JudikaturVfGH

E812/2016 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung

Entscheidung
30. Juni 2016

Spruch

I. Die Beschwerdeführerin ist durch das angefochtene Erkenntnis in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt und Beschwerde

1. Die Beschwerdeführerin ist tschechische Staatsangehörige, seit dem 10. September 2014 in Österreich gemeldet und steht seit dem 19. August 2015 in einem aufrechten Dienstverhältnis in Österreich.

1.1. Mit dem Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Korneuburg vom 19. Februar 2014 wurde die Beschwerdeführerin wegen des Verbrechens des gewerbsmäßigen schweren Diebstahls nach §§127, 128 Abs2, 130 dritter Fall StGB und §§125, 126 Abs1 Z2 StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 18 Monaten unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren verurteilt. Es wurde als erwiesen angenommen, dass die Beschwerdeführerin in 43 Fällen mit einem Mittäter in einem Zeitraum von Juni bis August 2013 diverse Kupfer und Metallgegenstände in einem € 50.000,– übersteigenden Wert weggenommen habe, um sich oder einen dritten durch deren Zueignung unrechtmäßig zu bereichern, wobei sie die schweren Diebstähle in der Absicht begangen habe, sich durch die wiederkehrende Begehung der Tat eine fortlaufende Einnahmequelle zu verschaffen. Mildernd wurde dabei der ordentliche Lebenswandel, das reumütige Geständnis, die völlig untergeordnete Tatbeteiligung sowie das Alter unter 21, erschwerend das Zusammentreffen zweier Verbrechen und die Vielzahl der Tathandlungen innerhalb eines kurzen Zeitraumes berücksichtigt.

1.2. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 23. Jänner 2015 wurde über die Beschwerdeführerin gemäß §67 Abs1 iVm Abs2 FPG ein auf die Dauer von fünf Jahren befristetes Aufenthaltsverbot verhängt und gemäß §70 Abs3 FPG ein Durchsetzungsaufschub von einem Monat ab Durchsetzbarkeit erteilt. Die Beschwerdeführerin erhob dagegen am 9. Februar 2015 Beschwerde.

2. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 31. März 2016 wurde der Beschwerde insofern Folge gegeben, als die Dauer des Aufenthaltsverbotes auf sechs Monate herabgesetzt wurde. Im Übrigen wurde der angefochtene Bescheid bestätigt.

Begründend führt das Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen aus, dass die Beschwerdeführerin bei der Begehung der Straftaten nur eine untergeordnete Rolle gespielt habe, jedoch wegen der vielfachen Eigentumsdelikte mit einer erheblichen Schadenssumme und der gewerbsmäßigen Begehung keine positive Zukunftsprognose möglich gewesen sei. Die Bemessung des Aufenthaltsverbotes mit einer Dauer von fünf Jahren erscheine jedoch als nicht geboten: Die Beschwerdeführerin wurde erstmals in Österreich straffällig und habe sich seit der letzten Tat im August 2013 wohlverhalten. Die bedingte Freiheitsstrafe von 18 Monaten könne als äußert gering bezeichnet werden, weiters sei das Alter der Beschwerdeführerin bei der Tatbegehung und ihre untergeordnete Rolle dahin zu berücksichtigen und bei der Verhängung eines Aufenthaltsverbotes müsse die Verhältnismäßigkeit gewahrt werden. Wörtlich heißt es in der Entscheidung weiter:

"Zu Gunsten der BF war weiters zu berücksichtigen, dass diese sich nachweislich um die Aufnahme einer Berufstätigkeit im Bundesgebiet bemüht hat und nunmehr seit 19.08.2015 einer Beschäftigung im Ausmaß von 35 Wochenstunden nachgeht. Zu berücksichtigen ist weiters, dass die BF im Bundesgebiet über familiäre Bindungen insofern verfügt, als ihr Ehegatte und ihr minderjähriges Kind im Bundesgebiet aufhältig sind, mit welchen die BF im gemeinsamen Haushalt lebt, sodass zweifellos ein Familienleben im Sinne des Art8 EMRK vorliegt."

Zum Entfall der mündlichen Verhandlung führt das Bundesverwaltungsgericht begründend aus:

"Da der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint, konnte gemäß §21 Abs7 BFA-VG eine mündliche Verhandlung unterbleiben.

[…]

Im gegenständlichen Fall ist dem angefochtenen Bescheid ein umfassendes Ermittlungsverfahren durch die belangte Behörde vorangegangen. Der Sachverhalt wurde nach Durchführung eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens unter schlüssiger Beweiswürdigung der belangten Behörde festgestellt und es wurde in der Beschwerde auch kein dem Ergebnis des Ermittlungsverfahrens der belangten Behörde entgegenstehender oder darüber hinaus gehender Sachverhalt in konkreter und substantiierter Weise behauptet."

3. Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende, auf Art144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung von Art8 EMRK geltend gemacht und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.

Begründend wird dazu im Wesentlichen ausgeführt:

Die Lebensumstände der Beschwerdeführerin hätten sich seit der Erlassung des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, aber auch seit der Einbringung der Beschwerde grundlegend verändert: Die Beschwerdeführerin sei mittlerweile schwanger. Der voraussichtliche Entbindungstermin sei der 16. August 2016. Die Beschwerdeführerin sei ausschließlich in Österreich sozialversichert. Private oder familiäre Bindungen zum Heimatstaat lägen nicht vor. Ebenso wenig habe die schwangere Beschwerdeführerin in Tschechien eine Wohnmöglichkeit für sich und ihr minderjähriges Kind. Zudem wäre dem Ehegatten (Kindesvater) die übliche Kontaktmöglichkeit zu seinem neugeborenen Kind genommen.

4. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl und das Bundesverwaltungsgericht legten die Verwaltungs- und Gerichtsakten vor, erstatteten jedoch keine Gegenschrift.

II. Rechtslage

1. §67 Abs1 und 2 FPG, BGBl I 100/2005 idF BGBl I 87/2012, lautet:

"Aufenthaltsverbot

§67. (1) Die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen unionsrechtlich aufenthaltsberechtigte EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige ist zulässig, wenn auf Grund ihres persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet ist. Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Strafrechtliche Verurteilungen allein können nicht ohne weiteres diese Maßnahmen begründen. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig. Die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige, die ihren Aufenthalt seit zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, ist dann zulässig, wenn aufgrund des persönlichen Verhaltens des Fremden davon ausgegangen werden kann, dass die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde. Dasselbe gilt für Minderjährige, es sei denn, das Aufenthaltsverbot wäre zum Wohl des Kindes notwendig, wie es im Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes vorgesehen ist.

(2) Ein Aufenthaltsverbot kann, vorbehaltlich des Abs3, für die Dauer von höchstens zehn Jahren erlassen werden."

2. §70 FPG, BGBl I 100/2005 idF BGBl I 87/2012, lautet:

"Ausreiseverpflichtung und Durchsetzungsaufschub

§70. (1) Die Ausweisung und das Aufenthaltsverbot werden spätestens mit Eintritt der Rechtskraft durchsetzbar; der EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige hat dann unverzüglich auszureisen. Der Eintritt der Durchsetzbarkeit ist für die Dauer eines Freiheitsentzuges aufgeschoben, auf den wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung erkannt wurde.

(Anm.: Abs2 aufgehoben durch BGBl I Nr 87/2012)

(3) EWR-Bürgern, Schweizer Bürgern und begünstigten Drittstaatsangehörigen ist bei der Erlassung einer Ausweisung oder eines Aufenthaltsverbotes von Amts wegen ein Durchsetzungsaufschub von einem Monat zu erteilen, es sei denn, die sofortige Ausreise wäre im Interesse der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit erforderlich.

(4) Der Durchsetzungsaufschub ist zu widerrufen, wenn

1. nachträglich Tatsachen bekannt werden, die dessen Versagung gerechtfertigt hätten;

2. die Gründe für die Erteilung weggefallen sind oder

3. der EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige während seines weiteren Aufenthaltes im Bundesgebiet ein Verhalten setzt, das die sofortige Ausreise aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit gebietet."

3. §9 Abs1 und 2 BFA-VG, BGBl I 87/2012 idF BGBl I 144/2013, lautet:

"Schutz des Privat- und Familienlebens

§9. (1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß §52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß §61 FPG, eine Ausweisung gemäß §66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß §67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art8 Abs2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:

1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,

2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,

3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,

4. der Grad der Integration,

5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,

6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,

7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,

8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,

9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist."

III. Erwägungen

Der Verfassungsgerichtshof hat über die – zulässige – Beschwerde erwogen:

1. Die Beschwerdeführerin wurde in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz gemäß Art7 B VG (zur Anwendung dieses verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auch auf Unionsbürger vgl. VfSlg 19.077/2010, 19.515/2011) verletzt.

1.1. Eine Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz kann nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (zB VfSlg 10.413/1985, 14.842/1997, 15.326/1998 und 16.488/2002) nur vorliegen, wenn die angefochtene Entscheidung auf einer dem Gleichheitsgebot widersprechenden Rechtsgrundlage beruht, wenn das Verwaltungsgericht der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat.

1.2. Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 8808/1980 mwN, 14.848/1997, 15.241/1998 mwN, 16.287/2001, 16.640/2002).

2. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

2.1. Aufenthaltsverbote werden grundsätzlich spätestens mit Eintritt der Rechtskraft durchsetzbar und verpflichten den Fremden zur unverzüglichen Ausreise. EWR-Bürgern ist jedoch bei der Erlassung eines Aufenthaltsverbotes von Amts wegen ein Durchsetzungsaufschub von einem Monat zu erteilen, es sei denn, die sofortige Ausreise wäre im Interesse der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit erforderlich (vgl. §70 Abs1 und 2 FPG).

2.2. Auf Grund dieser Folgewirkung sind Aufenthaltsverbote in besonderem Maße geeignet, in das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Privat- und Familienleben von Betroffenen einzugreifen (vgl. auch VfSlg 19.475/2011 mwN). Der Gesetzgeber hat daher ausdrücklich angeordnet, dass die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes bei Eingriff in das Privat- oder Familienleben eines Fremden nur zulässig ist, wenn dieses zur Erreichung der im Art8 Abs2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist (vgl. §9 Abs1 und 2 BFA-VG). Mit dieser Anordnung verdeutlicht der Gesetzgeber die verfassungsrechtlich gebotene Interessenabwägung und zwingt zu einer Bewertung des Privat- und Familienlebens zum Zeitpunkt der Entscheidung (vgl. VfGH 6.6.2014, E20/2014).

2.3. Eine Bewertung des Privat- und Familienlebens der Beschwerdeführerin erfolgte in der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes vom 31. März 2016. In dieser hat das Bundesverwaltungsgericht die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens und der Beweiswürdigung des bekämpften Bescheides vom 23. Jänner 2015 übernommen. Das Privat- und Familienleben eines Menschen kann sich jedoch in einem Zeitraum von mehr als einem Jahr (14 Monate) entscheidend ändern, weshalb eine Beurteilung durch das Bundesverwaltungsgericht zum Zeitpunkt der Entscheidung verfassungsgesetzlich geboten war.

2.4. Eine solche Beurteilung zum Zeitpunkt der Entscheidung ist im vorliegenden Fall – wie sich aus dem Gerichtsakt ergibt – nicht erfolgt. Das Bundesverwaltungsgericht hat auch keine mündliche Verhandlung durchgeführt oder der Beschwerdeführerin auf sonstige Weise die Gelegenheit zur Wahrung des Parteiengehörs bzw. zur Stellungnahme zu ihrem Privat- und Familienleben gegeben. Mit Blick auf den seit der Erlassung des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl verstrichenen Zeitraum wird damit aber die Beschwerdeführerin in ihren verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten verletzt, zumal vor dem Hintergrund der Ausführungen in der Beschwerde vom 9. Februar 2015 gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl keinesfalls auszuschließen war, dass seit Erlassung dieses Bescheides eine Änderung des Privat- und Familienlebens eintreten könnte.

IV. Ergebnis

1. Die Beschwerdeführerin ist somit durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz verletzt worden.

2. Das angefochtene Erkenntnis ist daher bereits aus diesem Grund aufzuheben.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– sowie der Ersatz der Eingabengebühr in Höhe von € 240,– enthalten.

Rückverweise