JudikaturVfGH

E3528/2018 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung

Entscheidung
12. Juni 2019

Spruch

I. 1. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis, insoweit damit die Rückkehrentscheidung der belangten Behörde bestätigt wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art8 EMRK verletzt worden.

Die Entscheidung wird insoweit aufgehoben.

2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

II. Dem gemäß §63 Abs1 ZPO, §35 VfGG gestellten Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe im Umfang des §64 Abs1 Z1 lita bis d ZPO wird stattgegeben.

III. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,— bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der am 22. Mai 1986 geborene Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Republik Irak. Er reiste illegal nach Österreich ein und stellte am 3. November 2015 gemeinsam mit seiner damaligen Ehegattin und seinen drei minderjährigen Kindern einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Seit 12. Dezember 2016 lebt der Beschwerdeführer getrennt von seiner Ehegattin und seinen Kindern. Er wurde nach einer Auseinandersetzung von der Unterkunft seiner Frau und seiner Kinder "weggewiesen". Der Verfassungsgerichtshof geht auf Basis der ihm vorliegenden Informationen im Verwaltungsakt davon aus, dass gegen den Beschwerdeführer ein Betretungsverbot und eine Wegweisung zum Schutz vor Gewalt gemäß §38a Sicherheitspolizeigesetz verhängt wurde.

3. Mit Bescheid vom 20. November 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz ab. Der Status eines Asyl- oder subsidiär Schutzberechtigten wurde ihm nicht zuerkannt, ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde nicht erteilt. Gegen den Beschwerdeführer wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass seine Abschiebung in den Irak zulässig sei, wobei die Frist für seine freiwillige Ausreise 14 Tage betrage. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.

Die Anträge der Ehegattin und der drei minderjährigen Kinder wurden mit Bescheiden vom selben Tag gemäß §3 AsylG 2005 ebenfalls abgewiesen, es wurde jedoch allen der Status von subsidiär Schutzberechtigten nach §8 AsylG 2005 zuerkannt und eine befristete Aufenthaltsberechtigung gewährt.

4. Am 5. Juli 2018 wurde mit Beschluss des Bezirksgerichts Villach die Ehe des Beschwerdeführers einvernehmlich geschieden. Für den Fall der Rechtskraft der Scheidung wurde eine schriftliche Vereinbarung gemäß §55a Ehegesetz getroffen, in der ein Kontaktrecht des Beschwerdeführers zu seinen Kindern mit "alle zwei Wochen am Samstag von 9.00 Uhr bis 18.00 Uhr und am Sonntag von 9.00 Uhr bis 18.00 Uhr" festgelegt ist.

5. Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 27. Juli 2018 wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab. Zur Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten führt das Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen aus, dass es dem Beschwerdeführer nicht gelungen sei, eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung glaubhaft zu machen, und dass es – bei Wahrunterstellung des behaupteten Bedrohungs- bzw Verfolgungsszenarios – zudem mehrere innerstaatliche Fluchtalternativen gebe. Auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten seien nicht gegeben.

In der Begründung der Rückkehrentscheidung führt das Bundesverwaltungsgericht zum Familienleben des Beschwerdeführers ("BF") mit seiner von ihm geschiedenen Ehegattin ("MA") und den gemeinsamen Kindern Folgendes aus:

"Der BF verfügt in Österreich aufgrund des zum Entscheidungszeitpunkt rechtmäßigen Aufenthaltes der MA und seiner Kinder im Bundes[ge]biet über ein schützenswertes Privat- und Familienleben iSd Art8 EMRK. Diese[s] muss jedoch angesichts der gegen ihn ausgesprochenen Wegweisung eine Relativierung hinnehmen. Neben der Wegweisung zeigt auch die Ehescheidung von der MA deutlich, dass das Verhältnis des BF zur MA schwer zerrüttet ist. Der BF lebt seit dem 12.12.2016 und somit seit über eineinhalb Jahren nicht mehr mit seiner Familie zusammen. Seit diesem Zeitpunkt hatte der BF seinen eigenen Angaben zufolge nur einmal Kontakt mit seinen Kindern. Auch wenn nach der Rechtsprechung des VwGH das Fehlen eines häuslichen Zusammenlebens allein nicht ausschlaggebend für das Bestehen eines gemeinsamen Familienlebens ist, so muss dieses im Hinblick auf die Beziehung des BF zu seiner Familie in Anbetracht der gesamten tatsächlichen Verbindung insofern relativiert werden, dass Anhaltspunkte einer tatsächlichen, tiefgreifenden Bindung des BF zu der MA und zu seinen Kindern, welche den Verbleib der BF im Bundesgebiet notwendig machen würde, nicht besteh[en].

[…]

Auch wenn sich die MA und die Kinder des BF zurzeit legal im Bundesgebiet aufhalten, ist zu unterstreichen, dass das Verhältnis zu der MA äußerst schlecht ist und seit geraumer Zeit kein Kontakt zu den Kindern besteht. Die MA hat sowohl die Trennung als auch eine Scheidung vom BF angestrengt. Zudem muss die Rückkehr des BF in den Irak nicht unweigerlich mit einem völligen Abbruch seiner Beziehungen in Österreich einhergehen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass der BF diese über die Nutzung moderner Kommunikationsmittel weiterhin aufrechterhalten wird können. Anhaltspunkte, welche eine derartige Kontakthaltung als nicht möglich ansehen ließen, können nicht festgestellt werden und wurde dies vom BF auch nicht konkret behauptet. Demgegenüber überwiegt das öffentliche Interesse am Schutz der öffentlichen Ordnung, insbesondere in Hinblick auf die Einhaltung eines geordneten Vollzuges des Aufenthalts- und Fremdenrechts, die privaten und familiären Interessen des BF an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet."

Die gegen die Nichtzuerkennung des Status von Asylberechtigten gerichteten Beschwerden der geschiedenen Ehegattin und der drei minderjährigen Kinder wurden mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts ebenfalls vom 27. Juli 2018, Zlen G305 217920-1/8E ua, abgewiesen.

6. Gegen das den Beschwerdeführer betreffende Erkenntnis richtet sich die auf Art144 B VG gestützte Beschwerde, in welcher dieser eine Verletzung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art8 EMRK und wegen der unterlassenen Berücksichtigung des §34 AsylG 2005 (Familienverfahren im Inland) eine Verletzung des Rechts auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander gemäß ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973 geltend macht.

7. Das Bundesverwaltungsgericht legte die Akten des verwaltungsbehördlichen und des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens vor, nahm aber von der Erstattung einer Gegenschrift Abstand.

II. Erwägungen

Der Verfassungsgerichtshof hat zur – zulässigen – Beschwerde erwogen:

1. Ein Eingriff in das durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte – unter Gesetzesvorbehalt stehende – Recht ist dann verfassungswidrig, wenn die ihn verfügende verwaltungsgerichtliche Entscheidung ohne jede Rechtsgrundlage ergangen ist, auf einer dem Art8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht oder wenn das Verwaltungsgericht bei Erlassung der Entscheidung eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hat; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn das Verwaltungsgericht einen so schweren Fehler begangen hat, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn es der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art8 Abs1 EMRK widersprechenden und durch Art8 Abs2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hat (vgl VfSlg 11.638/1988, 15.051/1997, 15.400/1999, 16.657/2002).

2. Dem Bundesverwaltungsgericht ist bei der gemäß Art8 Abs2 EMRK gebotenen Abwägung ein solcher, in die Verfassungssphäre reichender Fehler vorzuwerfen:

2.1. Wie der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis VfSlg 17.340/2004 ausgeführt hat, darf eine Aufenthaltsbeendigung nicht verfügt werden, wenn dadurch das Recht auf Schutz des Privat- und Familienlebens des Betroffenen verletzt würde. Bei der Beurteilung nach Art8 EMRK ist eine Interessenabwägung vorzunehmen (vgl die in VfSlg 18.223/2007 und 18.224/2007 wiedergegebene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte).

Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte entsteht ein von Art8 Abs1 EMRK geschütztes Familienleben zwischen Eltern und Kind mit dem Zeitpunkt der Geburt (vgl EGMR 21.6.1988, Fall Berrehab , Appl 10.730/84 [Z21]; 26.5.1994, Fall Keegan , Appl 16.969/90 [Z44]). Diese besonders geschützte Verbindung kann in der Folge nur unter außergewöhnlichen Umständen als aufgelöst betrachtet werden (EGMR 19.2.1996, Fall Gül , Appl 23.218/94 [Z32], ÖJZ 1996, 593). Das Zusammenleben zwischen einem Elternteil und dem Kind ist dabei keine unabdingbare Voraussetzung für das Vorhandensein eines Familienlebens iSv Art8 Abs1 EMRK. Das Auflösen einer Hausgemeinschaft von Eltern und Kindern alleine führt jedenfalls nicht zur Beendigung des Familienlebens, solange nicht jegliche Bindung gelöst ist (vgl EGMR 24.4.1996, Fall Boughanemi, Appl 22.070/93 [Z33 und 35], ÖJZ 1996, 834; VfSlg 16.777/2003; VfGH 12.10.2016, E1349/2016).

Davon ausgehend kann eine unzureichende Berücksichtigung des Kindeswohles zur Fehlerhaftigkeit der Interessenabwägung und somit zu einer Verletzung des Art8 EMRK führen (vgl VfSlg 19.362/2011 mwN; VfGH 28.2.2012, B1644/10 mit Hinweis auf EGMR 31.1.2006, Fall Rodrigues da Silva und Hoogkamer , Appl 50.435/99, newsletter 2006, 26 = ÖJZ 2006, 738 = EuGRZ 2006, 562, sowie insbesondere EGMR 28.6.2011, Fall Nunez , Appl 55.597/09, newsletter 3/2011, 169).

2.2. Das Bundesverwaltungsgericht geht zutreffend von einem schützenswerten Privat- und Familienleben iSd Art8 EMRK des Beschwerdeführers aus, meint aber, dass dieses angesichts der ausgesprochenen Wegweisung und der Ehescheidung eine Relativierung hinnehmen müsse. Bei seiner Interessenabwägung nimmt das Bundesverwaltungsgericht lediglich auf das Verhältnis des Beschwerdeführers zu seiner geschiedenen Ehegattin Bedacht und misst dem Umstand, dass der Beschwerdeführer drei minderjährige Kinder hat, letztlich keine Bedeutung bei (vgl zur maßgeblichen Berücksichtigung dieses Umstandes VfSlg 18.846/2009; vgl idS auch VfSlg 18.417/2008, 18.499/2008, 19.362/2011; VfGH 22.6.2009, U1031/09; 9.6.2016, E2617/2015). Das Bundesverwaltungsgericht unterlässt es, die familiäre Verbindung des Beschwerdeführers zu seinen Kindern, die schon vor deren Ausreise aus dem Irak entstand, zu würdigen und die Auswirkungen der Entscheidung auf das Kindeswohl ausreichend zu berücksichtigen (vgl zur Berücksichtigung des Kindeswohles bei der Interessenabwägung nach Art8 EMRK: VfSlg 19.362/2011; VfGH 12.10.2016, E1349/2016; 11.6.2018, E343, 345/2018 mwN). Dies obgleich sich daraus ergeben könnte, dass – angesichts der besonderen Bedürfnisse von Kindern in der ersten Lebensphase – auch dem Beschwerdeführer ein Aufenthalt zu ermöglichen ist.

Das Bundesverwaltungsgericht stellt zwar fest, dass der Beschwerdeführer seinen eigenen Angaben zufolge seit dem Zeitpunkt der Wegweisung, dem 12. Dezember 2016, "nur einmal Kontakt mit seinen Kindern" gehabt habe und dass "seit geraumer Zeit kein Kontakt zu den Kindern" bestehe. Dieser Feststellung kann aber im konkreten Fall im Rahmen der Interessenabwägung iSd Art8 EMRK kein maßgebliches Gewicht beigemessen werden, weil der Beschwerdeführer mit diesem Abstandhalten nur das gegen ihn verhängte Betretungsverbot beachtet hat, worauf der Beschwerdeführer in der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 28. September 2017 auch hingewiesen hat ("Die Polizei hat gesagt, dass ich meine Kinder nicht sehen darf und 70 Meter Abstand zu meiner Familie haben muss."). Erst durch den gerichtlichen Vergleich vom 5. Juli 2018 hat der Beschwerdeführer wieder ein Kontaktrecht zu seinen Kindern erhalten, dessen Inanspruchnahme durch den Beschwerdeführer in der angefochtenen Entscheidung vom 27. Juli 2018 aber noch nicht festgestellt und bewertet werden konnte.

Wenn das Bundesverwaltungsgericht weiters meint, dass die Beziehungen des Beschwerdeführers zu seinen Kindern "über die Nutzung moderner Kommunikationsmittel weiterhin aufrechterhalten" werden könnten, so ist auf die Judikatur des Verfassungsgerichtshofes zu verweisen, wonach es lebensfremd ist, dass der Kontakt zwischen einem Kleinkind und einem Elternteil über Telekommunikation und elektronische Medien aufrecht erhalten werden könne (vgl VfGH  22.6.2009, U1031/09; 25.2.2013, U2241/12; 19.6.2015, E426/2015; 12.10.2016, E1349/2016; 11.6.2018, E343, 345/2018).

2.3. Indem das Bundesverwaltungsgericht auf all diese Überlegungen in keiner Weise spezifisch für den konkreten Fall in seiner Interessensabwägung eingeht, sondern unter Außerachtlassen eines wesentlichen Aspektes des Kindeswohles mit bloß abstrakt gehaltenen Hinweisen vom Überwiegen öffentlicher Interessen an der Aufenthaltsbeendigung des Beschwerdeführers ausgeht, hat es seiner Entscheidung einen nicht von Art8 EMRK gedeckten Inhalt unterstellt. Die Entscheidung ist daher insoweit aufzuheben, als mit ihr die im angefochtenen Bescheid getroffene Rückkehrentscheidung bestätigt wird.

3. Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist. Eine solche Klärung ist dann nicht zu erwarten, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.

Soweit durch die angefochtene Entscheidung dem Beschwerdeführer der Status eines Asylberechtigten bzw eines subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt wurde, wären die gerügten Rechtsverletzungen im vorliegenden Fall nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen, insbesondere der Frage, ob §34 AsylG 2005 (Familienverfahren im Inland) bei dem gegebenen Sachverhalt anzuwenden gewesen wäre, nicht anzustellen. Demgemäß wurde beschlossen, in diesem Umfang von einer Behandlung der Beschwerde abzusehen (§19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG).

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist durch die Bestätigung der Rückkehrentscheidung im angefochtenen Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art8 EMRK verletzt worden. Das angefochtene Erkenntnis wird daher insoweit aufgehoben.

2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil der Beschwerdeführer Verfahrenshilfe (auch) im Umfang des §64 Abs1 Z1 lita ZPO genießt.

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