genießt.

5. Damit erübrigt sich ein Abspruch über den Antrag, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.

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