E1944/2019 ua – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung
Spruch
I. Die Beschwerdeführer sind durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.
Das Erkenntnis wird aufgehoben.
II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den Beschwerdeführern zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 4.491,60 bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Die Beschwerdeführer sind irakische Staatsangehörige. Bei den volljährigen Erst-, Zweit- und Drittbeschwerdeführern handelt es sich um Brüder. Der Drittbeschwerdeführer ist mit der volljährigen Viertbeschwerdeführerin verheiratet und hat mit ihr die drei minderjährigen Kinder, nämlich den im Irak geborenen Sechstbeschwerdeführer sowie die Fünft- und Siebtbeschwerdeführer, die beide in Österreich geboren wurden.
2. Die Erst-, Zweit- und Drittbeschwerdeführer stellten jeweils am 16. September 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz, den sie im Wesentlichen damit begründeten, dass ihre Familie aus der sunnitischen Stadt Al-Anbar komme. Auf Grund des Kriegs und der Unruhen in Al-Anbar seien sie in die schiitische Stadt Basra gezogen. In Basra seien sie auf Grund ihrer sunnitischen Herkunft von der schiitischen Miliz verfolgt worden. Die Viertbeschwerdeführerin stellte am 1. April 2016 für sich und den minderjährigen Sechstbeschwerdeführer einen Antrag auf internationalen Schutz, wobei sie angab, nach Österreich gekommen zu sein, weil ihr Mann, der Drittbeschwerdeführer, hier lebe; dieser sei auf Grund seiner Religion im Irak bedroht worden. Für die in Österreich geborenen Fünft- und Siebtbeschwerdeführer stellte die Viertbeschwerdeführerin als gesetzliche Vertreterin am 3. Juni 2016 bzw am 19. Mai 2017 einen Antrag auf ein Familienverfahren.
3. Mit den angefochtenen Bescheiden des Erst- und Zweitbeschwerdeführers vom 19. Juli 2016 sowie der Dritt- bis Sechstbeschwerdeführer vom 14. Juli 2016 sowie der Siebtbeschwerdeführerin vom 11. Juli 2017 wies die belangte Behörde die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.). Den Beschwerdeführern wurde der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) sowie eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt (Spruchpunkt III.) und zwar dem Erst- und Zweitbeschwerdeführer bis zum 19. Juli 2017, den Dritt- bis Sechstbeschwerdeführern bis zum 14. Juli 2017 und der Siebtbeschwerdeführerin bis zum 1. Juli 2019.
4. Nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 15. Jänner 2019 – in der die Beschwerdeführer insbesondere eine Verfolgung auf Grund ihres sufistischen Glaubens vorbrachten – wies das Bundesverwaltungsgericht die gegen Spruchpunkt I. gerichteten Beschwerden mit der angefochtenen Entscheidung vom 10. April 2019 als unbegründet ab. Zu den Beschwerdeführern stellte das Bundesverwaltungsgericht fest, dass sich diese "zum moslemisch sunnitischen Glauben [bekennen]. Sie sind Sufisten und gehören alle der Gruppe der Araber an". Die Nichtgewährung des Status der Asylberechtigten begründet das Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen wie folgt:
"Wie in der Beweiswürdigung dargestellt, konnte im gegenständlichen Fall keiner der Beschwerdeführer Gründe glaubhaft machen, die für eine asylrelevante Verfolgung sprächen. Das Fluchtvorbringen einer Bedrohung aufgrund der sunnitischen Abstammung konnte unter Abwägung aller in der Beweiswürdigung dargelegter Gründe nicht glaubhaft gemacht werden. Zudem besteht nach den Länderberichten zum Irak keine Verfolgungsgefahr wegen der Zugehörigkeit zur islamisch-sunnitischen Glaubensgemeinschaft. Aus den Länderberichten zum Irak geht zwar hervor, dass Sunniten vereinzelt Verfolgungen und allgemeine Benachteiligungen erlitten, doch ergeben sich daraus keine Hinweise auf eine etwaige allgemeine systematische 'Gruppenverfolgung' von Sunniten. Bezogen auf die Herkunftsregion der Beschwerdeführer lässt sich aus den Länderberichten zum Irak jedoch kein Anhaltspunkt in Hinblick auf eine Verfolgung bzw allgemeine Benachteiligung von Sunniten entnehmen. Der Umstand, dass diese Region mehrheitlich von Angehörigen der islamisch-schiitischen Glaubensgemeinschaft bevölkert ist, ist kein glaubhafter Grund, dass bereits eine Verfolgung von Angehörigen der islamisch-sunnitischen Glaubensgemeinschaft ernstlich zu befürchten wäre. Hierfür geben die zur Verfügung stehenden aktuellen Länderinformationen zum Irak keine Anhaltspunkte.
Die Beschwerdeführer konnten aber auch keine individuellen Gründe glaubhaft machen, die eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung der Beschwerdeführer im Lichte ihrer speziellen Situation als sunnitische Araber in einer mehrheitlich von schiitischen Arabern bewohnten Region unter Berücksichtigung der auf Basis der Länderfeststellungen festgestellten Verhältnisse im Irak, im Besonderen ihrer Region des Iraks, aus der sie stammen und in der sie bislang gelebt haben, objektiv nachvollziehbar ist.
Die Voraussetzungen für die Erteilung von Asyl sind daher nicht gegeben. Aus diesem Grund war die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide gemäß §28 Abs2 VwGVG iVm §3 Abs1 AsylG als unbegründet abzuweisen."
5. Gegen dieses Erkenntnis richten sich die vorliegenden, auf Art144 B VG gestützten Beschwerden in denen die Verletzung in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, insbesondere im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973) geltend gemacht wird und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird. Begründend wird dazu im Wesentlichen ausgeführt, die Beschwerdeführer hätten im Verfahren vorgebracht, "dass sie im Irak bei öffentlicher Ausübung ihres sufistischen Glaubens mit verfahrensmaßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevanten Verfolgungshandlungen ausgesetzt wären". Einer Verfolgung hätten die Beschwerdeführer "bislang nur aufgrund der Geheimhaltung ihres Glaubens entgehen [können]". Den Erkenntnissen liege als Feststellung zugrunde, dass es sich bei den Beschwerdeführern um Sufisten handle. Dennoch würde das Erkenntnis – trotz diesbezüglicher Anhaltspunkte in diversen Berichten – keine Angaben zu den Gefahren und Risiken für Angehörige von religiösen Minderheiten enthalten. Auch lasse sich der aus den Quellen gezogene Schluss, wonach "eine deutliche Entspannung der Sicherheitslage und der allgemeinen Lage im Irak" eingetreten sei, aus den zitierten Länderinformationen im Zusammenhang mit der Verfolgungsgefahr auf Grund der sunnitischen Glaubenszugehörigkeit nicht erschließen. Zudem habe "es das BVwG verabsäumt […], sich mit der drohenden Gefahrenlage betreffend die [Viertbeschwerdeführerin] in Bezug auf ihr Geschlecht in Kumulation mit den sonstigen vorgebrachten Fluchtgründen[,] wie auch der in Österreich erlebten Freiheit im Falle einer Rückkehr in die festgestellte Herkunftsprovinz[,] auseinanderzusetzen". Auch auf ein Vorbringen zu einer asylrelevanten Verfolgung betreffend den minderjährigen Fünftbeschwerdeführer sei nicht eingegangen worden. Dieser leide an Entwicklungsverzögerungen; ihm drohe daher auf Grund seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Kinder mit Behinderungen asylrelevante Verfolgung.
6. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der es auf die Frage der Zulässigkeit eingeht und im Wesentlichen ausführt, das Vorbringen zur Verfolgung auf Grund der Anhängerschaft zum Sufismus sei in keiner Weise glaubhaft gewesen. Das Vorbringen sei erstmals in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht erstattet worden und unterliege im Übrigen dem Neuerungsverbot des §20 BFA-VG. Bereits aus diesem Grund sei darauf nicht einzugehen gewesen.
7. Die Beschwerdeführer im zu E1944-1947/2019 protokollierten Verfahren erstatteten dazu eine Replik, in der sie den Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichtes entgegentreten.
II. Erwägungen
Der Verfassungsgerichtshof hat über die in sinngemäßer Anwendung der §§187 und 404 ZPO iVm §35 Abs1 VfGG zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung verbundenen – zulässigen – Beschwerden erwogen:
1. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.
Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).
Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).
2. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:
Das Bundesverwaltungsgericht stellt zunächst ausdrücklich fest, dass es sich bei den Beschwerdeführern um Sufisten handelt. Mit dem darauf gestützten Fluchtvorbringen der Beschwerdeführer setzt sich das Bundesverwaltungsgericht aber an keiner Stelle der Entscheidung auseinander, sondern führt lediglich allgemein aus, dass keiner der Beschwerdeführer Gründe für eine asylrelevante Verfolgung habe glaubhaft machen können und keine Verfolgungsgefahr wegen der Zugehörigkeit zur islamisch-sunnitischen Glaubensgemeinschaft bestehe. Dies obgleich sowohl das vom Bundesverwaltungsgericht herangezogene "Länderinformationsblatt der Staatendokumentation" zum Irak vom 20. November 2018 als auch der zum Entscheidungszeitpunkt vorhandene EASO Bericht zum Vorgehen staatlicher und nicht-staatlicher Akteure gegen Einzelpersonen vom März 2019 Gefahren und Risiken für Angehörige von religiösen Minderheiten aufzeigen (s im Übrigen auch die ACCORD-Anfragenbeantwortung zum Irak: "Informationen zu Sufis, insbesondere zum Kasnazania-Orden" vom 16. Mai 2019).
Soweit das Bundesverwaltungsgericht nunmehr in seiner Gegenschrift ausführt, das Vorbringen im Hinblick auf die Anhängerschaft zum Sufismus sei nicht glaubhaft gewesen und unterliege dem Neuerungsverbot des §20 BFA-VG, ist darauf hinzuweisen, dass die Feststellung, die Beschwerdeführer seien Sufisten, dem Erkenntnis zugrunde gelegt wurde und die Beschwerdeführer im gesamten Verfahren eine Verfolgung aus religiösen Gründen vorgebracht haben.
Da es das Bundesverwaltungsgericht unterlassen hat, sich mit einem zentralen Aspekt des Fluchtvorbringens auseinanderzusetzen, hat es seine Entscheidung mit Willkür belastet.
III. Ergebnis
1. Die Beschwerdeführer sind somit durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) verletzt worden.
2. Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 588,60 sowie die Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 960,– enthalten. Da die Beschwerdeführer gemeinsam durch einen Rechtsanwalt vertreten sind, ist der einfache Pauschalsatz, erhöht um einen entsprechenden Streitgenossenzuschlag zuzusprechen. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist betreffend die von den Dritt-, Sechst- und Siebtbeschwerdeführern eingebrachte Beschwerde nicht zuzusprechen, weil die Beschwerdeführer Verfahrenshilfe (auch) im Umfang des §64 Abs1 Z1 lita ZPO genießen.