E847/2021 ua – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung
Spruch
I. Die Beschwerdeführer sind durch die angefochtenen Erkenntnisse wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt worden.
Die Erkenntnisse werden aufgehoben.
II. Der Bund (Bundesministerin für Landwirtschaft, Regionen und Tourismus) ist schuldig, den Erst- und Zweitbeschwerdeführern zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 3.357,60 bestimmten Prozesskosten, den Dritt- bis Fünfundzwanzigstbeschwerdeführern zuhanden ihrer Rechtsvertreter die mit € 9.444,– bestimmten Prozesskosten und dem Sechsundzwanzigstbeschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerdeführer leisteten vom 1. Juli 2019 bis 31. März 2020 ihren ordentlichen Zivildienst. Mit Bescheiden der Zivildienstserviceagentur wurden sie infolge der Ausbreitung der COVID-19-Pandemie und deren Auswirkungen gemäß §8a Abs6 ZDG zum außerordentlichen Zivildienst zugewiesen, wodurch die Verpflichtung zur Leistung des Zivildienstes bis 30. Juni 2020 verlängert wurde. Neben der Verlängerung der Dienstzeit sämtlicher zum damaligen Zeitpunkt eingesetzter Zivildiener im Anschluss an ihren ordentlichen Zivildienst erfolgte ein Aufruf an alle ehemaligen Zivildiener, sich freiwillig zum außerordentlichen Zivildienst gemäß §21 Abs1 ZDG zu verpflichten. Für die Zeit des außerordentlichen Zivildienstes gebührte allen Verpflichteten eine Grundvergütung samt einem Zuschlag. Darüber hinaus wurde jenen Zivildienstleistenden, die außerordentlichen Zivildienst gemäß §21 Abs1 leg cit leisteten, eine Pauschalentschädigung bezahlt bzw ein allfälliger Verdienstentgang erstattet (vgl §34b Abs1 ZDG). Demgegenüber erhielten "verlängerte" außerordentliche Zivildienstleistende (§8a Abs6 leg cit) keine solche Entschädigung. Die Beschwerdeführer beantragten daher beim Heerespersonalamt für die Monate, in denen sie außerordentlichen Zivildienst leisteten, ebenfalls die Auszahlung einer Pauschalentschädigung.
2. Mit Bescheiden des Heerespersonalamtes wurden die Anträge der Beschwerdeführer abgewiesen. Die dagegen erhobenen Beschwerden wies das Bundesverwaltungsgericht als unbegründet ab.
3. Gegen diese Entscheidungen richten sich die vorliegenden, auf Art144 B VG gestützten Beschwerden, in denen die Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz (Art2 StGG und Art7 B VG) sowie in Rechten wegen Anwendung verfassungswidriger Gesetzesbestimmungen (§§8a Abs6, 21 Abs1, 34b Abs1 ZDG) behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung der angefochtenen Erkenntnisse, in eventu – vom ersten, zweiten und 26. Beschwerdeführer – die Abtretung der Beschwerden an den Verwaltungsgerichtshof, beantragt wird.
4. Der Verfassungsgerichtshof hat über die – zulässigen und in sinngemäßer Anwendung der §§187 und 404 ZPO iVm §35 Abs1 VfGG zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung verbundenen – Beschwerden erwogen:
4.1. Der Verfassungsgerichtshof hat mit Erkenntnis vom 17. Juni 2021, G47/2021 ua, die Zeichenfolge "51 Abs1," in §34b Abs2 ZDG, BGBl 679/1986 (WV), idF BGBl I 16/2020 als verfassungswidrig aufgehoben.
4.2. Gemäß Art140 Abs7 B VG wirkt die Aufhebung eines Gesetzes auf den Anlassfall zurück. Es ist daher hinsichtlich des Anlassfalles so vorzugehen, als ob die als verfassungswidrig erkannte Norm bereits zum Zeitpunkt der Verwirklichung des der angefochtenen Entscheidung des Verwaltungsgerichtes zugrunde gelegten Tatbestandes nicht mehr der Rechtsordnung angehört hätte.
Dem in Art140 Abs7 B VG genannten Anlassfall (im engeren Sinn), anlässlich dessen das Gesetzesprüfungsverfahren tatsächlich eingeleitet worden ist, sind all jene Beschwerdefälle gleichzuhalten, die zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung im Gesetzesprüfungsverfahren (bei Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung zu Beginn der nichtöffentlichen Beratung) beim Verfassungsgerichtshof bereits anhängig waren (VfSlg 10.616/1985, 11.711/1988). Im Fall einer Beschwerde gegen eine Entscheidung eines Verwaltungsgerichtes, der ein auf Antrag eingeleitetes Verwaltungsverfahren vorausgegangen ist, muss dieser verfahrenseinleitende Antrag überdies vor Bekanntmachung des dem unter Pkt. 4.1. genannten Erkenntnis zugrunde liegenden Prüfungsbeschlusses des Verfassungsgerichtshofes eingebracht worden sein (VfSlg 17.687/2005).
4.3. Die nichtöffentliche Beratung im Gesetzesprüfungsverfahren begann am 17. Juni 2021. Die vorliegenden Beschwerden sind beim Verfassungsgerichtshof im März und April 2021 eingelangt, waren also zu Beginn der nichtöffentlichen Beratung schon anhängig. Die Anträge auf Auszahlung einer Pauschalentschädigung wurden im April, Mai, Juni und Juli 2020 gestellt, der dem unter Pkt. 4.1. genannten Erkenntnis zugrunde liegende Prüfungsbeschluss des Verfassungsgerichtshofes wurde am 16. März 2021 bekannt gemacht; die verfahrenseinleitenden Anträge wurden also vor Bekanntmachung des Prüfungsbeschlusses des Verfassungsgerichtshofes eingebracht. Die den vorliegenden Beschwerden zugrunde liegenden Fälle sind somit einem Anlassfall gleichzuhalten.
5. Das Bundesverwaltungsgericht wendete bei Erlassung der angefochtenen Erkenntnisse die als verfassungswidrig aufgehobene Gesetzesbestimmung an. Es ist nach Lage der Fälle offenkundig, dass diese Gesetzesanwendung für die Rechtsstellung der Beschwerdeführer nachteilig war. Die Beschwerdeführer wurden somit wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt.
Die Erkenntnisse sind daher aufzuheben.
6. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
7. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. Den Erst- und Zweitbeschwerdeführern sowie den Dritt- bis Fünfundzwanzigstbeschwerdeführern war jeweils der einfache Pauschalsatz – erhöht um einen Streitgenossenzuschlag von 10 % (Erst- und Zweitbeschwerdeführer) bzw 50 % (Dritt- bis Fünfundzwanzigstbeschwerdeführer) – zuzusprechen, weil sie durch denselben Rechtsanwalt bzw dieselben Rechtsanwälte vertreten waren und es ihnen sowohl in zeitlicher als auch in sachverhaltsmäßiger und rechtlicher Hinsicht möglich gewesen wäre, gegen die Entscheidungen eine gemeinsame Beschwerde zu erheben (zB VfSlg 17.317/2004, 17.482/2005, 19.404/2011, 19.709/2012). In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 479,60 (Erst- und Zweitbeschwerdeführer), € 654,– (Dritt- bis Fünfundzwanzigstbeschwerdeführer) bzw € 436,– (Sechsundzwanzigstbeschwerdeführer) sowie der Ersatz der für die Beschwerden gemäß §17a VfGG jeweils entrichteten Eingabengebühr in der Höhe von je € 240,– enthalten.