JudikaturVfGH

E3948/2020 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung

Entscheidung
24. Februar 2021

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit seine Beschwerde gegen die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten, gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels sowie gegen die erlassene Rückkehrentscheidung und gegen den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat Afghanistan unter Setzung einer 14 tägigen Frist für die freiwillige Ausreise abgewiesen wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 BVG zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.

II. Dem gemäß §63 Abs1 ZPO, §35 VfGG gestellten Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe im Umfang des §64 Abs1 Z1 lita ZPO wird stattgegeben.

III. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der minderjährige Beschwerdeführer ist ein aus der Provinz Nangarhar stammender Staatsangehöriger von Afghanistan, der zum Teil auch in Pakistan aufgewachsen ist, der Volksgruppe der Paschtunen angehört und sich zum sunnitischen Islam bekennt. Er wurde am 1. Jänner 2004 geboren und stellte nach illegaler Einreise ins Bundesgebiet am 17. November 2015 zugleich mit seinem am 1. Jänner 1998 geborenen Bruder als unbegleiteter Minderjähriger einen Antrag auf internationalen Schutz. Ein weiterer älterer Bruder des Beschwerdeführers stellte zeitnah ebenfalls einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich, ist inzwischen aber in Frankreich aufhältig.

2. Mit Bescheiden vom 14. November 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Anträge des Beschwerdeführers und seines Bruders gemäß §3 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG 2005 ab; ebenso wurden die Anträge auf Zuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten gemäß §8 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG 2005 in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen. Weiters wurden Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §57 AsylG 2005 nicht erteilt, gemäß §10 Abs1 Z3 AsylG 2005 iVm §9 BFA VG Rückkehrentscheidungen gemäß §52 Abs2 Z2 FPG erlassen und gemäß §52 Abs9 FPG festgestellt, dass die Abschiebungen nach Afghanistan gemäß §46 FPG zulässig seien. Gleichzeitig wurden 14 tägige Fristen für die freiwillige Ausreise gemäß §55 Abs1 bis 3 FPG ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen gesetzt.

3. Die dagegen erhobenen Beschwerden wies das Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit Erkenntnis vom 15. Oktober 2020 als unbegründet ab.

Hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten an den Beschwerdeführer wurde begründend im Wesentlichen ausgeführt, dass die Voraussetzungen für eine Gewährung nicht vorlägen. Dem Beschwerdeführer würde zwar im Falle einer Rückkehr in die Provinz Nangarhar ein reales Risiko einer Verletzung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten gemäß Art2 und 3 EMRK drohen, ihm sei jedoch eine innerstaatliche Fluchtalternative in den Städten Herat oder Mazar e Sharif zumutbar. Es sei ihm möglich, sich wieder in das afghanische Gesellschaftssystem zu integrieren, und ihm drohe auf Grund seines Alters bzw vor dem Hintergrund der Situation Minderjähriger in Afghanistan weder physische oder psychische Gewalt noch sei er deswegen einer Verfolgungs- oder Lebensgefahr ausgesetzt.

4. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird, soweit damit die Beschwerde des Beschwerdeführers gegen die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten, gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels sowie gegen die erlassene Rückkehrentscheidung und gegen den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat Afghanistan unter Setzung einer 14 tägigen Frist für die freiwillige Ausreise abgewiesen wird.

Begründend wird dazu im Wesentlichen ausgeführt, dass das Bundesverwaltungsgericht dadurch Willkür geübt habe, dass es der Minderjährigkeit des Beschwerdeführers und der sich daraus ergebenden Schutzbedürftigkeit keine hinreichende Beachtung geschenkt habe.

5. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift aber unter Verweis auf die Entscheidungsgründe Abstand genommen.

II. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

2. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 BVG zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum BVG zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

3. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

3.1. Die im angefochtenen Erkenntnis wiedergegebenen, hinreichend aktuellen Länderberichte enthalten unter anderem Abschnitte zur allgemeinen Sicherheitslage in Afghanistan (Kabul, Herat, Mazar e Sharif und Nangarhar), zur Erreichbarkeit, zur Wirtschaft und Versorgungslage, zur Behandlung von Rückkehrern, zur medizinischen Versorgung und zur Situation im Hinblick auf COVID 19. Ebenfalls enthalten sind Ausführungen zu (unbegleiteten) Minderjährigen, die sich insbesondere in Berichten zur Schulbildung, zur Kinderarbeit, zum sexuellen Missbrauch und zur Rekrutierungsgefahr finden.

3.2. Bei der Behandlung von Anträgen auf internationalen Schutz von Minderjährigen sind, unabhängig davon, ob diese unbegleitet sind oder gemeinsam mit ihren Eltern oder anderen Angehörigen leben, zur Beurteilung der Sicherheitslage einschlägige Herkunftsländerinformationen, in die auch die Erfahrungen in Bezug auf Kinder Eingang finden, bei entsprechend schlechter allgemeiner Sicherheitslage jedenfalls erforderlich (vgl UNHCR, Richtlinien zum Internationalen Schutz: Asylanträge von Kindern im Zusammenhang mit Artikel 1 [A] 2 und 1 [F] des Abkommens von 1951 bzw des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, 22.12.2009, Rz 74). Dementsprechend hat der Verfassungsgerichtshof wiederholt hervorgehoben, welche Bedeutung den Länderfeststellungen im Hinblick auf Minderjährige als besonders vulnerable Antragsteller zukommt (vgl zB VfGH 3.10.2019, E1354/2019; 13.3.2019, E1480/2018 ua; 25.9.2018, E1463/2018 ua; 11.6.2018, E1815/2018; 11.10.2017, E1803/2017 ua).

3.3. Hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten an den Beschwerdeführer berücksichtigt das Bundesverwaltungsgericht dessen Minderjährigkeit insofern, als es in der Beweiswürdigung und in der rechtlichen Beurteilung im Wesentlichen ausführt, dass dem Beschwerdeführer eine Neuansiedlung in den Städten Herat oder Mazar e Sharif möglich und zumutbar sei, weil dieser – trotz seiner Minderjährigkeit – über die notwendige Selbstständigkeit verfüge, einer altersentsprechenden Erwerbstätigkeit nachgehen oder seine Schulbildung fortsetzen könne und er überdies von seinem inzwischen volljährigen Bruder unterstützt werden bzw wieder Kontakt zu seiner Familie in der Provinz Nangarhar aufnehmen könne. Daraus zieht das Bundesverwaltungsgericht den Schluss, dass nicht von einer potenzierten Gefährdungslage bzw einer besonderen (altersspezifischen) Vulnerabilität des Beschwerdeführers auszugehen sei.

3.4. Mit diesen Ausführungen geht das Bundesverwaltungsgericht zwar auf bestimmte, im Lichte der Art2 und 3 EMRK relevante Aspekte ein und begründet seine Entscheidung ansonsten auch sorgfältig, verkennt aber, dass es sich bei dem minderjährigen Beschwerdeführer sehr wohl um eine besonders vulnerable Person handelt (vgl die Definition schutzbedürftiger Personen in Art21 der Richtlinie 2013/33/EU zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen [Aufnahmerichtlinie], ABl. 2013 L 180, 96). Es wäre daher eine – die Minderjährigkeit stärker berücksichtigende – spezifische Auseinandersetzung damit erforderlich gewesen, welche Rückkehrsituation der Beschwerdeführer in den Städten Herat oder Mazar e Sharif tatsächlich vorfinden würde (vgl dazu insbesondere die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.8.2018, S 124 f., wonach "eine interne Schutzalternative [unter anderem] nur dann als zumutbar angesehen werden kann, wenn die Person im voraussichtlichen Neuansiedlungsgebiet Zugang zu einem Unterstützungsnetzwerk durch Mitglieder ihrer [erweiterten] Familie oder durch Mitglieder ihrer größeren ethnischen Gemeinschaft hat und man sich vergewissert hat, dass diese willens und in der Lage sind, den Antragsteller tatsächlich zu unterstützen. Die einzige Ausnahme von diesem Erfordernis der externen Unterstützung stellen […] alleinstehende, leistungsfähige Männer und verheiratete Paare im erwerbsfähigen Alter ohne […] besondere[] Gefährdungsfaktoren dar."). In diesem Sinne hat auch der Gerichtshof der Europäischen Union jüngst ausgesprochen, dass vor der Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen einen (unbegleiteten) Minderjährigen eine umfassende und eingehende Beurteilung dessen Situation unter gebührender Berücksichtigung des Kindeswohles zu erfolgen hat, was eine Vergewisserung darüber umfasst, dass für den Minderjährigen im Rückkehrstaat eine geeignete Aufnahmemöglichkeit zur Verfügung steht (EuGH 14.1.2021, Rs. C 441/19, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Retour d’un mineur non accompagné] , Rz 60).

3.5. Eine solche – eingehende – Auseinandersetzung konnte im vorliegenden Fall nicht schon deshalb unterbleiben, weil der Beschwerdeführer nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichtes "ein fast siebzehnjähriger mündiger Minderjähriger" sei, der allenfalls von seinem inzwischen volljährigen Bruder unterstützt werden bzw wieder Kontakt zu seiner Familie aufnehmen könne, die in der volatilen Provinz Nangarhar lebt (vgl zB VfGH 3.10.2019, E1354/2019; 13.3.2019, E1480/2018 ua; 11.6.2018, E1815/2018). So finden sich im angefochtenen Erkenntnis und in der Niederschrift der mündlichen Verhandlung vom 11. August 2020 insbesondere keine Hinweise dahingehend, ob der zum Entscheidungszeitpunkt 22 jährige Bruder des Beschwerdeführers willens und in der Lage ist, den Minderjährigen tatsächlich zu unterstützen. Potenzielle Unterstützungsmöglichkeiten durch weitere Familienangehörige wurden im Übrigen sowohl durch den Beschwerdeführer als auch durch seinen Bruder explizit verneint.

3.6. Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes erweist sich im Hinblick auf die Beurteilung einer dem Beschwerdeführer im Falle der Rückkehr drohenden Verletzung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten gemäß Art2 und 3 EMRK schon aus diesen Gründen als verfassungswidrig. Soweit sich die Entscheidung auf die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten an den Beschwerdeführer und – daran anknüpfend – auf die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels sowie auf die erlassene Rückkehrentscheidung und den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat Afghanistan unter Setzung einer 14 tägigen Frist für die freiwillige Ausreise bezieht, ist sie somit mit objektiver Willkür belastet und insoweit aufzuheben.

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit seine Beschwerde gegen die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und – daran anknüpfend – gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels sowie gegen die erlassene Rückkehrentscheidung und gegen den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat Afghanistan unter Setzung einer 14 tägigen Frist für die freiwillige Ausreise abgewiesen wird, in dem durch ArtI Abs1 BVG zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher in diesem Umfang aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– enthalten. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil der Beschwerdeführer Verfahrenshilfe im Umfang des §64 Abs1 Z1 lita ZPO genießt.

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