JudikaturVfGH

E3478/2018 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung

Entscheidung
24. September 2019

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer, ein zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjähriger syrischer Staatsangehöriger, suchte am 28. Februar 2017 das österreichische Generalkonsulat Istanbul (im Folgenden: GK Istanbul) auf, um einen Antrag auf Erteilung eines Einreisetitels gemäß §35 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) iVm §26 Fremdenpolizeigesetz (FPG) zu stellen. Da er die Zustimmung seiner gesetzlichen Vertreterin zu seiner Antragstellung nicht nachweisen konnte, nahm die Behörde das Anbringen des Beschwerdeführers nicht entgegen. Die Antragstellung erfolgte erst bei einem weiteren Termin beim GK Istanbul am 18. April 2017, bei dem der Beschwerdeführer auch eine am 2. März 2017 ausgestellte schriftliche Vollmacht seiner Mutter vorlegte. Zur Begründung seines Antrags brachte der Beschwerdeführer vor, als minderjähriger lediger Sohn Familienangehöriger iSd §35 Abs5 AsylG 2005 eines namentlich bezeichneten in Österreich Asylberechtigten zu sein.

2. Mit Bescheid des GK Istanbul vom 28. August 2017 wurde der Antrag abgewiesen. Begründend wird auf die Mitteilung des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) gemäß §26 FPG iVm §35 Abs4 AsylG 2005 verwiesen, wonach die Zuerkennung des internationalen Schutzes nicht wahrscheinlich sei, da zwischen dem Beschwerdeführer und der Bezugsperson kein schützenswertes Familienleben iSd Art8 EMRK mehr bestehe.

3. Mit der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde bringt der Beschwerdeführer vor, dass er sich im Alter von fünfzehn Jahren zu Verwandten seiner Mutter nach Istanbul begeben habe, weil er befürchtete, in Syrien als Soldat oder Kämpfer einer Miliz zwangsrekrutiert zu werden. Er stehe jedoch in Kontakt zu seinen Eltern und werde von seinem in Österreich asylberechtigten Vater auch finanziell unterstützt, sein Familienleben bestehe daher auch ohne aufrechte Haushaltsgemeinschaft. Ergänzend wird vorgebracht, dass der Antrag auf Erteilung eines Einreisevisums am 28. Februar 2017 und sohin innerhalb der dreimonatigen Frist gemäß §35 Abs1 AsylG 2005 gestellt worden sei; dass die Behörde den (verbesserungsbedürftigen) Antrag nicht in Behandlung genommen habe, sei nicht dem Beschwerdeführer zuzurechnen. Daher sei von einer Antragstellung innerhalb von drei Monaten nach Rechtskraft der Entscheidung, mit der der Bezugsperson internationaler Schutz gewährt wurde, auszugehen und der Beschwerdeführer nicht verpflichtet, die Voraussetzungen gemäß §35 Abs1 letzter Satz iVm §60 Abs2 Z1 bis 3 AsylG 2005 zu erfüllen.

4. Mit Erkenntnis vom 10. Juli 2018 wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde ab. Unter Verweis auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes führt das Bundesverwaltungsgericht aus, dass es – anders als die belangte Behörde – nicht an die Mitteilung des BFA gebunden sei, mit der Prognose des BFA im vorliegenden Fall jedoch übereinstimme. Hinsichtlich des Antragszeitpunktes bestätigt das Bundesverwaltungsgericht die Ansicht der Behörde und stellt fest, dass die "Zurückweisung des Antrags des Beschwerdeführers am 28.02.2017 durch das GK Istanbul […] zu Recht erfolgt" sei, da die Zustimmung des gesetzlichen Vertreters nicht vorgelegen habe. Auf Grund der Antragstellung erst nach Verstreichen der dreimonatigen Frist (§35 Abs1 letzter Satz AsylG 2005) seien vom Beschwerdeführer die in §60 Abs2 Z1 bis 3 AsylG 2005 normierten Voraussetzungen zu erfüllen. Diese lägen jedoch nicht vor, sodass die Beschwerde abzuweisen sei. Die von der Behörde ins Treffen geführte "Argumentation, wonach aufgrund der Flucht des Beschwerdeführers in die Türkei kein schützenswertes Familienleben iSd Art8 EMRK vorliege", wird vom Bundesverwaltungsgericht nicht aufrechterhalten. Entgegen den Feststellungen im Bescheid des GK Istanbul wird das Bestehen eines Familienlebens des Beschwerdeführers mit der in Österreich asylberechtigten Bezugsperson bejaht.

5. Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende, auf Art144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, insbesondere im Recht auf Gleichbehandlung Fremder untereinander und im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art8 EMRK, behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.

6. Das Bundesverwaltungsgericht legt die Gerichts- und Verwaltungsakten vor, sieht von der Erstattung einer Gegenschrift ab und verweist auf die Begründung der angefochtenen Entscheidung. Das GK Istanbul erstattet eine Gegenschrift, in der begründet wird, warum der verfahrenseinleitende Antrag rechtmäßig erst am 18. April 2017 entgegengenommen werden konnte. Außerdem wird ausgeführt, dass das Bestehen eines Familienlebens iSd Art8 EMRK noch nicht zur Erteilung des Status des Asylberechtigten führen müsse, zumal die Möglichkeit der Familienzusammenführung nicht nur nach den Bestimmungen des AsylG 2005, sondern auch nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz bestehe.

II. Rechtslage

§35 und §60 AsylG 2005 , BGBl I 100/2005 idF BGBl I 145/2017 lauten auszugsweise wie folgt:

"Anträge auf Einreise bei Vertretungsbehörden

§35. (1) Der Familienangehörige gemäß Abs5 eines Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde und der sich im Ausland befindet, kann zwecks Stellung eines Antrages auf internationalen Schutz gemäß §34 Abs1 Z1 iVm §2 Abs1 Z13 einen Antrag auf Erteilung eines Einreisetitels bei der mit konsularischen Aufgaben betrauten österreichischen Vertretungsbehörde im Ausland (Vertretungsbehörde) stellen. Erfolgt die Antragstellung auf Erteilung eines Einreisetitels mehr als drei Monate nach rechtskräftiger Zuerkennung des Status des Asylberechtigten, sind die Voraussetzungen gemäß §60 Abs2 Z1 bis 3 zu erfüllen.

[…]

(3) Wird ein Antrag nach Abs1 oder Abs2 gestellt, hat die Vertretungsbehörde dafür Sorge zu tragen, dass der Fremde ein in einer ihm verständlichen Sprache gehaltenes Befragungsformular ausfüllt; Gestaltung und Text dieses Formulars hat der Bundesminister für Inneres im Einvernehmen mit dem Bundesminister für Europa, Integration und Äußeres und nach Anhörung des Hochkommissärs der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (§63) so festzulegen, dass das Ausfüllen des Formulars der Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts dient. Außerdem hat die Vertretungsbehörde auf die Vollständigkeit des Antrages im Hinblick auf den Nachweis der Voraussetzungen gemäß §60 Abs2 Z1 bis 3 hinzuwirken und den Inhalt der ihr vorgelegten Dokumente aktenkundig zu machen. Der Antrag auf Einreise ist unverzüglich dem Bundesamt zuzuleiten.

(4) Die Vertretungsbehörde hat dem Fremden aufgrund eines Antrags auf Erteilung eines Einreisetitels nach Abs1 oder 2 ohne weiteres ein Visum zur Einreise zu erteilen (§26 FPG), wenn das Bundesamt mitgeteilt hat, dass die Stattgebung eines Antrages auf internationalen Schutz durch Zuerkennung des Status des Asylberechtigten oder des subsidiär Schutzberechtigten wahrscheinlich ist. Eine derartige Mitteilung darf das Bundesamt nur erteilen, wenn

1. gegen den Fremden, dem der Status des Asylberechtigten oder des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde, kein Verfahren zur Aberkennung dieses Status anhängig ist (§§7 und 9),

2. das zu befassende Bundesministerium für Inneres mitgeteilt hat, dass eine Einreise den öffentlichen Interessen nach Art8 Abs2 EMRK nicht widerspricht und

3. im Falle eines Antrages nach Abs1 letzter Satz oder Abs2 die Voraussetzungen des §60 Abs2 Z1 bis 3 erfüllt sind, es sei denn, die Stattgebung des Antrages ist gemäß §9 Abs2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art8 EMRK geboten.

Bis zum Einlangen dieser Mitteilung ist die Frist gemäß §11 Abs5 FPG gehemmt. Die Vertretungsbehörde hat den Fremden über den weiteren Verfahrensablauf in Österreich gemäß §17 Abs1 und 2 zu informieren.

(5) Nach dieser Bestimmung ist Familienangehöriger, wer Elternteil eines minderjährigen Kindes, Ehegatte oder zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjähriges lediges Kind eines Fremden ist, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten oder des Asylberechtigten zuerkannt wurde, sofern die Ehe bei Ehegatten bereits vor der Einreise des subsidiär Schutzberechtigten oder des Asylberechtigten bestanden hat; dies gilt weiters auch für eingetragene Partner, sofern die eingetragene Partnerschaft bereits vor der Einreise des subsidiär Schutzberechtigten oder des Asylberechtigten bestanden hat.

Allgemeine Erteilungsvoraussetzungen

§60. […]

(2) Aufenthaltstitel gemäß §56 dürfen einem Drittstaatsangehörigen nur erteilt werden, wenn

1. der Drittstaatsangehörige einen Rechtsanspruch auf eine Unterkunft nachweist, die für eine vergleichbar große Familie als ortsüblich angesehen wird,

2. der Drittstaatsangehörige über einen alle Risiken abdeckenden Krankenversicherungsschutz verfügt und diese Versicherung in Österreich auch leistungspflichtig ist,

3. der Aufenthalt des Drittstaatsangehörige zu keiner finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft (§11 Abs5 NAG) führen könnte […]"

III. Erwägungen

Die – zulässige – Beschwerde ist begründet:

1. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

1.1. Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

1.2. Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

2. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

2.1. Das Bundesverwaltungsgericht weist die Beschwerde mit der Begründung ab, dass der Antrag auf Erteilung eines Einreisevisums mehr als drei Monate nach Rechtskraft der Entscheidung gestellt wurde, mit der der Bezugsperson in Österreich internationaler Schutz zuerkannt wurde. Ein Visum dürfe diesfalls gemäß §35 Abs1 letzter Satz AsylG 2005 nur erteilt werden, wenn der den Antrag stellende Familienangehörige die Voraussetzungen des §60 Abs2 Z1 bis 3 AsylG 2005 erfüllt. Dies sei im vorliegenden Fall aber nicht gegeben. "Einzig der Vollständigkeit halber" führt das Bundesverwaltungsgericht aus, dass – entgegen den Feststellungen der Behörde – ein schützenswertes Familienleben gemäß Art8 EMRK vorliege: Die Beziehung zwischen Eltern und Kindern sei eine besonders geschützte Verbindung, die nur unter außergewöhnlichen Umständen als aufgelöst betrachtet werden könne. Die Trennung des Beschwerdeführers von der Bezugsperson sei durch die Flucht der Bezugsperson verursacht worden. Dafür, dass im vorliegenden Fall durch außergewöhnliche Umstände jede Verbindung gelöst worden sei, gebe es keine Anhaltspunkte. Es liege daher ein schützenswertes Familienleben gemäß Art8 EMRK vor.

2.2. Rechtliche Konsequenzen zieht das Bundesverwaltungsgericht aus dieser Feststellung jedoch nicht. Es übersieht insbesondere, dass gemäß §35 Abs4 Z3 AsylG 2005 die in §60 Abs2 Z1 bis 3 AsylG 2005 normierten Voraussetzungen nicht vorliegen müssen, wenn die Stattgabe des Antrags zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens iSd Art8 EMRK erforderlich ist. Das Bundesverwaltungsgericht bejaht zwar das Vorliegen eines schutzwürdigen Familienlebens, unterlässt aber die im Lichte des Art8 EMRK gebotene und gesetzlich ausdrücklich vorgesehene Interessenabwägung. Durch dieses Verkennen der Rechtslage ist das angefochtene Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes mit Willkür behaftet.

IV. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– enthalten.

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