JudikaturVfGH

E1600/2014 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung

Entscheidung
19. November 2015

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß Art47 Abs2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesministerin für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerdevorbringen und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Somalia und stellte am 16. Juni 2011 einen Antrag auf internationalen Schutz. Die Befragung des Beschwerdeführers nach §19 Abs1 Asylgesetz 2005 ("Erstbefragung") erfolgte am selben Tag in der Zeit von 6.18 bis 7.00 Uhr. In weiterer Folge wurde der Beschwerdeführer am 29. November 2011 vor dem Bundesasylamt einvernommen.

2. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 5. Juni 2012 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz abgewiesen (Spruchpunkt I) und ihm gemäß §8 Abs1 Asylgesetz 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II).

3. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit dem angefochtenen Erkenntnis ohne Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung ab. Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen Folgendes wörtlich aus:

"Aufgrund mangelnder Glaubhaftigkeit des Vorbringens des Antragstellers zu einem Verfolgungsrisiko von Seiten der radikal islamistischen Gruppierung Al Shabaab konnte in concreto nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer bei Rückkehr einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt wäre. Aufgrund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich, dass die behauptete Furcht des Beschwerdeführers, in seinem Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aus den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen verfolgt zu werden, nicht begründet ist.

Dem weiters dem Antragsteller allenfalls in der Vergangenheit gedroht habenden oder pro futuro noch drohenden Risiko von allgemeinen Bürgerkriegsereignissen betroffen zu sein, wurde durch die Zuerkennung subsidiären Schutzes hinreichend Rechnung getragen."

4. Die außerordentliche Revision gegen dieses Erkenntnis wurde vom Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 26. Mai 2015 zur Z Ra 2014/01/0162-12 zurückgewiesen.

5. Das Bundesverwaltungsgericht legte dem Verfassungsgerichtshof die Verwaltungs- und Gerichtsakten vor, nahm von der Erstattung einer Gegenschrift Abstand und verwies auf die Begründung des angefochtenen Erkenntnisses.

II. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

2. Für das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht regelt §21 Abs7 BFA-VG den Entfall der mündlichen Verhandlung. Das Absehen von einer mündlichen Verhandlung steht – sofern zuvor bereits ein Verwaltungsverfahren stattgefunden hat, in dessen Rahmen Parteiengehör gewährt wurde – jedenfalls in jenen Fällen im Einklang mit Art47 Abs2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC), in denen der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen tatsachenwidrig ist (s. VfSlg 19.632/2012).

Das Absehen von einer gebotenen mündlichen Verhandlung stellt hingegen eine Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht nach Art47 Abs2 GRC dar (VfGH 13.3.2013, U1175/12 ua.; 26.6.2013, U1257/2012; 22.9.2014, U2529/2013).

3. Eine solche Verletzung in Art47 Abs2 GRC liegt aus folgendem Grund vor:

In der im angefochtenen Erkenntnis vorgenommenen Beweiswürdigung geht das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass ein "krasser Aussagewiderspruch hinsichtlich des Ausreisemotivs" vorliege. Daher sei das Vorbringen des Antragstellers zu seinen Fluchtmotiven "eindeutig nicht als glaubhaft zu erkennen."

Das Bundesverwaltungsgericht stützt seine Beweiswürdigung auf eine Gegenüberstellung von Aussagen des Beschwerdeführers anlässlich seiner Befragung durch die Polizei nach §19 Abs1 Asylgesetz 2005 ("Erstbefragung") und anlässlich seiner Einvernahme vor dem Bundesasylamt. Das Bundesverwaltungsgericht hält zur "Erstbefragung" wörtlich fest:

"Zu diesem Zeitpunkt – dem Antragsteller mußte zwingend bewusst gewesen sein, worum es bei der Frage nach seinen Fluchtgründen gehe – führte der Antragsteller und nunmehrige Beschwerdeführer mit keinem Hinweis oder auch nur ansatzweise oder verklausuliert oder versteckt weitere Ereignisse oder konkrete personenbezogene Fluchtmotive ins Treffen."

Demgegenüber habe sich der Beschwerdeführer in seiner Einvernahme vor dem Bundesasylamt auf einen "gänzlich geänderten Sachverhalt bzw. andere Ausreisemotive" als in seiner "Erstbefragung" bezogen.

3.1. In §19 Abs1 Asylgesetz 2005 wird ausdrücklich bestimmt, dass sich die sogenannte "Erstbefragung" nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen hat. Sie dient "insbesondere" der Ermittlung der Identität und der Reiseroute des Fremden.

Das Bundesverwaltungsgericht hat unbeachtet gelassen, dass der am 10. September 1993 geborene Beschwerdeführer zum Zeitpunkt seiner "Erstbefragung" minderjährig war.

Auch die Umstände der Ereignisse, die zur "Erstbefragung" des damals Minderjährigen führten, sind geeignet, Zweifel daran zu erwecken, ob den Aussagen des Beschwerdeführers anlässlich seiner "Erstbefragung" jenes Gewicht zugemessen werden kann, das ihnen das Bundesverwaltungsgericht in seiner Beweiswürdigung, die sich ausschließlich auf den Akteninhalt stützen musste, zumisst.

Ausweislich der Verwaltungsakten wurde der damals minderjährige Beschwerdeführer nämlich am 15. Juni 2011 um 11.05 Uhr am Flughafen Schwechat "gemäß den Bestimmungen der Strafprozessordnung" festgenommen und in der Folge von Organen der Landeskriminalamtes Niederösterreich wegen des Verdachts der Begehung eines Urkundendelikts bei der versuchten Ausreise aus dem Bundesgebiet vernommen. Nachdem am 16. Juni 2011 um 3.00 Uhr die Haftgründe nach der StPO weggefallen waren, wurde der Beschwerdeführer – offenbar nachdem er einen Antrag auf internationalen Schutz gestellte hatte – gemäß §47 Abs1 Z1 Asylgesetz 2005 (aufgehoben mit BGBl I 87/2012) festgenommen. Wenige Stunden später, nämlich von 6.18 Uhr bis 7.00 Uhr wurde er nach §19 Abs1 Asylgesetz 2005 von Organen des Stadtpolizeikommandos Schwechat befragt.

3.2. Diese Umstände lassen darauf schließen, dass sich der damals minderjährige Beschwerdeführer schon auf Grund der Art der Ereignisse am 15./16. Juni 2011 (insbesondere seiner Festnahme) und ihrer zeitlich engen Abfolge, die in der "Erstbefragung" des Beschwerdeführers in den frühen Morgenstunden des 16. Juni 2011 gipfelten, allenfalls in einer ArtAusnahmezustand befand. Das Bundesverwaltungsgericht konnte daher zulässigerweise die von ihm angenommene Unglaubwürdigkeit des Fluchtvorbringens des Beschwerdeführers jedenfalls nicht ohne die Durchführung einer mündlichen Verhandlung auf einen "krassen Aussagewiderspruch" stützen, den das Bundesverwaltungsgericht auf Grund einer bloß auf dem Aktenstudium beruhenden Beweiswürdigung angenommen hatte.

Der Sachverhalt war daher weder aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde hinreichend geklärt, noch konnte sich aus den bisherigen Ermittlungen für das Bundesverwaltungsgericht zweifelsfrei ergeben, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht (vgl. §21 Abs7 BFA-VG). Insoweit lagen die Voraussetzungen für das Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung nicht vor.

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß Art47 Abs2 GRC verletzt worden.

2. Das angefochtene Erkenntnis ist daher bereits aus diesem Grund aufzuheben.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten.

Die als "ERV-Kosten" geltend gemachten Kosten sind schon deshalb nicht zuzusprechen, da diese bereits mit dem Pauschalsatz abgegolten sind (VfGH 20.2.2014, U1190/2013; 25.6.2014, U2671/2013; 26.11.2014, E873/2014).

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