G338/2016 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung
Spruch
Der Antrag wird zurückgewiesen.
Begründung
I. Antrag
Mit dem vorliegenden, auf Art140 Abs1 Z1 litd B VG gestützten Antrag begehrt die antragstellende Gesellschaft, der Verfassungsgerichtshof möge
1. §1295 Abs1 erster Satz ABGB, JGS 946/1811 idF RGBl. 69/1916;
2. in eventu §1325 ABGB, JGS 946/1811;
3. in eventu die Wortfolge "Wer jemanden an seinem Körper verletzet, bestreitet die Heilungskosten des Verletzten; ersetzet ihm den entgangenen, oder wenn der Beschädigte zum Erwerb unfähig wird, auch den künftig entgehenden Verdienst" in §1325 ABGB, JGS 946/1811;
4. in eventu "die unter 1. und 2. und/ oder 1. Und 3. zitierten Wortfolgen der §1295 Abs1 Satz 1 ABGB iVm §1325 ABGB in Kombination"
als verfassungswidrig aufheben.
II. Rechtslage
1. §§1293 – 1296 Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch (ABGB), JGS 946/1811 (§1295 idF RGBl. 69/1916), lauten (die im Hauptantrag angefochtene Wortfolge ist hervorgehoben):
"Dreyßigstes Hauptstück.
Von dem Rechte des Schadensersatzes und der Genugthuung.
Schade.
§1293. Schade heißt jeder Nachtheil, welcher jemanden an Vermögen, Rechten oder seiner Person zugefüget worden ist. Davon unterscheidet sich der Entgang des Gewinnes, den jemand nach dem gewöhnlichen Laufe der Dinge zu erwarten hat.
§1294. Der Schade entspringt entweder aus einer widerrechtlichen Handlung, oder Unterlassung eines Anderen; oder aus einem Zufalle. Die widerrechtliche Beschädigung wird entweder willkührlich, oder unwillkührlich zugefügt. Die willkührliche Beschädigung aber gründet sich theils in einer bösen Absicht, wenn der Schade mit Wissen und Willen; theils in einem Versehen, wenn er aus schuldbarer Unwissenheit, oder aus Mangel der gehörigen Aufmerksamkeit, oder des gehörigen Fleißes verursachet worden ist. Beydes wird ein Verschulden genannt.
Von der Verbindlichkeit zum Schadenersatze:
1) von dem Schaden aus Verschulden;
§1295. (1) Jedermann ist berechtigt, von dem Beschädiger den Ersatz des Schadens, welchen dieser ihm aus Verschulden zugefügt hat, zu fordern; der Schade mag durch Übertretung einer Vertragspflicht oder ohne Beziehung auf einen Vertrag verursacht worden sein.
(2) Auch wer in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise absichtlich Schaden zufügt, ist dafür verantwortlich, jedoch falls dies in Ausübung eines Rechtes geschah, nur dann, wenn die Ausübung des Rechtes offenbar den Zweck hatte, den anderen zu schädigen.
§1296. Im Zweifel gilt die Vermuthung, daß ein Schade ohne Verschulden eines Anderen entstanden sey."
2. §§1323 – 1325 ABGB, JGS 946/1811, lauten:
"Arten des Schadenersatzes.
§1323. Um den Ersatz eines verursachten Schadens zu leisten, muß Alles in den vorigen Stand zurückversetzt, oder, wenn dieses nicht thunlich ist, der Schätzungswerth vergütet werden. Betrifft der Ersatz nur den erlittenen Schaden, so wird er eigentlich eine Schadloshaltung; wofern er sich aber auch auf den entgangenen Gewinn und die Tilgung der verursachten Beleidigung erstreckt, volle Genugthuung genannt.
§1324. In dem Falle eines aus böser Absicht oder aus einer auffallenden Sorglosigkeit verursachten Schadens ist der Beschädigte volle Genugthung; in den übrigen Fällen aber nur die eigentliche Schadloshaltung zu fordern berechtiget. Hiernach ist in den Fällen, wo im Gesetze der allgemeine Ausdruck: Ersatz, vorkommt, zu beurtheilen, welche Art des Ersatzes zu leisten sey.
Insbesondere
1) bey Verletzungen an dem Körper;
§1325. Wer jemanden an seinem Körper verletzet, bestreitet die Heilungskosten des Verletzten; ersetzet ihm den entgangenen, oder wenn der Beschädigte zum Erwerb unfähig wird, auch den künftig entgehenden Verdienst und bezahlt ihm auf Verlangen überdieß ein den erhobenen Umständen angemessenes Schmerzengeld."
III. Antragsvorbringen
1. Die antragstellende Gesellschaft haftet auf Grund eines rechtskräftigen Urteils den Eltern eines 2002 geborenen minderjährigen Kindes für sämtliche künftige Aufwendungen, Pflegeleistungen und sonstigen Vermögensnachteile, die mit der Obsorge, Pflege und Erziehung des Kindes in Zusammenhang stehen. Ein Bediensteter (oder: Bedienstete) der antragstellenden Gesellschaft hat eine Pränataldiagnostik fehlerhaft durchgeführt; dies habe dazu geführt, dass den Eltern des Kindes die Möglichkeit eines Schwangerschaftsabbruches, den diese bei rechtzeitiger Kenntnis von der Behinderung des Kindes durchführen hätten lassen, entzogen wurde. Prozessgegenstand im (nunmehrigen) Anlassverfahren 22 Cg 143/12i des Landesgerichtes Klagenfurt sind Forderungen der Mutter des Kindes als Klägerin gegen die antragstellende Gesellschaft als Beklagte aus dem Titel des Schadenersatzes für Pflegeaufwand ab dem Jahr 2010.
1.1. Das Landesgericht Klagenfurt sprach der Klägerin Ersatz für Pflegeaufwand von 2010 bis April 2015 auf der Basis einer Vollkostenrechnung zu.
1.2. Die antragstellende Gesellschaft stellt den vorliegenden, auf Art140 Abs1 Z1 litd B VG gestützten Antrag aus Anlass einer Berufung gegen das Urteil des Landesgerichtes Klagenfurt vom 5. September 2016, Z 22 Cg 143/12i.
2. Die antragstellende Gesellschaft behauptet die Verletzung des Gleichheitssatzes gemäß Art7 B VG, Art2 und 3 StGG, des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art8 EMRK sowie von Art14 EMRK iVm Art1 1.ZPEMRK mit der auf das Wesentliche zusammengefassten Begründung, dass der Mutter des mj. Kindes zu keinem Zeitpunkt durch die von ihr selbst erbrachten Pflegeleistungen Lohnnebenkosten angelaufen seien.
2.1. Es gebe keine nachvollziehbare Rechtfertigung dafür, dass die Gerichte den Geschädigten mehr zusprechen würden, als der entstandene Schaden tatsächlich ausmache. Im Hinblick auf die Ausgleichsfunktion des Schadenersatzrechtes liege es am Gesetzgeber, im Rahmen einer überfälligen Reform des Schadenersatzrechtes, die angefochtenen Normen dahingehend zu konkretisieren, dass Gegenstand des Schadenersatzes nur jener Schaden sein könne, der dem Geschädigten tatsächlich entstanden sei. Das Gesetz biete keinen Anhaltspunkt dafür, welche Berechnungsmethode für den Ersatz von Pflegeaufwendungen heranzuziehen sei. Der Zuspruch von Bruttolohnkosten im Sinne einer Vollkostenrechnung führe zu einer ungerechtfertigten, verfassungswidrigen Bereicherung und sohin zu keinem interessensgerechten Schadensausgleich. Den tatsächlichen Schaden stelle daher unter Berücksichtigung der einschlägigen steuerrechtlichen Vorschriften nur der reine Nettolohn dar. Während Geschädigten, die professionelle Hilfe in Anspruch nehmen, die tatsächlich entstandenen Kosten ersetzt würden, erhalten Personen, die geschädigte Angehörige selbst pflegen, zusätzlich zu den tatsächlich entstandenen Aufwendungen sämtliche Lohnnebenkosten vom Schädiger, obgleich diese nie angefallen seien.
2.2. Ein zivilrechtlicher Schadenersatzanspruch sei schon dem Grunde nach verfehlt. Ein behindertes Kind sei kein Schaden. Es sei nicht nur begrifflich, sondern auch wertungsmäßig falsch, die Geburt eines behinderten Kindes mit all ihren Folgen als schadensstiftendes Ereignis zu betrachten und daraus Ansprüche auf Schadenersatz in Form der vollen Bruttolohnkosten samt Nebenkosten abzuleiten. Es stelle sich die Frage, ob das Verhindern der Möglichkeit der Tötung eines Kindes überhaupt einen Schadenersatzanspruch hervorrufen könne.
IV. Zulässigkeit
1. Der Antrag ist unzulässig.
2. Gemäß Art140 Abs1 Z1 litd B VG erkennt der Verfassungsgerichtshof über die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen auf Antrag einer Person, die als Partei einer von einem ordentlichen Gericht in erster Instanz entschiedenen Rechtssache wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt zu sein behauptet, aus Anlass eines gegen diese Entscheidung erhobenen Rechtsmittels.
3. Voraussetzung eines Parteiantrages auf Normenkontrolle ist sohin – entsprechend der Formulierung des Art140 Abs1 Z1 litd B VG – die Einbringung eines Rechtsmittels in einer "in erster Instanz entschiedenen Rechtssache", also eines Rechtsmittels gegen eine die Rechtssache erledigende Entscheidung erster Instanz. Außerdem muss der Parteiantrag gemäß Art140 Abs1 Z1 litd B VG "aus Anlass" der Erhebung eines Rechtsmittels gestellt werden.
3.1. Mit der Berufung, aus deren Anlass der Antrag nach Art140 Abs1 Z1 litd B VG erhoben wurde, wendet sich die antragstellende Gesellschaft gegen das Urteil des des Landesgerichtes Klagenfurt vom 5. September 2016, mit dem sie zu weiteren Zahlungen aus dem Titel des Schadenersatzes für 2010 bis April 2015 verurteilt wurde.
3.2. Mit dem Urteil des Landesgerichtes Klagenfurt liegt eine in erster Instanz entschiedene Rechtssache iSd Art140 Abs1 Z1 litd B VG vor.
3.3. Dem Erfordernis der Einbringung aus Anlass eines Rechtsmittels hat die antragstellende Gesellschaft jedenfalls dadurch Rechnung getragen, dass sie den Parteiantrag und die Berufung gegen das Urteil des Landesgerichtes Klagenfurt am selben Tag und innerhalb der Rechtsmittelfrist erhoben und eingebracht hat (vgl. VfGH 3.7.2015, G46/2015; 8.10.2015, G264/2015; 26.11.2015, G197/2015).
4. Der Verfassungsgerichtshof geht auf Grund der Mitteilung des Landesgerichtes Klagenfurt vom 7. Oktober 2016 davon aus, dass die Berufung der antragstellenden Gesellschaft gegen das genannte Urteil rechtzeitig und zulässig ist.
5. Gemäß §62 Abs1 VfGG muss der Antrag begehren, "dass entweder das Gesetz seinem ganzen Inhalt nach oder dass bestimmte Stellen des Gesetzes als verfassungswidrig aufgehoben werden. Der Antrag hat die gegen die Verfas-sungsmäßigkeit des Gesetzes sprechenden Bedenken im Einzelnen darzulegen."
5.1. Dieses Erfordernis ist nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungs-gerichtshofes nur dann erfüllt, wenn die Gründe der behaupteten Verfassungs-widrigkeit – in überprüfbarer Art– präzise ausgebreitet werden, mithin dem Antrag mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen ist, mit welcher Verfassungsbestimmung die bekämpfte Gesetzesstelle in Widerspruch stehen soll und welche Gründe für diese Annahme sprechen (vgl. im Allgemeinen zB VfSlg 11.150/1986, 11.888/1988, 13.851/1994, 14.802/1997, 17.651/2005; spezifisch zum Parteiantrag auf Normenkontrolle VfGH 2.7.2015, G16/2015; 2.7.2015, G145/2015).
5.2. Die Grenzen der Aufhebung einer auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen-den Gesetzesbestimmung sind, wie der Verfassungsgerichtshof sowohl für von Amts wegen als auch für auf Antrag eingeleitete Gesetzesprüfungsverfahren schon wiederholt dargelegt hat (VfSlg 13.965/1994 mwN, 16.542/2002, 16.911/2003), notwendig so zu ziehen, dass einerseits der verbleibende Geset-zesteil nicht einen völlig veränderten Inhalt bekommt und dass andererseits die mit der aufzuhebenden Gesetzesstelle untrennbar zusammenhängenden Be-stimmungen auch erfasst werden.
5.3. Aus dieser Grundposition folgt, dass im Gesetzesprüfungsverfahren der Anfechtungsumfang der in Prüfung gezogenen Norm bei sonstiger Unzulässigkeit des Prüfungsantrages nicht zu eng gewählt werden darf (vgl. VfSlg 16.212/2001, 16.365/2001, 18.142/2007, 19.496/2011).
5.4. Der Anfechtungsumfang ist dann als zu eng gewählt anzusehen, wenn der Umfang der zur Aufhebung beantragten Bestimmungen so abgesteckt ist, dass die angenommene Verfassungswidrigkeit durch die Aufhebung gar nicht beseitigt würde (vgl. zB VfSlg 19.824/2013 mwN, 19.933/2014).
5.5. Unter dem Aspekt einer nicht trennbaren Einheit ergibt sich nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes ein Prozesshindernis auch dann, wenn die isolierte Aufhebung einer Bestimmung die Anwendbarkeit der anderen, im Rechtsbestand verbleibenden Bestimmungen unmöglich macht, wenn also etwa der Wegfall bestimmter angefochtener Sätze den verbleibenden Rest der Gesetzesbestimmung unverständlich wie auch unanwendbar werden ließe (vgl. zB VfSlg 15.935/2000, 16.869/2003, 19.496/2011; VfGH 8.10.2014, G123/2014).
6. Vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung erweist sich der Antrag als zu eng gefasst:
6.1. Im Fall der Aufhebung des im Hauptantrag angefochtenen ersten Halbsatzes des §1295 Abs1 ABGB verbliebe mit dem zweiten Halbsatz ("der Schade mag durch Übertretung einer Vertragspflicht oder ohne Beziehung auf einen Vertrag verursacht worden sein.") ein unverständlicher und unanwendbarer Regelungstorso.
6.2. Aber auch durch Aufhebung der eventualiter angefochtenen Bestimmung des §1325 ABGB (sowohl allein als auch in Kombination mit §1295 Abs1 ABGB) wird vor dem Hintergrund der geltend gemachten Bedenken eine allfällige Verfassungswidrigkeit nicht beseitigt. Die Grundlagen, aus denen die Rechtsprechung eine Ersatzpflicht des Unterhalts an sich sowie die konkrete Höhe der ersatzfähigen Pflegeaufwendungen ableitet, finden sich nicht nur in den angefochtenen Bestimmungen, sondern zumindest auch in §1293 ABGB, wonach Schaden jeder Nachteil ist, welcher jemanden an Vermögen, Rechten oder seiner Personen zugefügt worden ist. Der Oberste Gerichtshof hat davon ausgehend ausgeführt, dass es nicht nur nicht zweifelhaft sein könne, sondern vielmehr evident sei, dass in diesem gemeinhin anerkannten Sinn des §1293 ABGB auch der Unterhaltsaufwand für ein nicht gewolltes Kind einen Schaden darstelle (vgl. OGH 11.12.2007, 5 Ob 148/07m; OGH 14.9.2006, 6 Ob 101/06f; OGH 22.2.2011, 8 Ob 15/11f).
7. Der Antrag ist daher schon aus diesem Grund unzulässig.
V. Ergebnis
1. Der Antrag ist als unzulässig zurückzuweisen.
2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.