G216/2021 ua – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung
Spruch
Die Behandlung des Antrages wird abgelehnt.
Begründung
1. Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung eines Antrages gemäß Art140 Abs1 Z1 litd B VG ablehnen, wenn er keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat (Art140 Abs1b B VG; vgl VfGH 24.2.2015, G13/2015).
2. Der Verfassungsgerichtshof hat sich in einem auf Antrag eingeleiteten Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes gemäß Art140 B VG auf die Erörterung der geltend gemachten Bedenken zu beschränken (vgl VfSlg 12.691/1991, 13.471/1993, 14.895/1997, 16.824/2003). Er hat sohin ausschließlich zu beurteilen, ob die angefochtene Bestimmung aus den in der Begründung des Antrages dargelegten Gründen verfassungswidrig ist (VfSlg 15.193/1998, 16.374/2001, 16.538/2002, 16.929/2003).
3. Der Antrag behauptet zunächst die Verfassungswidrigkeit der Wortfolge "und die kontradiktorische Vernehmung von Zeugen und Beschuldigten nach den Bestimmungen des §165 durchzuführen" in §104 StPO wegen Verletzung des Grundsatzes der Öffentlichkeit in Art6 Abs1 EMRK und Art90 Abs1 B VG, da die Aussage eines im Ermittlungsverfahren (§§91 ff StPO) kontradiktorisch einvernommenen Zeugen nicht öffentlich erfolge und diese auch nicht durch Verlesung des Protokolls seiner Einvernahme im Hauptverfahren (§§210 ff StPO) zu einer öffentlichen Aussage werde.
Aus Art90 Abs1 B VG und Art6 Abs1 EMRK folgt keineswegs, dass es generell unzulässig wäre, in einer öffentlichen Hauptverhandlung (§12 Abs1, §228 Abs1 StPO) Protokolle von Aussagen zu verwerten, etwa durch Verlesung (vgl §252 Abs1 StPO), die im vorangegangenen, nichtöffentlichen Ermittlungsverfahren (§12 Abs1 StPO) abgegeben wurden (vgl Kühne , IntKommEMRK, 2009, Art6 Rz 346; Schmoller , §12 StPO, in: Fuchs/Ratz [Hrsg.], Wiener Kommentar zur StPO, rdb.at, Stand 1.5.2012, Rz 44; EGMR 24.11.1986, Fall Unterpertinger , Appl 9120/80, Rz 31 f), zumal das Gericht im Strafverfahren bei der Urteilsfällung ohnehin nur auf das Rücksicht zu nehmen hat, was in der Hauptverhandlung vorgekommen ist (§12 Abs2, §258 Abs1 StPO), und Aktenstücke nur insoweit als Beweismittel dienen können, als sie bei der Hauptverhandlung vorgelesen oder vom Vorsitzenden vorgetragen (§252 Abs2a StPO) worden sind (§258 Abs1 StPO).
Allgemein gilt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, dass die Verwendung von im Vorverfahren erlangten Aussagen als Beweise mit Art6 Abs1 und Abs3 litd EMRK vereinbar ist, sofern die Verteidigungsrechte gewährleistet sind, insbesondere das Recht, den Zeugen angemessen und geeignet zu befragen (zB EGMR 20.11.1989, Fall Kostovski , Appl 11.454/85; 18.12.2014, Fall Scholer , Appl 14.212/10; vgl auch EGMR 15.12.2011 [GK], Fall Al Khawaja und Tahery , Appl 26.766/05 und 22.228/06; 10.1.2012, Fall Vulakh , Appl 33.468/03; 10.5.2012, Fall Aigner , Appl 28.328/03; vgl auch Bürger , Unmittelbarkeitsgrundsatz und kontradiktorische Beweisaufnahme, ZStW 128, 2016, 518).
4. Die Antragsteller bringen zudem vor, dass §165 StPO verfassungswidrig sei, da lediglich die Staatsanwaltschaft berechtigt ist, bei Gericht die kontradiktorische Vernehmung von Beschuldigten und Zeugen zu beantragen, und dem Beschuldigten in Bezug auf die Anordnung der kontradiktorischen Vernehmung weder ein Recht auf vorherige Anhörung noch ein Rechtsmittel zukomme.
Es ist verfassungsrechtlich unbedenklich, dass die Anordnung der kontradiktorischen Vernehmung als prozessleitende Verfügung nicht selbstständig anfechtbar ist (vgl etwa VfSlg 9425/1982; 10.944/1986; vgl auch VfSlg 11.680/1988), denn weder aus Art6 EMRK noch aus einer anderen Bestimmung der EMRK – mit Ausnahme des Art2 7. ZPEMRK im Falle strafgerichtlicher Verurteilungen – lässt sich die Notwendigkeit der Einrichtung eines Instanzenzuges gegen gerichtliche Entscheidungen ableiten ( Grabenwarter/Pabel , Europäische Menschenrechtskonvention 7 , 2021, §24 Rz 191; Breuer , Art13 EMRK, in: Karpenstein/Mayer [Hrsg.], EMRK 2 , 2015, Rz 28).
Dazu kommt, dass der Beschuldigte nach §49 Abs1 Z6 StPO im Ermittlungsverfahren das Recht hat, bei der Staatsanwaltschaft die Aufnahme von Beweisen gemäß §55 StPO zu beantragen. Es steht ihm daher auch frei, bei dieser die kontradiktorische Vernehmung von Zeugen nach §165 StPO zu beantragen. Es begegnet aber keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, dass nur die Staatsanwaltschaft berechtigt ist, bei Gericht die kontradiktorische Vernehmung von Beschuldigten und Zeugen zu beantragen, zumal sie zwar grundsätzlich das Ermittlungsverfahren leitet (§20 Abs1, §101 Abs1 StPO), in bestimmten Fällen aber das Gericht die Beweisaufnahme durchzuführen hat (vgl §104 StPO).
5. Die Antragsteller behaupten schließlich die Verfassungswidrigkeit des §156 Abs1 Z2 StPO, da diese Bestimmung das Fragerecht nach Art6 Abs3 EMRK beeinträchtige und es verunmögliche, einen kontradiktorisch einvernommenen Zeugen, der von seinem Aussagebefreiungsrecht nach §156 Abs1 Z2 StPO Gebrauch gemacht habe, auf Grund von neuen Beweisergebnissen neuerlich zu befragen.
Das Rechtsinstitut der kontradiktorischen Vernehmung gemäß §165 StPO gewährleistet, insbesondere mit Blick auf Art6 Abs1 und 3 litd EMRK, die Verteidigungs- und Fragerechte des Beschuldigten im Strafverfahren (ErlRV 924 BlgNR 18. GP, 32; Kirchbacher/Keglevic , §165 StPO, in: Fuchs/Ratz [Hrsg.], Wiener Kommentar zur StPO, rdb.at, Stand 1.3.2021, Rz 2 ff.; Urbanek, §165, in: Birklbauer et al [Hrsg.], Linzer Kommentar zur Strafprozessordnung, 2020, Rz 3). Richtig ist nun zwar, dass besonders schutzbedürftige Opfer (§66a StPO) gemäß §156 Abs1 Z2 StPO von der Pflicht zur Aussage befreit sind, wenn die Parteien Gelegenheit hatten, sich an einer vorausgegangenen kontradiktorischen Vernehmung zu beteiligen (§§165, 247 StPO). Für den Fall aber, dass nach einer solchen kontradiktorischen Vernehmung Umstände hervortreten, die den – im Schutz des Zeugen gelegenen – Entfall der Zeugnispflicht gegen das Verteidigungsinteresse an ergänzender Befragung (Art6 Abs3 litd EMRK) zurücktreten lassen, ist die ausnahmsweise ergänzende Vernehmung eines – an sich gemäß §156 Abs1 Z2 StPO von der Aussage befreiten – Zeugen zulässig (vgl zB OGH 23.4.2014, 15 Os 31/14v; 16.9.2021, 12 Os 86/21w).
6. Demgemäß wurde beschlossen, von einer Behandlung des – nicht auf das Vorliegen sämtlicher Formerfordernisse geprüften – Antrages abzusehen (§19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG).