G386/2015 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung
Spruch
Der Antrag wird zurückgewiesen.
Begründung
I. Antrag
Mit dem vorliegenden, auf Art140 Abs1 Z1 litd B VG gestützten Antrag begehrt der Antragsteller, "§60 Abs1 Satz 1 JN zur Gänze", in eventu "Das Wort 'richtigerer' in §60 Abs1 Satz 1 JN", in eventu "Die letzten beiden Buchstaben 'er' im Wort 'richtigerer' in §60 Abs1 Satz 1 JN" als verfassungswidrig aufzuheben.
II. Rechtslage
Die im vorliegenden Fall maßgebliche Bestimmung des Gesetzes vom 1. August 1895, über die Ausübung der Gerichtsbarkeit und die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte in bürgerlichen Rechtssachen (Jurisdiktionsnorm – JN), RGBl. 111/1895 idF BGBl I 52/2009, lautet (die angefochtenen Gesetzesbestimmungen sind hervorgehoben):
"§60.
(1) Erscheint bei einer Klage, welche bei einem Gerichtshofe erster Instanz angebracht wurde, die vom Kläger angegebene Summe, zu deren Annahme an Stelle der angesprochenen Sache er sich erboten hat (§56 Absatz 1), oder die im Sinne des §56 Absatz 2 erfolgte Bewertung des Streitgegenstandes übermäßig hoch gegriffen, so kann das Gericht, wenn es zugleich wahrscheinlich ist, dass bei richtigerer Bewertung des Streitgegenstandes dieser die für die Zuständigkeit des Gerichtshofes oder für die Besetzung des Gerichtes (§7a) maßgebende Wertgrenze nicht erreichen dürfte, von amtswegen die ihm zur Prüfung der Richtigkeit der Wertangabe nöthig erscheinenden Erhebungen und insbesondere die Einvernehmung der Parteien, die Vornahme eines Augenscheines und, wenn es ohne erheblichen Kostenaufwand und ohne besondere Verzögerung geschehen kann, auch die Begutachtung durch Sachverständige anordnen . Dies kann erforderlichenfalls auch schon vor Anberaumung der mündlichen Verhandlung geschehen.
(2) Als Wert einer grund- oder hauszinssteuerpflichtigen unbeweglichen Sache ist jener Betrag anzusehen, welcher als Steuerschätzwert für die Gebührenbemessung in Betracht kommt.
(3) Muss infolge der Ergebnisse solcher Erhebungen und Beweisführungen die Streitsache von dem Gerichtshofe an das Bezirksgericht abgetreten werden, so hat der Kläger die durch diese Erhebungen und Beweisführungen entstandenen Kosten zu tragen oder zu ersetzen. Dasselbe gilt, wenn nach dem Ergebnisse solcher Erhebungen und Beweisführungen der mit mehr als 100 000 Euro angegebene Wert des Streitgegenstandes den Betrag von 100 000 Euro nicht übersteigt (§7a).
(4) Außer dem in Absatz 1 bezeichneten Falle ist die in der Klage enthaltene Bewertung des Streitgegenstandes in Ansehung der Zuständigkeit und der Besetzung des Gerichtes (§7a) sowohl für das Gericht als für den Gegner bindend."
III. Antragsvorbringen
1. Der Antragsteller erhob vor dem Landesgericht Feldkirch eine auf §523 ABGB gestützte Klage auf Unterlassung der Störung des Eigentums an einer Liegenschaft. Das dem Beklagten zuvor durch das Bezirksgericht Dornbirn rechtskräftig zugesprochene uneingeschränkte Geh- und Fahrrecht mit mehrspurigen Kraftfahrzeugen aller Art zu landwirtschaftlichen Bewirtschaftungszwecken würde der Beklagte eigenmächtig und losgelöst von landwirtschaftlichen Zwecken ausweiten. Der Antragsteller bewertete den Streitgegenstand in der erhobenen Klage mit € 35.000,--.
2. Mit Beschluss des Landesgerichtes Feldkirch vom 30. Juni 2015, Z9 Cg 130/14y, zugestellt am 1. Juli 2015, wurde festgestellt, dass die Streitwertgrenze des §49 Abs1 JN nicht überschritten sei. Infolge dessen wurde die Rechtssache nach §60 Abs2 iVm §60 Abs1 JN an das Bezirksgericht Dornbirn abgetreten.
3. Begründend führte das Landesgericht Feldkirch aus, dass die durch den Antragsteller als Kläger vorgenommene Bewertung des Streitgegenstandes übermäßig hoch gegriffen sei und bei angemessener Bewertung der strittigen Beeinträchtigung der Liegenschaft die Streitwertgrenze des §49 Abs1 JN von € 15.000,-- nicht erreicht wäre.
4. In dem aus Anlass der Entscheidung des Landesgerichtes Feldkirch gestellten Antrag bringt der Antragsteller zusammengefasst vor, dass die Bestimmung des §60 Abs1 erster Satz JN gegen den Gleichheitssatz (Art7 B VG; Art2 StGG), das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art83 Abs2 B VG) sowie das Recht auf ein unparteiisches Gericht (Art6 EMRK) verstoße.
IV. Zulässigkeit
1. Gemäß Art140 Abs1 Z1 litd B VG erkennt der Verfassungsgerichtshof über die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen auf Antrag einer Person, die als Partei einer von einem ordentlichen Gericht in erster Instanz entschiedenen Rechtssache wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt zu sein behauptet, aus Anlass eines gegen diese Entscheidung erhobenen Rechtsmittels.
1.1. Nach §62a Abs1 erster Satz VfGG kann eine Person, die als Partei einer von einem ordentlichen Gericht in erster Instanz entschiedenen Rechtssache wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt zu sein behauptet, einen Antrag stellen, das Gesetz als verfassungswidrig aufzuheben.
Voraussetzung eines Parteiantrages auf Normenkontrolle ist sohin – entsprechend der Formulierung des Art140 Abs1 Z1 litd B VG – die Einbringung eines Rechtsmittels in einer "in erster Instanz entschiedenen Rechtssache", also eines Rechtsmittels gegen eine die Rechtssache erledigende Entscheidung erster Instanz. Außerdem muss der Parteiantrag gemäß Art140 Abs1 Z1 litd B VG "aus Anlass" der Erhebung eines Rechtsmittels gestellt werden.
1.2. Mit dem Rekurs, aus dessen Anlass der Antrag nach Art140 Abs1 Z1 litd B VG erhoben wurde, wendete sich der Antragsteller gegen den Beschluss des Landesgerichtes Feldkirch vom 30. Juni 2015, Z9 Cg 130/14y, mit welchem spruchmäßig festgestellt wurde, dass die Wertgrenze des §49 Abs1 JN bei richtiger Bewertung nicht überschritten sei und die Rechtssache gemäß §60 Abs2 JN an das Bezirksgericht Dornbirn abgetreten wird.
1.3. Dem Erfordernis der Einbringung aus Anlass eines Rechtsmittels hat der Antragsteller jedenfalls dadurch hinreichend Rechnung getragen, dass er den vorliegenden Parteiantrag und den Rekurs gegen den näher bezeichneten Beschluss am selben Tag erhoben und eingebracht hat (vgl. VfGH 3.7.2015, G46/2015; 8.10.2015, G264/2015; 26.11.2015, G197/2015).
1.4. Der Verfassungsgerichtshof geht auf Grund einer entsprechenden Mitteilung des Landesgerichtes Feldkirch vom 8. September 2015 davon aus, dass der Rekurs des Antragstellers gegen den Beschluss des Erstgerichtes vom 30. Juni 2015, Z 9 Cg 130/14y, rechtzeitig und zulässig ist.
1.5. Gemäß §62 Abs1 VfGG muss der Antrag begehren, "dass entweder das Gesetz seinem ganzen Inhalt nach oder dass bestimmte Stellen des Gesetzes als verfassungswidrig aufgehoben werden. Der Antrag hat die gegen die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes sprechenden Bedenken im Einzelnen darzulegen."
1.6. Dieses Erfordernis ist nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes nur dann erfüllt, wenn die Gründe der behaupteten Verfassungswidrigkeit – in überprüfbarer Art– präzise ausgebreitet werden, mithin dem Antrag mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen ist, mit welcher Verfassungsbestimmung die bekämpfte Gesetzesstelle in Widerspruch stehen soll und welche Gründe für diese Annahme sprechen (vgl. im Allgemeinen z.B. VfSlg 11.150/1986, 11.888/1988, 13.851/1994, 14.802/1997, 17.651/2005; spezifisch zum Parteiantrag auf Normenkontrolle VfGH 2.7.2015, G16/2015; 2.7.2015, G145/2015).
1.7. Die Grenzen der Aufhebung einer auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfenden Gesetzesbestimmung sind, wie der Verfassungsgerichtshof sowohl für von Amts wegen als auch für auf Antrag eingeleitete Gesetzesprüfungsverfahren schon wiederholt dargelegt hat (VfSlg 13.965/1994 mwN, 16.542/2002, 16.911/2003), notwendig so zu ziehen, dass einerseits der verbleibende Gesetzesteil nicht einen völlig veränderten Inhalt bekommt und dass andererseits die mit der aufzuhebenden Gesetzesstelle untrennbar zusammenhängenden Bestimmungen auch erfasst werden.
1.8. Dieser Grundposition folgend hat der Gerichtshof die Rechtsauffassung entwickelt, dass im Gesetzesprüfungsverfahren der Anfechtungsumfang der in Prüfung gezogenen Norm bei sonstiger Unzulässigkeit des Prüfungsantrages nicht zu eng gewählt werden darf (vgl. zB VfSlg 8155/1977, 12.235/1989, 13.915/1994, 14.131/1995, 14.498/1996, 14.890/1997, 16.212/2002). Der Antragsteller hat all jene Normen anzufechten, welche für die Beurteilung der allfälligen Verfassungswidrigkeit der Rechtslage eine untrennbare Einheit bilden. Es ist dann Sache des Verfassungsgerichtshofes, darüber zu befinden, auf welche Weise eine solche Verfassungswidrigkeit – sollte der Verfassungsgerichtshof die Auffassung des Antragstellers teilen – beseitigt werden kann (VfSlg 16.756/2002, 19.496/2011 und 19.933/2014).
2. Vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung erweist sich der vorliegende Antrag als zu eng gefasst.
2.1. Unter dem Aspekt einer nicht trennbaren Einheit ergibt sich nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes ein Prozesshindernis auch dann, wenn die isolierte Aufhebung einer Bestimmung die Anwendbarkeit der anderen, im Rechtsbestand verbleibenden Bestimmungen unmöglich macht, wenn also der Wegfall bestimmter angefochtener Sätze den verbleibenden Rest der Gesetzesbestimmung unverständlich wie auch unanwendbar werden ließe (vgl. zB VfSlg 15.935/2000, 16.869/2003, 19.496/2011; VfGH 8.10.2014, G123/2014).
2.2. Soweit mit dem Antrag die Aufhebung des ersten Satzes der Bestimmung des §60 Abs1 JN begehrt wird, ist festzuhalten, dass im Falle der antragsgemäßen Aufhebung ein legistischer Torso mit einem völlig veränderten und unverständlichen Inhalt verbliebe. Der dem ersten Satz folgende zweite Satz der Bestimmung lautet: "Dies kann erforderlichenfalls auch schon vor Anberaumung der mündlichen Verhandlung geschehen." Würde die Bestimmung im Umfang des Antrages aufgehoben, wäre der verbleibende zweite Satz weitgehend seines Bedeutungsgehaltes entkleidet. Schon die Anknüpfung des zweiten Satzes ("Dies kann") würde infolge der Aufhebung des ersten Satzes leer laufen und der zweite Satz würde insgesamt unklar werden. Es besteht daher ein untrennbarer Zusammenhang zwischen §60 Abs1 erster Satz JN und dem nicht in den Anfechtungsumfang einbezogenen zweiten Satz der Bestimmung. Im Übrigen knüpfen auch §60 Abs2 bis 4 JN implizit und zum Teil explizit an den ersten Satz in §60 Abs1 JN an. Der untrennbare Zusammenhang ist auch hier gegeben.
2.3. Auch der erste Eventualantrag erweist sich insoweit als zu eng gefasst, als die Aufhebung des Wortes "richtigerer" begehrt wird. Die antragsgemäße Aufhebung des Wortes hätte wiederum die Unverständlichkeit bzw. Unanwendbarkeit des §60 Abs1 erster Satz JN zur Folge. §60 Abs1 erster Satz JN ermächtigt den Gerichtshof erster Instanz von Amts wegen, notwendig erscheinende Erhebungen durchzuführen, wenn bei einer Klage die Bewertung des Streitgegenstandes übermäßig hoch gegriffen erscheint und es wahrscheinlich ist, dass "bei richtigerer Bewertung" die für die sachliche Zuständigkeit sowie die Besetzung des Gerichtshofes maßgebenden Wertgrenzen nicht erreicht würden. Entfiele das Wort "richtigerer", verbliebe lediglich "bei Bewertung" als Torso. Dies ist im gegebenen Kontext insofern unverständlich, als eine Bewertung – nämlich jene durch den Kläger – bereits erfolgt ist. Der Aussagegehalt, dass die Wertgrenzen bei akkurater Bewertung voraussichtlich nicht erreicht würden, ginge dadurch verloren.
2.4. Soweit der zweite Eventualantrag schließlich die Aufhebung der letzten beiden Buchstaben "er" im Wort "richtigerer" begehrt, vermag der Verfassungsgerichtshof nicht zu erkennen, inwiefern die antragsgemäße Aufhebung zur Beseitigung der behaupteten Verfassungswidrigkeit beiträgt. Zur Beseitigung der behaupteten Verfassungswidrigkeit bedürfte es jedenfalls eines weiteren Anfechtungsumfanges. Der Antrag erweist sich daher auch insoweit als zu eng gefasst.
2.5. Schon aus diesen Gründen ist der Antrag zurückzuweisen.
V. Ergebnis
1. Der Antrag wird als unzulässig zurückgewiesen.
2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.