G339/2020 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung
Spruch
Der Antrag wird zurückgewiesen.
Begründung
I. Antrag
Gestützt auf Art140 Abs1 Z1 litc B VG begehren die Antragstellerinnen, §27 Abs4 Kinderbetreuungsgeldgesetz (KBGG), BGBl I 103/2001, idF BGBl I 53/2016 (samt Eventualbegehren) als verfassungswidrig aufzuheben.
II. Rechtslage
§27 KBGG, BGBl I 103/2001, idF BGBl I 53/2016, §67 des Bundesgesetzes vom 7. März 1985 über die Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit (Arbeits- und Sozialgerichtsgesetz – ASGG), BGBl 104, idF BGBl I 86/2013 sowie Art68 der Verordnung (EG) 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl. 2004 L 166, 1, zuletzt geändert durch Verordnung (EU) 2019/1149, ABl. 2019 L 186, 21, lauten auszugsweise (die angefochtene Bestimmung ist hervorgehoben):
"Entscheidung
§27. (1) Besteht Anspruch auf eine Leistung nach diesem Bundesgesetz, so ist dem Antragsteller eine Mitteilung auszustellen, aus der insbesondere Beginn, voraussichtliches Ende und Höhe des Leistungsanspruches hervorgehen. Die Mitteilung hat eine Aufschlüsselung der Leistungen zu enthalten.
(2) Der Mitteilung über den Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld ist eine von der Bundesministerin für Familien und Jugend zu erstellende Information, aus der insbesondere Rechte und Pflichten der Bezugsberechtigten hervorgehen, anzuschließen.
(3) Ein Bescheid ist auszustellen,
1. wenn ein Anspruch auf eine Leistung gar nicht oder nur teilweise anerkannt wird oder
2. bei Rückforderung einer Leistung gemäß §31 oder
3. bei Widerruf oder rückwirkender Berichtigung einer Leistung gemäß §30 Abs2, wenn die Bescheiderstellung ausdrücklich verlangt wird.
(4) Abweichend von §67 Abs1 Z2 Arbeits- und Sozialgerichtsgesetz (ASGG), BGBl Nr 104/1985, liegt eine Säumnis des Krankenversicherungsträgers nur dann vor, wenn die Sache entscheidungsreif ist, also insbesondere wesentliche Vorfragen rechtskräftig geklärt sind und Mitwirkungspflichten erfüllt wurden. "
"Verfahrensvoraussetzungen
§67. (1) In einer Leistungssache nach §65 Abs1 Z1, 4 und 6 bis 8 sowie über die Kostenersatzpflicht eines Versicherungsträgers nach §65 Abs1 Z5 darf – vorbehaltlich des §68 – vom Versicherten eine Klage nur erhoben werden, wenn der Versicherungsträger
1. darüber bereits mit Bescheid entschieden hat oder
2. den Bescheid nicht innerhalb von sechs Monaten – handelt es sich um Leistungen aus der Krankenversicherung nicht innerhalb von drei Monaten – erlassen hat […]"
"Familienleistungen
[…]
Artikel 68
Prioritätsregeln bei Zusammentreffen von Ansprüchen
(1) Sind für denselben Zeitraum und für dieselben Familienangehörigen Leistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten zu gewähren, so gelten folgende Prioritätsregeln:
a) Sind Leistungen von mehreren Mitgliedstaaten aus unterschiedlichen Gründen zu gewähren, so gilt folgende Rangfolge: an erster Stelle stehen die durch eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausgelösten Ansprüche, darauf folgen die durch den Bezug einer Rente ausgelösten Ansprüche und schließlich die durch den Wohnort ausgelösten Ansprüche.
b) Sind Leistungen von mehreren Mitgliedstaaten aus denselben Gründen zu gewähren, so richtet sich die Rangfolge nach den folgenden subsidiären Kriterien:
i) bei Ansprüchen, die durch eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausgelöst werden: der Wohnort der Kinder, unter der Voraussetzung, dass dort eine solche Tätigkeit ausgeübt wird, und subsidiär gegebenenfalls die nach den widerstreitenden Rechtsvorschriften zu gewährende höchste Leistung. Im letztgenannten Fall werden die Kosten für die Leistungen nach in der Durchführungsverordnung festgelegten Kriterien aufgeteilt;
ii) bei Ansprüchen, die durch den Bezug einer Rente ausgelöst werden: der Wohnort der Kinder, unter der Voraussetzung, dass nach diesen Rechtsvorschriften eine Rente geschuldet wird, und subsidiär gegebenenfalls die längste Dauer der nach den widerstreitenden Rechtsvorschriften zurückgelegten Versicherungs- oder Wohnzeiten;
iii) bei Ansprüchen, die durch den Wohnort ausgelöst werden: der Wohnort der Kinder.
(2) Bei Zusammentreffen von Ansprüchen werden die Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften gewährt, die nach Absatz 1 Vorrang haben. Ansprüche auf Familienleistungen nach anderen widerstreitenden Rechtsvorschriften werden bis zur Höhe des nach den vorrangig geltenden Rechtsvorschriften vorgesehenen Betrags ausgesetzt; erforderlichenfalls ist ein Unterschiedsbetrag in Höhe des darüber hinausgehenden Betrags der Leistungen zu gewähren. Ein derartiger Unterschiedsbetrag muss jedoch nicht für Kinder gewährt werden, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, wenn der entsprechende Leistungsanspruch ausschließlich durch den Wohnort ausgelöst wird.
(3) Wird nach Artikel 67 beim zuständigen Träger eines Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften gelten, aber nach den Prioritätsregeln der Absätze 1 und 2 des vorliegenden Artikels nachrangig sind, ein Antrag auf Familienleistungen gestellt, so gilt Folgendes:
a) Dieser Träger leitet den Antrag unverzüglich an den zuständigen Träger des Mitgliedstaats weiter, dessen Rechtsvorschriften vorrangig gelten, teilt dies der betroffenen Person mit und zahlt unbeschadet der Bestimmungen der Durchführungsverordnung über die vorläufige Gewährung von Leistungen erforderlichenfalls den in Absatz 2 genannten Unterschiedsbetrag;
b) der zuständige Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften vorrangig gelten, bearbeitet den Antrag, als ob er direkt bei ihm gestellt worden wäre; der Tag der Einreichung des Antrags beim ersten Träger gilt als der Tag der Einreichung bei dem Träger, der vorrangig zuständig ist."
III. Antragsvorbringen und Sachverhalt
1. Dem Antrag liegen nach den Angaben der Antragstellerinnen folgende Sachverhalte zugrunde:
1.1. Die Erstantragstellerin ist österreichische Staatsangehörige und hatte ihren Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt immer in Österreich. Am 8. Jänner 2015 gebar sie eine eheliche Tochter. Mit Antrag vom 9. März 2015 beantragte die Erstantragstellerin bei der Wiener Gebietskrankenkasse (im Folgenden: WGKK) pauschales Kinderbetreuungsgeld. Auf die Gewährung der Leistung bzw auf eine bescheidmäßige Erledigung warte sie bis heute. Nach dem EU Beschäftigungslandprinzip gemäß Art68 VO (EG) 883/2004 seien die Niederlande als Beschäftigungsland zur Gewährung von Familienleistungen vorrangig zuständig. Sei die Familienleistung im Wohnsitzland (im vorliegenden Fall: Österreich) höher, so habe dieses die Differenz zu zahlen. Obwohl die Familie bereits mehrfach Bestätigungen der niederländischen Behörden vorgelegt habe, dass sie keinen Anspruch auf die entsprechende Leistung in den Niederlanden habe, erhalte sie kein Kinderbetreuungsgeld. Für die Jahre 2015 und 2016 habe die Familie bereits Bestätigungen über den Nichtbezug von Leistungen in den Niederlanden vorgelegt. Eine Vorlage einer Bestätigung für die Folgejahre 2017 und 2018 – wie die WBKK fordere – sei jedoch nicht möglich, weil sie bereits eine Bestätigung erhalten habe und keine weitere Bescheinigung von den niederländischen Behörden ausgestellt werden könne. Es sei jedenfalls klar, dass kein Anspruch auf die niederländische Familienleistung bestehe und daher Österreich das volle Kinderbetreuungsgeld zahlen müsste. Nach Ansicht der Volksanwaltschaft stelle – die über Monate bis Jahre ohne bescheidmäßige Erledigung erfolgende – Nichtgewährung von Kinderbetreuungsgeld für in Österreich lebende oder arbeitende Familien in grenzüberschreitenden Fällen einen Missstand in der Verwaltung dar.
1.2. Die Zweitantragstellerin ist bulgarische Staatsangehörige und hat seit 2014 ihren Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich. Ihr Lebensgefährte hat seit 2012 seinen Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt in Wien, wobei sie seit 2018 in gemeinsamer Wohnung leben. Am 3. Dezember 2019 gebar die Zweitantragstellerin ihren Sohn. Mit Antrag vom 21. April 2020 beantragte sie bei der Österreichischen Gesundheitskasse (im Folgenden: ÖGK) Kinderbetreuungsgeld in Form des Kinderbetreuungsgeld-Kontos vom 26. Februar 2020 bis 2. Dezember 2021. Auch über diesen Antrag sei bis heute nicht entschieden worden. Der Lebensgefährte der Zweitantragstellerin sei vom 2. April 2019 bis 4. Mai 2020 bei einem Glasreinigungsunternehmen beschäftigt gewesen, dessen Sitz sich in Wang (Deutschland) befinde. Sein gewöhnlicher Aufenthalt sei in Wien gewesen, jedoch habe er vom 4. Februar 2020 bis 28. Februar 2020 eine Dienstreise nach Berlin und Hamburg unternommen, wo er auf Kosten des Arbeitgebers in Hotels genächtigt habe. Sein Arbeitgeber habe es aus unbekannten Gründen unterlassen, ihn in Österreich zur Sozialversicherung anzumelden. Stattdessen sei er zu Unrecht in Deutschland zur Sozialversicherung angemeldet worden. Gemäß Art68 VO (EG) 883/2004 bestehe für die Ausbezahlung des Kinderbetreuungsgeldes an die Zweitantragstellerin eine eindeutige Zuständigkeit Österreichs. Mit Schreiben vom 6. Mai 2020 teilte die ÖGK mit, dass zur Erledigung des Antrages noch weitere Unterlagen bzw Informationen erforderlich wären, ua Meldebestätigungen vom Kindsvater aus Deutschland. Mit E Mail vom 15. Mai 2020 legte die Zweitantragstellerin der ÖGK höchstpersönliche Dokumente offen. Mit Schreiben vom 6. Juli 2020 ersuchte die ÖGK neuerlich um Mitwirkung. Die Zweitantragstellerin sollte abermals Meldebestätigungen von ihrem Lebensgefährten aus Deutschland vorlegen. Mangels Existenz derselben sei es aber nicht möglich, diese vorzulegen. Darüber hinaus sei eine Antragstellung in Deutschland betreffend Elterngeld und Kindergeld unzumutbar. Auch die gewünschte Abmeldebestätigung einer Adresse in Bulgarien könne nur bei Aufgabe der bulgarischen Staatsbürgerschaft erfolgen. Ebenso sei der Mitwirkungsauftrag zum Nachweis der fünften Mutter-Kind-Pass-Untersuchung während der Schwangerschaft nicht möglich, weil diese auf Grund der Frühgeburt ihres Sohnes nicht durchgeführt worden sei.
2. Zur Zulässigkeit ihres Antrages führen die Antragstellerinnen zusammengefasst Folgendes aus:
Den Antragstellerinnen sei es nicht möglich, eine bescheidmäßige Erledigung in den Niederlanden oder in Deutschland zu erwirken, weil gemäß Art68 Abs3 VO (EG) 883/2004 auf Grund des Prinzips der europaweiten Antragsstellung sich jedwede Antragsstellung gleichzeitig an alle in Betracht kommenden Träger der Mitgliedstaaten richte. Die Weigerung der deutschen und niederländischen Sozialversicherungsträger, die Sache bescheidmäßig zu erledigen, sei rechtmäßig, wohingegen die Weigerung der ÖGK durch die verfassungswidrige Norm des §27 Abs4 KBGG legalisiert werde. Letztlich komme den Antragstellerinnen auch keine Möglichkeit zu, den deutschen und niederländischen Behörden verständlich zu machen, warum sie ihnen zwar keinen österreichischen Bescheid vorlegen könnten, den sie ihrer Entscheidung zugrunde legen könnten, sie hingegen von ihnen sehr wohl eine bescheidmäßige Erledigung verlangten.
Die ÖGK habe über den Antrag der Erstantragstellerin vom 9. März 2015 und über den Antrag der Zweitantragstellerin vom 21. April 2020 bis heute nicht mit Bescheid oder Leistungsmitteilung entschieden, obwohl die dreimonatige Entscheidungsfrist gemäß §67 Abs1 Z2 ASGG bereits am 9. Juni 2015 bzw am 21. Juli 2020 ungenutzt abgelaufen sei bzw ohne die verfassungswidrige Bestimmung des §27 Abs4 KBGG abgelaufen wäre. Der Grund für die Säumnis bzw Unterlassung der Entscheidung liege in der verfassungswidrigen Bestimmung des §27 Abs4 leg cit, welche die unmittelbare Ursache der wirtschaftlichen Notlage sei, in der sich die Zweitantragstellerin derzeit befinde und die damit auch direkt nachteilig in ihre Rechtssphäre eingreife und diese nachteilig verletze. Auf Grund des §27 Abs4 KBGG stelle die vorliegende Situation keine Säumnis des Krankenversicherungsträgers dar, weil die Sache gemäß der verfassungswidrigen Definition des §27 Abs4 leg cit nicht entscheidungsreif sei und die Zweitantragstellerin ihrer Mitwirkungspflicht nach Ansicht der ÖGK nicht nachgekommen sei. Auch die Erstantragstellerin sei unmittelbar und aktuell von der Bestimmung des §27 Abs4 KBGG und der dadurch hervorgerufenen Säumnis der ÖGK nachteilig betroffen, weil das bis heute andauernde Vorenthalten des Kinderbetreuungsgeldes noch immer eine Verletzung ihrer Rechtssphäre darstelle und auch ihr Verwaltungsverfahren nach wie vor anhängig sei. Der Erstantragstellerin sei der Zugang zum Gericht im Weg einer Säumnisklage deswegen verwehrt, weil auch sie auf Grund des Prinzips der europaweiten Antragsstellung und der europaweiten Verfahrensanhängigkeit keine niederländischen Bescheide erwirken und damit ihrer Mitwirkungspflicht zur Vorlage von niederländischen Bescheiden nicht nachkommen könne. Durch diese verfassungswidrige Bestimmung werde die ÖGK faktisch von einer Entscheidungspflicht entbunden.
Die Antragstellerinnen seien der Möglichkeit beraubt, sich wegen der Verletzung einer Entscheidungsfrist im Wege einer Säumnisklage an das Arbeits- und Sozialgericht oder im Wege einer Säumnisbeschwerde an das Bundesverwaltungsgericht zu wenden. Da die angefochtene, verfassungswidrige Bestimmung unmittelbar die bescheidmäßige oder urteilsmäßige Erledigung verhindere und ein Rechtsmittel wegen Verletzung der Entscheidungspflicht ausschließe, bewirke sie unmittelbar die Unmöglichkeit, die Verfassungswidrigkeit der Norm auf anderem Weg geltend zu machen und damit die Zulässigkeit des gegenständlichen Individualantrages. Das anhängige Verwaltungsverfahren stelle für die Antragstellerinnen keinen zumutbaren Weg dar, um ihre Bedenken an den Verfassungsgerichtshof heranzutragen. §27 Abs4 KBGG verhindere gerade, dass die Antragstellerinnen die Rechtssache an ein Gericht überhaupt herantragen können. Dies gelte umso mehr für einen Parteiantrag, weil es sich bei einem Beschluss, mit dem eine Klage in limine litis zurückgewiesen werde, nicht iSd Art140 Abs1 Z1 litd B VG um eine entschiedene Rechtssache handle. Weiters wäre ein Parteiantrag auf Normenkontrolle in der gegenständlichen Situation auf Grund der dadurch ausgelösten Unterbrechung des zivilgerichtlichen Verfahrens konkret unzumutbar, weil sich dadurch der Zeitraum, in dem die Antragstellerinnen kein Kinderbetreuungsgeld erhalten, nur weiter verlängern würde. Sinn einer Säumnisklage wäre es ja, die existenzbedrohende Notlage, insbesondere der Zweitantragstellerin, möglichst rasch zu beenden, sodass die Antragstellerinnen, um das Verfahren möglichst rasch zum Abschluss zu bringen, auf einen Parteiantrag (selbst wenn er entgegen ihrer Ansicht zulässig wäre) verzichten müssten.
Gemäß §57a Abs1 Z1 VfGG sei der Parteienantrag in Verfahren zur Anordnung oder Durchsetzung der Rückstellung widerrechtlich verbrachter oder zurückgehaltener Kinder unzulässig, ebenso gemäß §57a Abs1 Z7 VfGG im Verfahren gemäß den Bestimmungen des Unterhaltsvorschussgesetzes. Wie der Unterhaltsvorschuss diene auch das Kinderbetreuungsgeld dazu, ein menschenwürdiges Aufwachsen von Kindern zu ermöglichen. Die genannten Zulässigkeitsbeschränkungen seien analog auf das Verfahren nach dem KBGG umzulegen.
Das Erheben einer unzulässigen Säumnisklage sei auch deshalb unzumutbar, weil dadurch nur eine weitere Verzögerung bewirkt würde, weil die ÖGK wohl auch eine unzulässige Säumnisklage zum Anlass nehmen würde, allfällige Schritte zur Bearbeitung der Anträge zu unterlassen.
Die angefochtene Bestimmung des §27 Abs4 KBGG bewirke unmittelbar, dass über die Anträge der Antragstellerinnen weder eine gerichtliche Entscheidung gefällt noch ein Bescheid erlassen werden könne, sodass die verfassungswidrige Bestimmung selbst unmittelbare Ursache dafür sei, dass die Bestimmung iSd Art140 Abs1 Z1 litc B VG ohne Fällung einer gerichtlichen Entscheidung oder ohne Erlassung eines Bescheides für die Antragstellerinnen wirksam werde.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes könne regelmäßig nur ein Normadressat anfechtungsberechtigt sein. Im Fall einer verfahrensrechtlichen Bestimmung, welche den Parteien des Verwaltungsverfahrens die Möglichkeit nehme, eine Verletzung der Entscheidungspflicht geltend zu machen, liege ein Eingriff in die Rechtssphäre der solcherart in ihren Rechten beschnittenen Verfahrenspartei vor, der in seiner unmittelbaren Auswirkung mit einer unmittelbar an die Partei gerichteten Verhaltensanordnung vergleichbar sei. Die Vorschrift sei nämlich mit einer an die Antragstellerinnen gerichteten Befehlsnorm zu vergleichen, die ihnen verbiete, eine Säumnisklage zu erheben.
Sollte entgegen der Rechtsansicht der Antragstellerinnen ihnen bereits jetzt eine Säumnisklage offenstehen, wäre eine unmittelbare und aktuelle Betroffenheit gegeben, weil §27 Abs4 KBGG jedenfalls eine unnötige Verlängerung der Verfahrensdauer und damit eine weitere unverzinste Verzögerung mit der Ausbezahlung der Leistung bewirke. Die Dauer eines Gerichtsverfahrens stelle jedoch keinen Umstand dar, für den die Antragstellerinnen im Wege einer Amtshaftungsklage entschädigt werden könnten, weil das Gericht keine Rechtswidrigkeit verwirkliche, wenn es über gesetzliche Tatbestandsmerkmale ein Beweisverfahren durchführe. Es sei auch hinsichtlich dieses Aspektes kein anderer Weg denkbar, die Rechtswidrigkeit an den Verfassungsgerichtshof heranzutragen.
3. Die Antragstellerinnen legen ihre Bedenken im Wesentlichen wie folgt dar:
Die angefochtene Norm verletze "das rechtsstaatliche Grundprinzip der Verfassung, das gewaltentrennende Grundprinzip der Verfassung, den verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz, das Recht gem Art132 Abs3 B VG auf Erhebung einer Beschwerde wegen Verletzung der Entscheidungspflicht, das Recht auf Unversehrtheit des Eigentums, das Recht gem Art33 Abs2 GRC auf bezahlten Mutterschaftsurlaub, das Recht gem Art34 Abs2 GRC auf Zugang zu Leistungen der sozialen Sicherheit, das Recht auf Entscheidung durch ein Gericht über zivilrechtliche Ansprüche gem Art6 EMRK, das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gem Art8 EMRK sowie das Grundrecht auf Datenschutz gem §1 DSG".
Zunächst stelle die Möglichkeit, eine Abhilfe gegen die Verletzung der Entscheidungspflicht ergreifen zu können, ein zentrales Element des rechtsstaatlichen Grundprinzips der Verfassung dar. Darüber hinaus verstoße §27 Abs4 KBGG insbesondere gegen den Gleichheitssatz. Es sei fraglich, ob die Privilegierung der für das Kinderbetreuungsgeld zuständigen Entscheidungsträger beim Säumnisbegriff gegenüber allen anderen in Sozialrechtssachen tätigen Entscheidungsträgern unter dem Aspekt des verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes sachlich gerechtfertigt sei. Eine sachliche Rechtfertigung dafür, gerade für das Kinderbetreuungsgeld abweichend von allen anderen sozialversicherungsrechtlichen Leistungsansprüchen einen anderen Säumnisbegriff vorzusehen und die Entscheidungspflicht aufzuweichen, sei nicht erkennbar. Ganz im Gegenteil sei auf Grund des Unterhaltscharakters des Kinderbetreuungsgeldes und dessen Grundlage für den Krankenversicherungsschutz der jungen Mutter und des Kindes eine rasche Entscheidung und Ausbezahlung von zentraler Bedeutung. Für das Vorsehen einer noch längeren als dreimonatigen Entscheidungsfrist fehle hingegen im Hinblick auf den Unterhaltscharakter des Kinderbetreuungsgeldes jegliche sachliche Rechtfertigung. Die in den Materialien angeführten, fiskalischen Gründe zur Verhinderung des Leistungsexportes würden jedenfalls keine sachliche Rechtfertigung darstellen. Die Verfassungswidrigkeit von §27 Abs4 KBGG ergebe sich auch daraus, dass das Gesetz bei der Erfüllung der Mitwirkungspflichten nicht darauf abstelle, dass diese sachlich gerechtfertigt, sachverhaltserheblich, möglich und zumutbar seien.
IV. Zulässigkeit
1. Gemäß Art140 Abs1 Z1 litc B‐VG erkennt der Verfassungsgerichtshof über die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen auf Antrag einer Person, die unmittelbar durch diese Verfassungswidrigkeit in ihren Rechten verletzt zu sein behauptet, wenn das Gesetz ohne Fällung einer gerichtlichen Entscheidung oder ohne Erlassung eines Bescheides für diese Person wirksam geworden ist.
Voraussetzung der Antragslegitimation gemäß Art140 Abs1 Z1 litc B VG ist einerseits, dass der Antragsteller behauptet, unmittelbar durch das angefochtene Gesetz – im Hinblick auf dessen Verfassungswidrigkeit – in seinen Rechten verletzt worden zu sein, dann aber auch, dass das Gesetz für den Antragsteller tatsächlich, und zwar ohne Fällung einer gerichtlichen Entscheidung oder ohne Erlassung eines Bescheides wirksam geworden ist. Grundlegende Voraussetzung der Antragslegitimation ist, dass das Gesetz in die Rechtssphäre des Antragstellers nachteilig eingreift und diese – im Falle seiner Verfassungswidrigkeit – verletzt.
Nicht jedem Normadressaten kommt die Anfechtungsbefugnis zu. Es ist darüber hinaus erforderlich, dass das Gesetz selbst tatsächlich in die Rechtssphäre des Antragstellers unmittelbar eingreift. Ein derartiger Eingriff ist nur dann anzunehmen, wenn dieser nach Art und Ausmaß durch das Gesetz selbst eindeutig bestimmt ist, wenn er die (rechtlich geschützten) Interessen des Antragstellers nicht bloß potentiell, sondern aktuell beeinträchtigt und wenn dem Antragsteller kein anderer zumutbarer Weg zur Abwehr des – behaupteterweise – rechtswidrigen Eingriffes zur Verfügung steht (VfSlg 11.868/1988, 15.632/1999, 16.616/2002, 16.891/2003).
Ein solcher zumutbarer Weg ist nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes ua dann eröffnet, wenn bereits ein gerichtliches Verfahren anhängig ist (oder anhängig war), das dem Betroffenen Gelegenheit bietet (bzw bot), eine amtswegige Antragstellung an den Verfassungsgerichtshof anzuregen (zB VfSlg 13.871/1994 mwN, 15.786/2000, 17.110/2004, 17.276/2004, 18.370/2008).
2. Den Antragstellerinnen steht im vorliegenden Fall ein anderer zumutbarer Weg offen, ihre Bedenken an den Verfassungsgerichtshof heranzutragen:
Gemäß §67 Abs1 Z2 ASGG besteht die Möglichkeit, eine Säumnisklage zu erheben, insoweit der Versicherungsträger nicht innerhalb von drei Monaten einen Bescheid erlassen hat. Eine Säumnis des Versicherungsträgers ist gemäß dem Wortlaut des §27 Abs4 KBGG (s aber im Zusammenhang mit grenzüberschreitenden Sachverhalten nach Art68 VO [EG] 883/2004 OGH 28.5.2019, 10 ObS 42/19b) jedoch nur dann anzunehmen, "wenn die Sache entscheidungsreif ist, also insbesondere wesentliche Vorfragen rechtskräftig geklärt sind und Mitwirkungspflichten erfüllt wurden". Dennoch ist der Rechtsweg an die ordentlichen Gerichte zulässig, auch wenn das Gericht erster Instanz nach §27 Abs4 KBGG eine erhobene Säumnisklage mangels Säumnis mit Beschluss zurückweisen würde.
Als Partei einer von einem ordentlichen Gericht in erster Instanz anhängigen oder von diesem entschiedenen Rechtssache hätten die Antragstellerinnen – entgegen ihrer Ansicht – daher jedenfalls die Möglichkeit, durch Anregung einer amtswegigen Antragstellung bzw mittels Parteiantrages (Art140 Abs1 Z1 litd B VG) ihre Bedenken gegen die angefochtene Bestimmung an den Verfassungsgerichthof heranzutragen (s etwa VfGH 11.6.2018, G91/2018; 25.9.2018, G98/2018; 27.11.2019, G134/2019 ua).
Selbst im Fall einer Zurückweisung der Säumnisklage bestünde somit die Möglichkeit, die Bedenken hinsichtlich der dann präjudiziellen Bestimmung des §27 Abs4 KBGG an den Verfassungsgerichtshof heranzutragen (vgl VfGH 11.6.2018, V21/2018; 6.10.2020, G121/2019 ua). Außergewöhnliche Umstände, die dennoch den grundsätzlich subsidiären (VfSlg 15.786/2000, 16.772/2002) Individualantrag vorliegend als zulässig erscheinen lassen, sind nicht ersichtlich.
3. Der Antrag ist daher schon aus diesem Grund unzulässig.
V. Ergebnis
1. Der Antrag wird als unzulässig zurückgewiesen.
2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs3 Z2 lite VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.