G222/2016 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung
Spruch
Der Antrag wird zurückgewiesen.
Begründung
I. Antrag
Mit dem vorliegenden, auf Art140 Abs1 Z1 litd B VG gestützten Antrag begehrt der Antragsteller, das Wort "völlig" in ArtVI Abs27 der 32. Novelle zum ASVG, BGBl 704/1976, als verfassungswidrig aufzuheben.
II. Rechtslage
1. §175 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (ASVG), BGBl 189/1955, lautete in der Fassung der 32. Novelle zum ASVG, BGBl 704/1976, wie folgt:
"Arbeitsunfall
§175. (1) Arbeitsunfälle sind Unfälle, die sich im örtlichen, zeitlichen und ursächlichen Zusammenhang mit der die Versicherung begründenden Beschäftigung ereignen.
(2) – (3) […]
(4) In der Unfallversicherung gemäß §8 Abs1 Z3 lith und i sind Arbeitsunfälle Unfälle, die sich im örtlichen, zeitlichen und ursächlichen Zusammenhang mit der die Versicherung begründenden Schul(Universitäts)ausbildung ereignen. Abs2 Z1, 5 und 6 sowie Abs6 sind entsprechend anzuwenden.
(5) In der Unfallversicherung gemäß §8 Abs1 Z3 lith und i gelten als Arbeitsunfälle auch Unfälle, die sich ereignen:
1. bei der Teilnahme an Schulveranstaltungen im Sinne der §§1 und 2 der Verordnung des Bundesministers für Unterricht und Kunst, BGBl Nr 369/1974, sowie an gleichartigen Schulveranstaltungen an anderen vom Geltungsbereich der zitierten Verordnung nicht erfaßten Schularten;
2. bei der Ausübung einer im Rahmen des Lehrplanes bzw. der Studienordnung vorgeschriebenen oder üblichen praktischen Tätigkeit.
(6) Verbotswidriges Handeln schließt die Annahme eines Arbeitsunfalles nicht aus."
2. Die Unfallversicherung für Schüler und Studenten im Sinne des §8 Abs1 Z3 lith und i sowie §175 Abs4 und 5 ASVG wurde durch die 32. Novelle zum ASVG eingeführt. Die darauf bezughabende Übergangsbestimmung des ArtVI der 32. Novelle zum Allgemeinen Sozialversicherungsgesetz, BGBl 704/1976, lautet auszugsweise wie folgt (das angefochtene Wort ist hervorgehoben):
"Artikel VI
Übergangsbestimmungen
(1) – (26) [...]
(27) Ist ein gemäß §8 Abs1 Z3 lith und i des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes Versicherter bzw. eine Person, die bei früherem Wirksamkeitsbeginn der Bestimmungen des ArtI Z5 versichert gewesen wäre, am 1. Jänner 1977 auf Grund der Folgen eines Unfalles, der erst gemäß §175 Abs4 und 5 in der Fassung des ArtIII Z3 als Arbeitsunfall anerkannt wird, völlig erwerbsunfähig, so sind ihm (ihr) die Leistungen der Unfallversicherung zu gewähren, wenn der Versicherungsfall nach dem 31. Dezember 1955 eingetreten ist und der Antrag bis 31. Dezember 1977 gestellt wird. Die Leistungen sind frühestens ab 1. Jänner 1977 zu gewähren. Wird der Antrag später gestellt, gebühren die Leistungen ab dem auf die Antragstellung folgenden Monatsersten."
III. Sachverhalt und Antragsvorbringen
1. Der am 9. Mai 1964 geborene Antragsteller wurde im Jahr 1973 im Turnunterricht von einem Mitschüler verletzt. Er erlitt dabei einen Milzriss mit nachfolgender Milzvenenthrombose und leidet seitdem unter erhöhtem Leberdruck, einer schweren Schädigung der Leber und einem Pfortaderverschluss. Seine Erwerbsfähigkeit ist dadurch aktuell um 100 vH gemindert. Mit Schriftsatz vom 8. Oktober 2013 beantragte er bei der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt (im Folgenden: AUVA), den erlittenen Unfall als Schülerunfall anzuerkennen und ihm eine Versehrtenrente zu gewähren.
2. Die AUVA wies diesen Antrag mit Bescheid vom 4. November 2014 ab. Begründend führte sie aus, dass bei Versicherungsfällen, die vor dem 1. Jänner 1977 eingetreten seien, Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung gemäß §175 Abs4 und 5 iVm ArtVI Abs27 der 32. Novelle zum ASVG nur dann gebührten, wenn der Versehrte am 1. Jänner 1977 völlig erwerbsunfähig gewesen sei. Am 1. Jänner 1977 sei die unfallkausale Minderung der Erwerbsfähigkeit auf dem arbeitsmedizinischen Fachgebiet jedoch noch bei weniger als 10 vH gelegen. Sie sei erst im Jahr 1984 auf 60 vH und im Jahr 1993 auf 80 vH angestiegen. Zudem habe der Beweis für das Vorliegen eines Unfalls in Zusammenhang mit der schulischen Ausbildung nicht erbracht werden können.
3. Die gegen diesen Bescheid an das Arbeits- und Sozialgericht Wien erhobene Klage wurde mit Urteil vom 19. Jänner 2016 mit der gleichen Begründung abgewiesen. Gegen dieses Urteil erhob der Antragsteller Berufung an das Oberlandesgericht Wien.
4. Mit dem vorliegenden, auf Art140 Abs1 Z1 litd B VG gestützten, gleichzeitig mit der erhobenen Berufung gestellten Antrag begehrt der Einschreiter, das Wort "völlig" in ArtVI Abs27 der 32. Novelle zum ASVG, BGBl 704/1976, als verfassungswidrig aufzuheben. Nach Ansicht des Antragstellers sei es verfassungswidrig, für den Bezug einer Versehrtenrente auf eine völlige Erwerbungsunfähigkeit im Jahr 1977 abzustellen, da der Grad der Erwerbsfähigkeit im Laufe der Zeit schwanken könne. So würden Personen, die am 1. Jänner 1977 völlig erwerbsunfähig gewesen seien, selbst dann in den Anwendungsbereich des §175 ASVG fallen, wenn sich der Grad der Erwerbsfähigkeit später gemindert habe. Umgekehrt würden Personen vom Bezug einer Versehrtenrente ausgeschlossen, die zwar am 1. Jänner 1977 nicht derart stark in ihrer Erwerbsfähigkeit gemindert waren, deren Minderung jedoch im Laufe der Zeit auf 100 vH angestiegen sei. Darin liege nach Ansicht des Antragstellers eine Differenzierung, die sachlich nicht zu rechtfertigen sei.
IV. Erwägungen
1. Der Antrag ist unzulässig.
2. Dem mit BGBl I 114/2013 in das B VG eingefügten, mit 1. Jänner 2015 in Kraft getretenen Art140 Abs1 Z1 litd B VG zufolge erkennt der Verfassungsgerichtshof über die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen "auf Antrag einer Person, die als Partei einer von einem ordentlichen Gericht in erster Instanz entschiedenen Rechtssache wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt zu sein behauptet, aus Anlass eines gegen diese Entscheidung erhobenen Rechtsmittels".
3. Ein Gesetzesprüfungsantrag ist nach ständiger Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs u.a. nur dann zulässig, wenn für den Fall einer gänzlichen oder teilweisen Aufhebung der angefochtenen Norm die behauptete Verfassungswidrigkeit beseitigt würde (vgl. etwa VfSlg 19.178/2010, zuletzt den Beschluss vom 2.7.2015, G303/2015). Dies ist hier nicht der Fall:
3.1. Erwerbsunfähigkeit im unfallversicherungsrechtlichen Sinne liegt vor, wenn die betreffende Person auf Grund ihres Leidenszustandes nicht mehr in der Lage ist, irgendeine am allgemeinen Arbeitsmarkt noch bewertete Tätigkeit auszuüben, wenn also die Erwerbsfähigkeit um 100 vH gemindert ist. Angesichts dessen stellt die angefochtene Zeichenfolge "völlig" nur eine Verdeutlichung des vom Gesetzgeber Gewollten dar, nämlich der Normierung des Vorliegens von Erwerbsunfähigkeit im vorgenannten Sinne als Voraussetzung dafür, dass auch Unfälle, die sich vor dem Inkrafttreten der Schüler- und Studentenunfallversicherung ereignet haben, nach der neuen Rechtslage entschädigt werden können. Für die Auslegung der Norm ist der Ausdruck "völlig" insofern redundant, als auch die Aufhebung dieses Wortes die Rechtslage nicht ändern würde, nämlich dass Erwerbsunfähigkeit in der Unfallversicherung eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 100 vH voraussetzt.
3.2. Die behauptete Verfassungswidrigkeit – läge sie denn vor – würde daher durch die Aufhebung dieses einen Wortes nicht beseitigt werden können.
4. Der Anfechtungsumfang erweist sich daher als zu eng gewählt.
V. Ergebnis
1. Der Antrag ist zurückzuweisen.
2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs3 Z2 lite VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.