JudikaturVfGH

E1809/2018 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung

Entscheidung
11. Juni 2019

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Das Land Wien ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 1.897,80 bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer ist italienischer Staatsangehöriger und lebt seit 2004 in Österreich. Mit Antrag vom 12. Juli 2005 beantragte der Beschwerdeführer Leistungen der (damals) Sozialhilfe beim Magistrat der Stadt Wien. Dem Beschwerdeführer wurde für den Zeitraum 12. Juli 2005 bis 11. August 2005 Sozialhilfe zuerkannt. Ab 6. Februar 2012 wurde dem Beschwerdeführer erneut Sozialhilfe (bzw nunmehr Mindestsicherung) gewährt. Am 10. Oktober 2013 stellte der Beschwerdeführer einen Devolutionsantrag an den Unabhängigen Verwaltungssenat (UVS) Wien, weil über seinen Mindestsicherungsantrag vom 12. Juli 2005 nur teilweise, nämlich von 12. Juli 2005 bis 11. August 2005, abgesprochen worden sei. Über den Zeitraum 12. August 2005 bis 5. Februar 2012 sei jedoch noch nicht abgesprochen worden. Mit Bescheid des UVS Wien vom 23. Dezember 2013 wurde der Devolutionsantrag abgewiesen. Dagegen erhob der Beschwerdeführer "Übergangsrevision" an den Verwaltungsgerichtshof, der den Bescheid des UVS Wien mit Entscheidung vom 21. Dezember 2016 wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben hat und klargestellt hat, dass über den Zeitraum 12. August 2005 bis 5. Februar 2012 noch nicht entschieden worden ist.

2. Das Verwaltungsgericht Wien hatte nunmehr über den Devolutionsantrag, der als Säumnisbeschwerde zu behandeln war, zu entscheiden. Am 10. Jänner 2018 führte das Verwaltungsgericht Wien eine mündliche Verhandlung durch, an der der Beschwerdeführer mit seinem Bruder, der auch sein Sachwalter ist, und seinem rechtsfreundlichen Vertreter teilgenommen hat. Der Bruder des Beschwerdeführers hat angegeben, für den Beschwerdeführer eine Lebensversicherung abgeschlossen zu haben. In weiterer Folge hat der Beschwerdeführer Unterlagen zu diesen Versicherungspolizzen in Kopie vorgelegt, aus denen hervorgeht, dass der Beschwerdeführer für einen Zeitraum von zehn Jahren ab Einzahlung des ersten Beitrags unwiderruflich auf eine Rückzahlung des aus den geleisteten Beiträgen resultierenden Anspruchs verzichtet hat. Mit verfahrensleitendem Beschluss vom 26. Jänner 2018 wurde der Beschwerdeführer aufgefordert, Nachweise über den aktuellen Rückkaufswert der Lebensversicherungspolizzen vorzulegen. Mit Schreiben vom 21. Februar 2018 teilte der Beschwerdeführer mit, dass es sich bei beiden Versicherungen um "staatlich geförderte Pensionsversicherungen" handle. Der Beschwerdeführer habe gemäß §108g EStG 1988 unwiderruflich auf einen vorzeitigen Rückkauf verzichtet. Ein Rückkauf sei aus rechtlichen Gründen nicht möglich, er könne daher auch keinen aktuellen Rückkaufswert bekannt geben. Mit verfahrensleitendem Beschluss vom 1. März 2018, zugestellt am 6. März 2018, wurde der Beschwerdeführer aufgefordert, binnen zwei Wochen bekannt zu geben, ob und gegebenenfalls welche rechtlichen und faktischen Hindernisse einer Veräußerung der Versicherungspolizzen entgegenstünden. Am 7. März 2018 erkundigte sich der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers telefonisch, ob er ein (weiteres) Schreiben der Versicherung einholen solle. Laut Aktenvermerk vom 7. März 2018 wurde der Rechtsvertreter aufgefordert, alle zweckdienlichen Unterlagen vorzulegen. Mit am 20. März 2018 zur Post gegebenem Schreiben, beim Verwaltungsgericht eingelangt am 23. März 2018, legte der Beschwerdeführer ein Schreiben der Versicherung vor, aus dem hervorgeht, dass eine Vertragsauflösung vor Ablauf von zehn Jahren nicht möglich sei. Aus diesem Grund könnten auch keine Rückkaufswerte bekannt gegeben werden.

3. Mit Erkenntnis vom 22. März 2018 wies das Verwaltungsgericht den Antrag des Beschwerdeführers vom 12. Juli 2005 auf eine Geldleistung zur Sicherung des Lebensunterhalts für den Zeitraum vom 12. August 2005 bis 5. Februar 2012 ab. Das Verwaltungsgericht gibt den Verfahrensgang wieder und führt aus, dass der Beschwerdeführer dem Auftrag vom 1. März 2018 nicht nachgekommen sei. Der Anspruch des Beschwerdeführers sei bis 31. August 2010 nach dem Wiener Sozialhilfegesetz (WSHG) und ab 1. September 2010 nach dem Wiener Mindestsicherungsgesetz (WMG) zu beurteilen. Gemäß §10 WSHG sei Hilfe nur insoweit zu gewähren, als das Einkommen und das verwertbare Vermögen des Hilfesuchenden nicht zur Deckung des Lebensbedarfs ausreichten. Nach §12 WMG sei das verwertbare Vermögen auf den Mindeststandard anzurechnen. Inwiefern das Vermögen des Beschwerdeführers unter oder über dem Vermögensfreibetrag liege, könne das Verwaltungsgericht wegen der mangelnden Mitwirkung des Beschwerdeführers nicht feststellen. Da der "Einschreiter" nicht ausreichend mitgewirkt habe, sei der Antrag auf Grundlage der Verfahrensergebnisse abzuweisen.

4. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende auf Art144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten geltend gemacht und die kostenpflichtige Aufhebung der angefochtenen Entscheidung beantragt wird.

5. Das Verwaltungsgericht hat die Verwaltungs- und Gerichtsakten vorgelegt und von der Erstattung einer Gegenschrift abgesehen.

II. Rechtslage

1. §10 Wiener Sozialhilfegesetz idF LGBl 11/1973 lautet wie folgt:

"Einsatz der eigenen Mittel

§10. (1) Hilfe ist nur insoweit zu gewähren, als das Einkommen und das verwertbare Vermögen des Hilfesuchenden nicht ausreichen, um den Lebensbedarf (§11) zu sichern.

(2) Als nicht verwertbar gelten Gegenstände, die zur persönlichen Fortsetzung einer Erwerbstätigkeit oder zur Befriedigung kultureller Bedürfnisse in angemessenem Ausmaß dienen.

(3) Die Verwertung des Einkommens oder Vermögens darf nicht verlangt werden, wenn dadurch die Notlage verschärft oder von einer vorübergehenden zu einer dauernden würde.

(4) Hat ein Hilfesuchender Vermögen, dessen Verwertung ihm vorerst nicht möglich oder nicht zumutbar ist, können Hilfeleistungen von der Sicherstellung des Ersatzanspruches abhängig gemacht werden, wenn die Rückzahlung voraussichtlich ohne Härte möglich sein wird."

2. §12 Wiener Mindestsicherungsgesetz idF LGBl 38/2010 lautet wie folgt:

"Anrechnung von Vermögen

§12.(1) Auf die Summe der Mindeststandards ist das verwertbare Vermögen von anspruchsberechtigten Personen der Bedarfsgemeinschaft anzurechnen.

(2) Soweit keine Ausnahmeregelung nach Abs3 anzuwenden ist, gelten als verwertbar:

1. unbewegliches Vermögen;

2. Ersparnisse und sonstige Vermögenswerte.

(3) Als nicht verwertbar gelten:

1. Gegenstände, die zu einer Erwerbsausübung oder der Befriedigung angemessener kultureller Bedürfnisse der Hilfe suchenden Person dienen;

2. Gegenstände, die als angemessener Hausrat anzusehen sind;

3. Kraftfahrzeuge, die berufsbedingt oder auf Grund besonderer Umstände (insbesondere Behinderung, unzureichende Infrastruktur) erforderlich sind;

4. unbewegliches Vermögen, wenn dieses zur Deckung des angemessenen Wohnbedarfs der Bedarfsgemeinschaft dient;

5. verwertbares Vermögen nach Abs2 bis zu einem Freibetrag in Höhe des Fünffachen des Mindeststandards nach §8 Abs2 Z1 (Vermögensfreibetrag);

6. sonstige Vermögenswerte, solange Leistungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung nicht länger als für eine Dauer von sechs Monaten bezogen wurden. Dabei sind alle ununterbrochenen Bezugszeiträume im Ausmaß von mindestens zwei Monaten innerhalb von zwei Jahren vor der letzten Antragstellung zu berücksichtigen."

3. §108g Einkommenssteuergesetz 1988 idF BGBl I 163/2015 lautet wie folgt:

"Prämienbegünstigte Zukunftsvorsorge

§108g. (1) Leistet ein unbeschränkt Steuerpflichtiger (§1 Abs2) Beiträge zu einer Zukunftsvorsorgeeinrichtung, wird ihm unter den nachstehenden Voraussetzungen auf Antrag Einkommensteuer (Lohnsteuer) erstattet:

1. Der Steuerpflichtige bezieht keine gesetzliche Alterspension.

2. Der Steuerpflichtige gibt eine Erklärung ab, in der er sich unwiderruflich verpflichtet, für einen Zeitraum von mindestens zehn Jahren ab Einzahlung des ersten Beitrages auf eine Rückzahlung des aus den geleisteten Beiträgen resultierenden Anspruches zu verzichten.

3. Hat der Steuerpflichtige im Zeitpunkt der Antragstellung das 50. Lebensjahr vollendet, kann er sich auch wahlweise unwiderruflich verpflichten, zu verzichten

a) auf eine Rückzahlung des aus den geleisteten Beiträgen resultierenden Anspruchs bis zum Bezug einer gesetzlichen Alterspension und

b) auf eine Verfügung im Sinne des §108i Abs1 Z1 im Falle des Bezuges einer gesetzlichen Alterspension vor Ablauf von zehn Jahren (Z2).

Die Erstattung erfolgt mit einem Pauschalbetrag, der sich nach einem Prozentsatz der im jeweiligen Kalenderjahr geleisteten Prämie bemisst. Der Prozentsatz beträgt 2,75% zuzüglich des nach §108 Abs1 ermittelten Prozentsatzes. Von der Erstattung ausgenommen sind Einmalprämien im Sinne des §108i Abs1 Z2 und 3.

[…]"

III. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet:

1.1. Das nach Art7 B VG verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz kommt seinem Wortlaut nach lediglich Staatsbürgern zu. Im Anwendungsbereich des Unionsrechts findet der Staatsbürgervorbehalt des Art7 B VG allerdings keine Anwendung, da das Verbot der Diskriminierung der Unionsbürger aus Gründen der Staatsangehörigkeit (Art18 AEUV) verlangt, dass im Anwendungsbereich des Unionsrechts Unionsbürger gegenüber Staatsbürgern nicht schlechter gestellt werden dürfen; eine von einem Unionsbürger erhobene Beschwerde nach Art144 B VG darf nicht wegen der fehlenden (österreichischen) Staatsangehörigkeit ab- oder zurückgewiesen werden, weshalb mit Blick auf den Gleichheitsgrundsatz ebenso davon auszugehen ist, dass sich sein Schutz auch auf Unionsbürger mit nicht-österreichischer Staatsangehörigkeit erstreckt (VfSlg 19.156/2010).

1.2. Angesichts der verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit der angewendeten Rechtsvorschriften und des Umstandes, dass kein Anhaltspunkt dafür besteht, dass das Verwaltungsgericht diesen Vorschriften fälschlicherweise einen gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt hat, könnte der Beschwerdeführer im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz nur verletzt worden sein, wenn das Verwaltungsgericht Willkür geübt hätte.

1.3. Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 8808/1980 mwN, 14.848/1997, 15.241/1998 mwN, 16.287/2001, 16.640/2002).

2. Solche Fehler sind dem Verwaltungsgericht unterlaufen:

2.1. Das Verwaltungsgericht geht davon aus, dass der Beschwerdeführer am Verfahren nicht mitgewirkt habe, und nimmt daher an, dass der Beschwerdeführer über ausreichend verwertbares Vermögen verfüge, um seinen Lebensbedarf zu sichern. Der Beschwerdeführer, sein Sachwalter und sein rechtsfreundlicher Vertreter haben an der mündlichen Verhandlung teilgenommen. Bereits am 24. Jänner 2018 hat der Beschwerdeführer Unterlagen zu den Versicherungspolizzen vorgelegt, aus denen hervorgeht, dass der Beschwerdeführer für einen Zeitraum von zehn Jahren ab Einzahlung des ersten Beitrags unwiderruflich auf eine Rückzahlung des aus den geleisteten Beiträgen resultierenden Anspruchs verzichtet hat. Mit verfahrensleitendem Beschluss vom 26. Jänner 2018 hat das Verwaltungsgericht den Beschwerdeführer dennoch aufgefordert, einen Nachweis über den aktuellen Rückkaufswert vorzulegen. Der Beschwerdeführer hat daraufhin mitgeteilt, dass es sich um staatlich geförderte Pensionsversicherungen handle und ein Rückkauf gemäß §108g EStG 1988 nicht möglich sei. Mit verfahrensleitendem Beschluss vom 1. März 2018 hat das Verwaltungsgericht den Beschwerdeführer erneut aufgefordert, binnen zwei Wochen bekannt zu geben, ob und gegebenenfalls welche rechtlichen und faktischen Hindernisse einer Veräußerung der Versicherungspolizzen entgegenstünden. Der Beschluss wurde dem Beschwerdeführer (zuhanden seines Rechtsvertreters) am 6. März 2018 zugestellt. Die zweiwöchige Frist endete sohin am 20. März 2018. Der Beschwerdeführer hat dem Verwaltungsgericht ein (weiteres) Schreiben der Versicherung vorgelegt, in dem bestätigt wird, dass eine vorzeitige Vertragsauflösung unmöglich ist.

2.2. Dieses Schreiben hat der Beschwerdeführer am 20. März 2018 zur Post gegeben, es ist am 23. März 2018 beim Verwaltungsgericht eingelangt. Der Postlauf ist gemäß §17 VwGVG iVm §33 Abs3 AVG nicht in die Frist einzurechnen. Die angefochtene Entscheidung des Verwaltungsgerichts ist mit 22. März 2018 datiert. Das Verwaltungsgericht hat sohin entschieden, ohne den Ablauf der dem Beschwerdeführer zur Mitwirkung eingeräumten Frist abzuwarten. Wenngleich das Verwaltungsgericht Ermittlungsschritte zur Frage, ob der Beschwerdeführer über verwertbares Vermögen verfügt, gesetzt hat, hat es die Ergebnisse dieses Ermittlungsverfahrens seiner Entscheidung nicht zugrunde gelegt und die Entscheidung mit Willkür belastet.

2.3. Auf Grund des geschilderten Verfahrens vor dem Verwaltungsgericht ist für den Verfassungsgerichtshof auch nicht ersichtlich, wie das Verwaltungsgericht zum Schluss kommt, dass der Beschwerdeführer seiner Mitwirkungspflicht nicht nachgekommen ist. Vielmehr hat das Verwaltungsgericht das Vorbringen des Beschwerdeführers völlig außer Acht gelassen (vgl VfSlg 18.925/2009). Indem das Verwaltungsgericht das Parteivorbringen in diesem – für die Frage der Zuerkennung von Leistungen der bedarfsorientierten Mindestsicherung maßgeblichen – Punkt gänzlich ignoriert hat, wurde der Beschwerdeführer im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt (vgl VfSlg 18.334/2008).

IV. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den – im beantragten Umfang – zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 315,93 enthalten. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil der Beschwerdeführer Verfahrenshilfe im Umfang des §64 Abs1 Z1 lita ZPO genießt.

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