JudikaturVfGH

E3319/2020 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung

Entscheidung
25. Februar 2021

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger von Bangladesch, stellte am 27. März 2019 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Mit Bescheid vom 4. Juli 2019 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) den Antrag auf internationalen Schutz ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung, stellte die Zulässigkeit der Abschiebung nach Bangladesch fest, erkannte einer Beschwerde gegen die Entscheidung die aufschiebende Wirkung ab und setzte keine Frist für die freiwillige Ausreise.

3. Das Bundesverwaltungsgericht erkannte der dagegen erhobenen Beschwerde mit Beschluss vom 30. Oktober 2019 aufschiebende Wirkung zu. Die Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 20. August 2020 als unbegründet ab und setzte eine Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung. Zunächst trifft das Bundesverwaltungsgericht zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers unter anderem folgende Feststellungen:

"Festgestellt wird, dass der BF bereits in der Schule 2009 von Schülern, deren Eltern Anhänger der Awami League gewesen sein sollen, misshandelt worden zu sein.

Festgestellt wird, dass der BF behauptet, 2005 in einer Polizeistation geschlagen, inhaftiert und bestohlen worden zu sein.

Es wird festgestellt, dass sich der BF in seinen Fluchtgründen, insbesondere bei den Daten, widerspricht.

Es wird festgestellt, dass der BF behauptet, dass gegen ihn am 16.12.2018 eine Anzeige wegen schwerer Verbrechen eingebracht wurde. Es wird festgestellt, dass der BF Bangladesch am 15.01.2019 verlassen hat, die Unterlagen zu der Anzeige jedoch erst im September 2019 erhalten habe. Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF überhaupt angezeigt wurde und aus diesem Grund Bangladesch verlassen hat. Ein 'Polizeibesuch' bei seinem Haus fand nach den Aussagen des BF am 06.11.21018 statt, betreffend eine Anzeige 'gegen unbekannte Täter', also vor der Anzeigenerhebung vom 16.12.2018 (AS 227). Ein 'Polizeibesuch' nach der Anzeige vom 16.12.2018 hat der BF nicht vorgebracht."

Im Rahmen der Beweiswürdigung führt das Bundesverwaltungsgericht aus, dass im Ergebnis bereits auf Grund der vom BFA aufgezeigten Gründe dem Fluchtvorbringen die Glaubwürdigkeit abzusprechen sei. Aber auch das Fluchtvorbringen vor dem Bundesverwaltungsgericht sei unglaubwürdig gewesen. Der Beschwerdeführer habe davon gesprochen, dass ihn die Polizei von einer Anzeige "gegen unbekannte Täter" am 6. November 2018 informiert habe. Er habe jedoch nicht dargelegt, dass er im Zuge der gegen ihn konkret vorliegenden Anzeige am 16. Dezember 2018 ebenfalls von der Polizei kontaktiert worden sei. Es sei auch überhaupt nicht glaubhaft, dass der Beschwerdeführer bei der inhaltlichen Schwere dieser behaupteten Anzeige nicht sofort in Polizeigewahrsam genommen worden wäre.

Der Beschwerdeführer habe die behaupteten Dokumente zum Strafverfahren im "Februar, März 2020" (im Original; in Kopie bereits im September 2019 per E Mail) erhalten, habe diese jedoch lediglich am 5. August 2020 in bengalischer Sprache (und nicht einmal in einer deutschen [Arbeits-]Übersetzung) vorgelegt. Damit habe der Beschwerdeführer, der über genügend Eigenmittel verfüge, entgegen seiner Verpflichtung keinen Beitrag zur raschen und umfassenden Mitwirkung am Beschwerdeverfahren geleistet.

In einer Gesamtschau der Ausführungen des Beschwerdeführers zu seinen Fluchtgründen habe dieser letztlich den Eindruck vermittelt, eine individuelle Verfolgungsgefährdung seiner Person auf Grundlage des in Bangladesch vorherrschenden Spannungsverhältnisses der beiden Parteien lediglich konstruieren zu wollen. Diese Beurteilung habe allein auf Grund der vom Beschwerdeführer vor dem BFA bzw dem Bundesverwaltungsgericht getätigten (wenig substantiierten und teilweise widersprüchlichen bzw nicht plausiblen) Angaben im Rahmen der freien Beweiswürdigung vorgenommen werden können. Ebenso sei einer Verfolgung auf Grund der Volksgruppenzugehörigkeit kein Glauben zu schenken gewesen. Von einer näheren Verifizierung der vom Beschwerdeführer vorgelegten (und im Auftrag des BFA teilweise übersetzten) Unterlagen bzw von Vor-Ort-Recherchen habe daher Abstand genommen werden können.

4. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, insbesondere im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander gemäß ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973, behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.

Begründend wird dazu im Wesentlichen Folgendes ausgeführt:

Es liege ein Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem erheblichen, lebensnotwendigen und entscheidenden Punkt vor, wenn lediglich auf die Beweiswürdigung der Unterinstanz Bezug genommen bzw verwiesen werde, wonach die vorgelegten gerichtlichen Dokumente und Anzeigen (Beweismittel) gefälscht, verfälscht oder falsch seien und nur die persönliche Unglaubwürdigkeit des Beschwerdeführers bestätigen würden. Das Bundesverwaltungsgericht habe eine Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen, da pauschal und antizipierend davon ausgegangen worden sei, dass die Dokumenten keine wahrheitsgetreuen Einzelheiten bestätigen würden.

5. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Verwaltungs- und Gerichtsakten vorgelegt, von einer Gegenschrift aber Abstand genommen.

II. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet:

Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtspre-chung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

2. Solche Fehler sind dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

2.1. Zunächst hat das Bundesverwaltungsgericht die Beweiswürdigung (nahezu wörtlich) aus dem Bescheid übernommen. Die eigene Beweiswürdigung beschränkt sich im Wesentlichen darauf, dass der Beschwerdeführer nicht vorgebracht habe, im Zuge der gegen ihn konkret vorliegenden Anzeige am 16. Dezember 2018 ebenfalls von der Polizei kontaktiert worden zu sein und dass es nicht glaubhaft sei, "dass der BF bei der inhaltlichen Schwere der behaupteten Anzeige nicht sofort in Polizeigewahrsam genommen worden wäre". Damit hat das Bundesverwaltungsgericht seinem Erkenntnis jedoch keine nachvollziehbare und schlüssige Begründung zugrunde gelegt: Zum einen gab der Beschwerdeführer im Rahmen der mündlichen Verhandlung an, dass ihn die Polizei regelmäßig Zuhause suche und sich bei seiner Mutter über ihn erkundige. Zum anderen erschöpft sich die Beweiswürdigung in pauschalen Ausführungen, ohne sich mit der Beschwerde und den im Rahmen der mündlichen Verhandlung vorgelegten Beweismitteln auseinander zu setzen (vgl ua VfGH 3.10.2019, E1533/2019; 28.11.2019, E3555/2019; 26.6.2020, E902/2020; 21.9.2020, E4498/2019 jeweils mwN).

2.2. Soweit das Bundesverwaltungsgericht "der Vollständigkeit halber" darauf hinweist, dass "auf Grundlage der getroffenen Länderfeststellungen – auch wenn das politische und rechtsstaatliche System Bangladeschs nicht mitteleuropäischen Standards entspricht – in Bangladesch nicht von einer generellen Schutzunfähigkeit des Staates oder einer flächendeckenden Inhaftierung oder Benachteiligung von Sympathisanten der BNP (lediglich aufgrund ihrer politischen Gesinnung) auszugehen ist" und Gerichte angerufen werden könnten, die zu Entscheidungen berufen sind, ist eine konkrete Auseinandersetzung mit aktuellen Länderberichten unterblieben (vgl die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes, wonach die im Asylverfahren herangezogenen Länderberichte hinreichend aktuell sein müssen und vor dem Hintergrund des konkreten Vorbringens eine Auseinandersetzung mit diesen zu erfolgen hat, etwa VfSlg 19.466/2011, 19.642/2012; VfGH 11.6.2012, U2344/11; 21.9.2012, U1032/12; 26.6.2013, U2557/2012; 11.12.2013, U1159/2012 ua; 5.3.2014, U36/2013; 11.3.2015, E1542/2014).

2.3. Für den Verfassungsgerichtshof ist – mangels einer entsprechenden Begründung – nicht nachvollziehbar, wie das Bundesverwaltungsgericht vor dem Hintergrund aktueller Länderberichte zu diesem Ergebnis kommt (vgl VfGH 18.6.2020, E1045/2020): Aus den Länderberichten (Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 6. April 2020, Stand: 19. August 2020, S. 9 und 11 f.) geht zB hervor, dass in vielen Fällen von "nichtstaatlichen Akteuren (insbesondere Opposition, Islamisten, Studenten)" Gewalt ausgehe. Die öffentliche Sicherheit sei fragil und das staatliche Gewaltmonopol werde durchbrochen. Es komme "häufig zu Morden und gewalttätigen Auseinandersetzungen aufgrund politischer (auch innerparteilicher) oder krimineller Rivalitäten. Eine Aufklärung erfolge selten." Die Justiz sei überlastet. "Überlange Verfahrensdauern, Korruption und politische Einflussnahme" würden die Unabhängigkeit behindern. Presseberichten zufolge komme es in "ländlichen Gebieten zu Verurteilungen durch unbefugte Dorfälteste oder Geistliche nach traditionellem, islamischem 'Scharia Recht'". Nicht immer würden die Behörden eingreifen. "Die schiere Zahl der gegen die politische Opposition eingeleiteten Klagen im Vorfeld zur 11. Parlamentswahl vom 30.12.2018, deutet auf ein ungehindertes Spielfeld und die Kontrolle der Regierungspartei über die Justiz- und Sicherheitsinstitutionen hin."

2.4. Im Übrigen hat sich das Bundesverwaltungsgericht auch nicht mit den Ausführungen im Vorbringen auseinander gesetzt: Der Beschwerdeführer gibt in der Befragung vor dem BFA an, dass er zuletzt in Dhaka gelebt habe (bei der Ersteinvernahme nannte er als Wohnsitzadresse: "Bangladesch, Narsingdi, Belabo, Narayanpur, Shororabad"). Demgegenüber trifft das Bundesverwaltungsgericht folgende Feststellung: "Der BF ist in der Ortschaft Shororabad/Shararabad im Distrikt Narsingdi geboren und aufgewachsen (AS 13 ff., 57, 226) und hat zuletzt auch dort gelebt (AS 17); andere Angabe vor dem BVwG: 'Von 2015 bis 2018 war ich in Dhaka. Ich habe am 15.01.2019 das Land verlassen, da war ich noch in Dhaka. Also seit 2015 war ich in Dhaka, bis zum 15.01.'" Zudem trifft das Bundesverwaltungsgericht Feststellungen, die dem Akteninhalt widersprechen und den konkreten Sachverhalt außer Acht lassen: Das Bundesverwaltungsgericht stellt fest, dass der Beschwerdeführer in keinen Vereinen oder sonstigen Organisationen tätig sei und sich während seines bisherigen Aufenthaltes auch nicht ehrenamtlich engagiert habe. Dies – so das Bundesverwaltungsgericht – "gab er selbst vor dem Bundesverwaltungsgericht zu Protokoll". Bei der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht antwortete der Beschwerdeführer auf die Frage, ob er Mitglied in einem Verein in Österreich sei, hingegen folgendermaßen:

"Ich bin in einem Verein Mitglied aber ich bin noch nicht 'verfestigt'. Ich bin in einer Organisation dem roten Kreuz anhängig. Ich unterstütze den Verein. Ich unterstütze diesen Verein und ich unterstütze auch einen anderen Verein seit dem 16.06. das ist ein Verein für homosexuelle, denn sie sind Menschen und gehören unterstützt. Was ich vorhin gemeint habe ist, dass es auch hier einen Zweig der BNP gibt. Ich dabei aber noch nicht im Komitee als Mitglied aufgenommen bin der Vorsitzende und der Sekretär haben mir aber gesagt, dass bei der nächsten Komitee Aufstellung ich als Mitglied aufgenommen werde. Ich bin mit ihnen in Kontakt."

Eine Würdigung dieser Aussagen und der im Akt befindlichen Kopie der Mitgliedskarte ist unterblieben.

2.5. Das Bundesverwaltungsgericht hat sohin in diesem Zusammenhang den konkreten Sachverhalt außer Acht gelassen und damit sein Erkenntnis mit Willkür belastet.

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander gemäß ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973 verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– enthalten.

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