E3714/2020 ua – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung
Spruch
I. Die Beschwerdeführer sind durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.
Das Erkenntnis wird aufgehoben.
II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den Beschwerdeführern zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.640,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Die Beschwerdeführer sind aus der Stadt Mossul stammende Staatsangehörige des Irak, gehören der Volksgruppe der Araber an und sind sunnitische Moslems. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind die Eltern der Drittbeschwerdeführerin und des Viertbeschwerdeführers. Nach ihrer Einreise in das Bundesgebiet stellten sie am 24. Juli 2017 Anträge auf internationalen Schutz. Der Erstbeschwerdeführer begründete seinen Antrag mit der Verfolgung durch Angehörige des Islamischen Staates (in Folge: IS) und durch die irakischen Sicherheitsbehörden, welche ihn der Zusammenarbeit mit dem IS verdächtigten. Die Zweit- und Drittbeschwerdeführerin sowie der Viertbeschwerdeführer berufen sich auf die Fluchtgründe des Erstbeschwerdeführers.
2. Mit Bescheiden vom 11. Juni 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in Folge: BFA) die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Irak (Spruchpunkt II.) ab. Zugleich erteilte das BFA ihnen keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.), erließ gegen sie eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.) und stellte fest, dass eine Abschiebung in den Irak zulässig sei (Spruchpunkt V.); für die freiwillige Ausreise wurde eine Frist von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).
3. Die dagegen gerichteten Beschwerden wurden – nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 1. September 2020 – mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 9. September 2020 als unbegründet abgewiesen.
3.1. Zum Fluchtvorbringen der Beschwerdeführer führt das Bundesverwaltungsgericht aus, dass der Erstbeschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung bei der Schilderung des Fluchtvorbringens keine emotionale Betroffenheit gezeigt habe. Zudem habe der Erstbeschwerdeführer sein Fluchtvorbringen gesteigert.
3.2. Zur Lage im Herkunftsstaat traf das Bundesverwaltungsgericht die folgenden Länderfeststellungen:
"Die allgemeine Lage im Irak hat sich zwischenzeitlich insoweit stabilisiert, dass Personen, die keine besonderen Beeinträchtigungen aufweisen und dort über familiäre Kontakte verfügen, keine Verletzung der in Art2 und 3 EMRK geschützten Rechte (Schutz auf das Leben) zu befürchten haben.
Die Corona-Pandemie führt im Irak ebenfalls zu steigenden Fallzahlen, auf die mit Ausgangssperren und Einschränkungen des Reise- und Personenverkehrs reagiert wird."
4. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu die Abtretung an den Verwaltungsgerichtshof, beantragt wird.
5. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Verwaltungs- und Gerichtsakten vorgelegt und von der Erstattung einer Gegenschrift abgesehen.
II. Erwägungen
Der Verfassungsgerichtshof hat über die – zulässige – Beschwerde erwogen:
1. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.
Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).
Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).
2. Solche Fehler sind dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:
2.1. Das Bundesverwaltungsgericht stützt sein Erkenntnis auf die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens und der mündlichen Verhandlung am 1. September 2020. Im Hinblick zur Lage im Herkunftsstaat der Beschwerdeführer stellt das Bundesverwaltungsgericht nur fest, dass sich die allgemeine Lage im Irak zwischenzeitlich insoweit stabilisiert hat, dass Personen, die keine besonderen Beeinträchtigungen aufweisen und dort über familiäre Kontakte verfügen, keine Verletzung der in Art2 und 3 EMRK geschützten Rechte zu befürchten haben. Im Rahmen der Beweiswürdigung führt das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Feststellungen zur Lage im Irak auf dem aktuellen Länderinformationsblatt der Staatendokumentation basieren und sich ua auf die Erwägungen des UNHCR zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen, mit Stand Mai 2019 stützen.
2.1.1. In den vom Bundesverwaltungsgericht erwähnten UNHCR-Erwägungen wird zur Beurteilung der internationalen Schutzbedürftigkeit von Asylsuchenden aus dem Irak ausgeführt (UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen, Stand: Mai 2019, S 69 f.; vgl zur Indizwirkung der UNHCR-Erwägungen VwGH 13.12.2018, Ra 2018/18/0533; 13.2.2020, Ra 2019/19/0245):
"Personen mit überwiegend sunnitisch-arabischer Identität und zwar vornehmlich aber nicht ausschließlich Männer und Jungen im kampffähigen Alter aus Gebieten, die zuvor von ISIS besetzt waren, werden Berichten zufolge kollektiv verdächtigt, mit ISIS verbunden zu sein oder ISIS zu unterstützen. Seit 2014 waren Zivilisten dieses Profils regelmäßig verschiedenen Vergeltungsmaßnahmen in Form von Gewaltanwendung und Missbrauch durch staatliche und nichtstaatliche Akteure ausgesetzt, unter anderem während Militäreinsätzen gegen ISIS, während und nach der Flucht aus durch ISIS besetzten Gebieten, nach der Wiedereroberung dieser Gebiete und während anhaltender Sicherheitseinsätze gegen Überreste von ISIS.
[…]
Jedoch stellen Beobachter fest, dass die ISF, damit verbundene Kräfte und die kurdischen Sicherheitskräfte Personen regelmäßig auf der Basis weitläufiger, diskriminierender und sich häufig überschneidender Kriterien eine Verbindung zu ISIS unterstellen. Zu diesen Kriterien gehören:
die religiöse und ethnische Zugehörigkeit (sunnitische Araber oder Turkmenen),
Geschlecht und Alter (Männer und Jungen im kampffähigen Alter),
familiärer Hintergrund und Stammeszugehörigkeit, einschließlich des Herkunftsortes und/oder
Wohnsitz in einem ehemals von ISIS besetzten Gebiet im Zeitraum der Besetzung durch ISIS.
Gegen Personen dieser Profile wird regelmäßig der Verdacht der Verwicklung mit ISIS erhoben und zwar unabhängig von der Art dieser Beteiligung – also unabhängig davon, ob diese freiwillig oder erzwungen, ziviler oder militärischer Natur war. Es wird berichtet, dass Personen dieser Profile auf Basis fragwürdiger Beweise verhaftet werden, zB aufgrund von Aussagen geheimer Informanten oder weil sie auf 'Fahndungslisten' stehen, die von verschiedenen Sicherheitsakteuren geführt werden."
2.1.2. Indem das Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung zwar festgestellt hat, dass es sich bei den Beschwerdeführern um sunnitische Araber handelt, welche aus einer ehemals vom IS besetzten Provinz stammen, es aber verabsäumt hat, konkrete Feststellungen für Personen mit diesem Risikoprofil zu treffen und diese mit der individuellen Situation der Beschwerdeführer in Beziehung zu setzen, ist dem Verfassungsgerichtshof auf Grund unzureichender Feststellungen eine nachprüfende Kontrolle verwehrt. Das Bundesverwaltungsgericht hat sein Erkenntnis mit dieser Vorgangsweise mit Willkür belastet.
2.2. Auch hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten hat das Bundesverwaltungsgericht Willkür geübt:
2.2.1. Die Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichtes dazu erschöpfen sich im Wesentlichen darin, dass den Beschwerdeführern keine asylrelevante Verfolgung drohe und keine Anhaltspunkte bestünden, dass den Beschwerdeführern im Fall einer Rückkehr in den Irak die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen sei. Bei den Beschwerdeführern handle es sich um gesunde und arbeitsfähige Personen, welche über Arbeitserfahrung bzw über eine schulische Ausbildung verfügten, weshalb das Bundesverwaltungsgericht davon ausgehe, dass sie in der Lage sein werden, ihren Lebensunterhalt im Irak zu sichern.
2.2.2. Das Bundesverwaltungsgericht hat es bei seinen Ausführungen hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten unterlassen, sich konkret mit der aktuellen allgemeinen Lage in jener Region auseinanderzusetzen, aus der die Beschwerdeführer stammen bzw die als innerstaatliche Fluchtalternative fungieren soll, und diese in der Begründung des Erkenntnisses mit der individuellen Situation der Beschwerdeführer in Beziehung zu setzen (zu diesen Anforderungen in den Irak betreffenden Fällen vgl zB VfSlg 20.140/2017, 20.141/2017; VfGH 9.6.2017, E3235/2016; 9.6.2017, E566/2017; 27.2.2018, E2927/2017; 11.6.2018, E4317/2017; 26.6.2018, E4387/2017; 25.9.2018, E1764/2018 ua). Eine pauschale Beurteilung der Sicherheits- und Versorgungslage im Irak wird den Anforderungen an eine am Maßstab der Art2 und 3 EMRK vorzunehmende Beurteilung der Rückkehrsituation in solchen Staaten, in denen die Sicherheits- und Versorgungslage instabil ist und von Provinz zu Provinz variiert (siehe dazu bezogen auf den Irak VfSlg 20.141/2017) nicht gerecht (vgl zB VfGH 11.6.2018, E4317/2017; 26.6.2018, E4387/2017; 26.2.2019, E4766/2018; zu vormals vom IS kontrollierten Gebieten vgl VfGH 8.6.2020, E883/2020 ua).
2.3. Da sich die Erlassung der Rückkehrentscheidung, die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels sowie die Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat Irak unter Setzung einer Frist zur freiwilligen Ausreise an die Abweisung der Anträge auf internationalen Schutz knüpfen, ist das Erkenntnis mit Willkür behaftet und zur Gänze aufzuheben.
III. Ergebnis
1. Die Beschwerdeführer sind somit durch das angefochtene Erkenntnis in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) verletzt worden.
Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 400,– sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten.