JudikaturVfGH

E1592/2019 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung

Entscheidung
26. Juni 2019

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfas-sungsgesetzlich gewährleisteten Recht gemäß Art47 Abs2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskos-ten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte nach illegaler Einreise am 5. Oktober 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

1.1. Bei der Erstbefragung am 24. Oktober 2015 gab der Beschwerdeführer an, er stamme ursprünglich aus der Provinz Wardak und bekenne sich zum moslemischen Glauben schiitischer Ausrichtung. Er habe seinen Herkunftsstaat drei Monate zuvor zu Fuß Richtung Iran verlassen und sei von dort aus schlepperunterstützt über die Türkei nach Griechenland und in der Folge gemeinsam mit dem Flüchtlingsstrom nach Österreich gereist. Zum Grund seiner Flucht schilderte der Beschwerdeführer, sein Heimatort Wardak beheimate nur Schiiten; vor einigen Monaten seien die Taliban gekommen und hätten viele Leute getötet, in der Folge habe niemand mehr die Ortschaft verlassen dürfen; Bewohner, die versucht hätten aus dem Dorf zu gelangen, seien erschossen worden. Er hätte einen Helfer gefunden, der ihn nachts aus der Ortschaft gebracht habe. Es gebe dort keine Sicherheit mehr, sein Leben sei in Gefahr gewesen.

1.2. In seiner niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 23. Mai 2017 brachte der Beschwerdeführer vor, er sei seit seinem 16. Lebensjahr ohne religiöses Bekenntnis. Anlässlich seiner Erstbefragung habe er die Wahrheit angegeben; nachdem er Deutsch erlernt habe, sei ihm jedoch aufgefallen, dass einige Punkte ungenau bzw inkorrekt niedergeschrieben worden seien. So sei er etwa nach der Religion seiner Eltern, nicht jedoch nach seiner eigenen gefragt worden. Näherhin führte der Beschwerdeführer aus, er habe eine Abneigung gegen den Islam. Sein Bruder sei sehr religiös und habe ihn deshalb unter Druck gesetzt. Anlässlich einer religiösen Zeremonie in seinem Elternhaus sei der Beschwerdeführer vom Schwiegervater seiner Schwester gefragt worden, weshalb er nicht faste; der Beschwerdeführer habe geantwortet, dass er im Islam keine Logik finde und habe den Propheten beschimpft, woraufhin es zu einer Auseinandersetzung gekommen wäre. Daraufhin sei er vom Schwiegervater seiner Schwester und von seinem Bruder geschlagen worden. Einige Zeit später habe der Bruder den Beschwerdeführer mit einem Regenschirm geschlagen und gesagt, dass es besser wäre, wenn es den Beschwerdeführer nicht gebe, da er mit der Ehre der Familie gespielt hätte. Die Schwester des Beschwerdeführers hätte nach einiger Zeit berichtet, dass überall über diesen Vorfall gesprochen werde, der Beschwerdeführer in Gefahr sei und flüchten solle. Der Beschwerdeführer habe daraufhin Angst bekommen und er sei in den Iran geflohen. Auf Vorhalt der anlässlich der Erstbefragung gänzlich anderen Darstellung des Fluchtgrundes erklärte der Beschwerdeführer, dass es sich hiebei – infolge von Problemen mit dem Dolmetscher – um den Fluchtgrund seiner Mutter und seines Bruders gehandelt hätte.

2. Mit Bescheid vom 13. April 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten als auch eines subsidiär Schutzberechtigten ab (Spruchpunkte I. und II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gem. §57 AsylG wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gemäß §10 Abs1 Z3 AsylG iVm §9 BFA-VG gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung nach §52 Abs2 Z2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) sowie gemäß §52 Abs9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß §46 FPG nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt V.); gemäß §55 Abs1 bis 3 FPG wurde die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

3. In der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde an das Bundesverwal-tungsgericht führte der Beschwerdeführer aus, er fürchte in Afghanistan Verfolgung auf Grund seines Abfalls vom Islam, seiner islamkritischen Äußerungen und der damit einhergehenden Verletzung der Familienehre. Der afghanische Staat sei nicht in der Lage, den Beschwerdeführer effektiv vor einer solchen Verfolgung zu schützen, zumal ein Abfall vom Islam auch von staatlicher Seite massiv sanktioniert werde und von einer Schutzfähigkeit der afghanischen Behörden generell nicht auszugehen sei. Eine innerstaatliche Fluchtalternative bestehe einerseits auf Grund des verbreiteten familiären Netzwerks, andererseits wegen der aktuell prekären Sicherheits- und humanitären Lage in Zusammenschau mit den besonderen Merkmalen des Beschwerdeführers als Apostat und Rückkehrer aus dem westlichen Ausland nicht. Die Behörde habe die Anforderungen an ein ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren verletzt, indem sie den Beschwerdeführer nicht näher zu seiner religiösen Einstellung und den Gründen seiner Abwendung vom Islam befragt hätte; der Beschwerdeführer lehne den islamischen Glauben aus Überzeugung ab und wolle sein Leben frei von religiösen Zwängen führen.

4. Das Bundesverwaltungsgericht wies diese Beschwerde mit Erkenntnis vom 18. März 2019 ab. Es führte begründend aus, dass es die Situation von Apostaten in Afghanistan nicht verkenne, der Beschwerdeführer jedoch einen aus innerer Überzeugung getragenen Abfall vom Islam nicht glaubhaft machen habe können. Bereits auf Grund der massiv widersprüchlichen Darstellung der fluchtauslösenden Ereignisse müsse davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer die behauptete Bedrohungssituation auf Grund seiner islamkritischen Haltung niemals selbst erlebt habe, sondern im Verfahren einen konstruierten tatsachenwidrigen Sachverhalt vorgebracht habe, um eine für ihn günstige Entscheidung über seinen Antrag zu bewirken. Er habe daher im Fall der Rückkehr keine asylrelevante Verfolgung durch die afghanische Gesellschaft oder durch Behörden Afghanistans auf Grund einer in der Vergangenheit kundgemachten kritischen bzw ablehnenden Haltung gegenüber dem Islam zu befürchten.

Das Absehen von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung begründet das Bundesverwaltungsgericht unter Verweis auf §21 Abs7 BFA-VG damit, dass der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt sei. Die Beschwerde sei der Beweiswürdigung der belangten Behörde nicht substantiiert entgegengetreten und habe keine neuen Tatsachen vorgebracht.

5. Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende, auf Art144 B VG gestützte Beschwerde, in der der Beschwerdeführer eine Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des Erkenntnisses beantragt.

6. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Verwaltungs- bzw Gerichtsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift bzw Äußerung jedoch — gleich dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl – abgesehen.

II. Erwägungen

Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

1. Für das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht regelt §21 Abs7 BFA VG den Entfall der mündlichen Verhandlung. Das Absehen von einer mündlichen Verhandlung steht – sofern zuvor bereits ein Verwaltungsverfahren stattgefunden hat, in dessen Rahmen Parteiengehör gewährt wurde – jedenfalls in jenen Fällen im Einklang mit Art47 Abs2 GRC, in denen der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen tatsachenwidrig ist (vgl VfSlg 19.632/2012).

2. Das Absehen von einer mündlichen Verhandlung, wenn diese zur Gewährleistung einer, den Anforderungen des Art47 Abs2 GRC an ein faires Verfahren entsprechenden Entscheidung des erkennenden Gerichtes geboten ist, stellt aber eine Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht gemäß Art47 Abs2 GRC dar (VfGH 13.3.2013, U1175/12 ua; 26.6.2013, U1257/2012; 22.9.2014, U2529/2013).

3. Eine solche Verletzung von Art47 Abs2 GRC ist dem Bundesverwaltungsgericht hier anzulasten:

3.1. Für die Beurteilung, ob es sich beim Glaubensabfall des Beschwerdeführers lediglich um eine Scheinapostasie handelt, kommt der Frage der inneren (Glaubens )Überzeugung des Beschwerdeführers maßgebliche Bedeutung zu (vgl VfSlg 19.837/2013; VfGH 13.3.2019, E3767/2018; 26.2.2018, E 3296/2017 ). Für diese Beurteilung ist insbesondere – wenn auch nicht im gleichen Maß wie bei behaupteter Konversion – der persönliche Eindruck des Beschwerdeführers erheblich. Einen solchen Eindruck vermag vor dem Hintergrund des hier vorliegenden Falles, in dem ausschließlich auf einen Widerspruch zwischen der Ersteinvernahme vom 24. Oktober 2015 und der späteren Einvernahme vom 23. Mai 2017 abgestellt wurde, aber nur eine Einvernahme in einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht zu vermitteln.

3.2. Im vorliegenden Fall, in dem die Entscheidung über das Vorliegen eines Asylgrundes wesentlich von der Glaubwürdigkeit des Asylwerbers in Bezug auf seine innere Einstellung, nämlich hier seiner religiösen Überzeugung, abhängt, für deren Beurteilung der persönliche Eindruck maßgeblich ist, verlangt Art47 Abs2 GRC, dass sich das erkennende Gericht selbst unmittelbar in einer mündli-chen Verhandlung diesen Eindruck verschafft (vgl in diesem Zusammenhang EGMR 29.10.1991, Fall Helmers , Appl 11.826/85, Rz 37 zum Gebot der öffentlichen mündlichen Verhandlung im Rechtsmittelverfahren; weiters mwN VfSlg 19.632/2012). Indem das erkennende Gericht im vorliegenden Fall die mündliche Verhandlung unterlassen hat, unterstellt es §21 Abs7 BFA-VG einen mit Art47 Abs2 GRC nicht zu vereinbarenden Inhalt und verletzt damit den Beschwerdeführer in seinem durch diese Bestimmung verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht.

III. Ergebnis

Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht gemäß Art47 Abs2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten.

Rückverweise