U234/2013 ua – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung
Spruch
I. Die Beschwerdeführer sind durch die angefochtenen Ent scheidungen in dem durch das Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973 verfassungsgesetz lich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden unter einander verletzt worden.
Die Entscheidungen werden aufgehoben.
II. Der Bund (Bundeskanzler) ist schuldig, den Beschwerde führern zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit jeweils € 2.616,– bestimmten Prozess kosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Bei den beschwerdeführenden Parteien handelt es sich um Angehörige einer fünfköpfigen Familie mit russischer Staats- und tschetschenischer Volksgruppen angehörigkeit. Nachdem sie in der Slowakei Asylanträge gestellt hatte, reisten die erst- und zweitbeschwerdeführende Parteien am 26. Juli 2006 gemeinsam mit der Mutter und den drei Brüdern des Erstbeschwerdeführers nach Österreich ein und stellten am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz. Im Zuge der Erstbefragung nannte der Erstbeschwerdeführer die Ermordung seines Vaters durch russische Soldaten im Jahr 2003 und mehrere darauf folgenden Ver schleppungen bis ins Jahr 2006, die jeweils mit Folterung verbunden gewesen wären, als Fluchtgrund.
2. Am 11. August 2006 legten die beschwerdeführenden Parteien einen psycho therapeutischen Kurzbericht vor (Gutachten Dr. E. K.), dem zufolge der Erstbeschwerdeführer an einer schweren posttraumatischen Belastungsstörung leide. In der Folge holte das Bundesasylamt im Zulassungsverfahren eine gut achterliche Stellungnahme gemäß §30 AsylG 2005 ein (Gutachten Dr. I. H.), mit der eine inkomplette posttraumatische Belastungsstörung mit möglicherweise beginnender Chronifizierung diagnostizierte wurde. Eine Überstellung in einen anderen EU-Mitgliedstaat sei zu diesem Zeitpunkt aus der Perspektive des Art3 EMRK unzumutbar gewesen.
3. Nach der Zulassung zum Verfahren holte das Bundesasylamt am 12. Jänner 2007 erneut ein psychiatrisches Gutachten ein (Gutachten Dr. W. K.), mit dem die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung bestätigt wurde. Noch während des Verfahrens vor dem Bundesasylamt wurde am 1. Mai 2007 die dritte Beschwerdeführerin geboren und nach Stellung eines Asylantrages in das Verfahren einbezogen. Nach zweimaliger Einvernahme der erst- und zweit beschwerdeführenden Parteien wurden die Anträge der erst- bis dritt beschwerdeführenden Parteien mit Bescheiden des Bundesasylamtes vom 1. Juni 2007, 14. Juni 2007 bzw. 28. Juni 2007 abgewiesen und die beschwerde führenden Parteien in die russische Föderation ausgewiesen.
4. Gegen diese Bescheide erhoben die erst- bis drittbeschwerdeführenden Parteien fristgerecht am 26. Juli 2007 Beschwerde. Am 7. Juli 2008 bzw. am 1. April 2011 wurde die Viert- bzw. die Fünftbeschwerdeführerin geboren. Auch diese erhoben nach Durchführung eines erstinstanzlichen Verfahrens gegen die negativen Bescheide des Bundesasylamtes vom 30. September 2008 bzw. vom 30. Mai 2011 Beschwerden an den Asylgerichtshof. Nach dreieinhalb Jahren ohne aktenkundige Verfahrensschritte ersuchte der Erstbeschwerdeführer am 15. Februar 2011 – ohne unmittelbaren Erfolg – um ehest mögliche Anberaumung einer mündlichen Verhandlung. Am 25. September 2012 legte der Erst beschwerdeführer das Gutachten einer allgemein beeideten und gerichtlich zertifizierten Sachverständigen für Psychiatrie und Neurologie (Gutachten Dr. E. B.) vor, mit dem "eine mittel- bis schwergradige depressive Episode mit somatischem Syndrom" sowie "eine andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung" diagnostiziert wurde. Am 16. Oktober 2012 führte der Asyl gerichtshof eine mündliche Verhandlung durch, bei welcher die erst- und zweitbeschwerdeführende Partei, sowie die Mutter und die drei Brüder des Erstbeschwerdeführers einvernommen wurden. Am 12. November 2012 legte der Erstbeschwerdeführer ein Schreiben der Gutachterin Dr. E. B. zur Be handlungsbedürftigkeit seiner psychischen Erkrankung vor.
5. Mit Entscheidungen vom 7. Jänner 2013 wies der Asylgerichtshof die Beschwerden der beschwerdeführenden Parteien ab und verfügte die Ausweisung nach Russland. Die Abweisung des Asylantrages begründete der Asylgerichtshof im Wesentlichen damit, dass die psychischen Beschwerden des Erstbeschwerdeführers ihre Ursache im miterlebten Tod des Vaters hätten, welches Ereignis aber bereits drei Jahre vor der Ausreise stattgefunden hätte und daher nicht als fluchtkausal betrachtet werden könne. Die Angaben über die angeb lichen Verschleppungen sein hingegen aufgrund des vagen Vorbringens und aufgrund von Widersprüchlichkeiten nicht glaubhaft. Bei der Frage der Gewährung von subsidiärem Schutz sei zu berücksichtigen gewesen, dass der Erstbeschwerdeführer während seines Aufenthaltes in Österreich keine therapeutischen Maßnahmen in Anspruch genommen hätte und auch eine stationäre Behandlung nicht notwendig gewesen sei. Da die gesamte Kernfamilie ausgewiesen werde und kein Familienmitglied eine außer gewöhnliche Integration aufweise, sei auch die Ausweisung aus dem Blickwinkel des Art8 EMRK zulässig.
6. Gegen diese Entscheidung richten sich die vorliegenden, auf Art144a B VG gestützte Beschwerden, in denen die Verletzung in verfassungsgesetzlich ge währleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung der angefochtenen Entscheidungen beantragt wird.
7. Der Asylgerichtshof legte auf Aufforderung des Verfassungsgerichtshofes, die Verwaltung- und Gerichtsakten vollständig und geordnet vorzulegen, einen Großteil der Akten am 21. Mai 2013 vor. Die fehlenden Aktenteile wurden nach erneuter Aufforderung am 24. Juni 2013 vorgelegt. Auf eine Gegenschrift ver zichtete der Asylgerichtshof.
II. Erwägungen
1. Die – zulässigen – Beschwerden sind begründet.
2. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Recht sprechung des Verfassungsgerichtshofes (s. etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Inter nationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unter scheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleich behandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleich behandlung nicht unverhältnismäßig ist.
Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Be stimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl. zB VfSlg 16.214/2001), wenn der Asylgerichtshof dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Überein kommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s. etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn er bei Fällung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).
Ein willkürliches Verhalten der Behörde, das in die Ver fassungssphäre ein greift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Er mittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unter lassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivor bringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außer-Acht-Lassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).
3. Ein solcher Fehler ist dem Asylgerichtshof unterlaufen:
3.1. Der AsylGH ist bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Beschwerde führers zur umfassenden Auseinandersetzung mit allen relevanten Gesichtspunkten verpflichtet. Dazu gehört beispielsweise auch seine psychische Gesundheit, bei deren Beeinträchtigung ein großzügiger Maßstab an die Detailliertheit seines Vorbringens zu legen ist (VfSlg 18.701/2009). Der Asyl gerichtshof hält das Vorbringen hinsichtlich der mehrmaligen Verschleppung des Beschwerdeführers für nicht glaubhaft und begründet dies ausführlich mit einem Verweis auf die Feststellungen in der Entscheidung betreffend die Mutter des Erstbeschwerdeführers, die in der Entscheidung betreffend den Erst beschwerdeführer wie folgt wörtlich wiedergegeben sind:
"Bereits vor dem Bundesasylamt haben sich im Zusammenhang mit der Ver folgung des Sohnes Usman Widersprüche ergeben bzw. blieben die Ausführungen dahingehend höchst vage und unbestimmt. Das ursprüngliche Vorbringen wurde im Beschwerdeverfahren massiv gesteigert und konnten das Vorbringen betreffend das Interesse an Usman weder von der Beschwerde führerin noch vom Sohn Usman selbst oder von den weiteren Geschwistern nachvollziehbar und konkret dargelegt werden. Vielmehr gestalteten sich die Ausführungen in der Beschwerdeverhandlung unergiebig und haben sich weitere Ungereimtheiten in den Schilderungen ergeben.
In Zusammenhalt mit dem gewonnen Eindruck des erkennenden Senates von der Beschwerdeführerin und ihren Söhnen in der Beschwerdeverhandlung hat sich das Bedrohungsszenario, das die Beschwerdeführerin für sich und insbesondere ihre Söhne im Herkunftsstaat skizziert hat, als vollkommen unglaubwürdig er wiesen."
Über die Feststellungen, die zur Mutter des Erstbeschwerdeführers getroffen wurden hinausgehend, stellt der Asylgerichtshof zur Glaubwürdigkeit des Erstbeschwerdeführers selbst lediglich fest:
"In den soeben dargelegten beweiswürdigenden Überlegungen wurde anschaulich dargelegt, dass dem Vorbringen des Beschwerdeführers, wonach er im Zusammenhang mit seinem verstorbenen Vater drei Mal festgenommen wurde bzw. Probleme zu gewärtigen gehabt habe, die Glaubwürdigkeit zu versagen war."
3.2. Der Asylgerichtshof hat sich in seinen Erwägungen zur Beweiswürdigung mit einer Bezugnahme auf den Akt der Mutter des Erstbeschwerdeführers begnügt und daher den krankheitsbedingten Zustand des Erstbeschwerdeführers nicht ausreichend berücksichtigt. Dass der Erstbeschwerde führer bei der Schilderung seiner Erlebnisse vage bleibt oder ungenaue Angaben macht lässt nämlich nach der Aktenlage für sich noch nicht den Schluss zu, dass der Erstbeschwerdeführer das Geschilderte nicht tatsächlich erlebt hätte.
3.3. Die vom Asylgerichtshof seiner Entscheidung zu Grunde gelegte Beweis würdigung steht insofern in einen Widerspruch zu den vier weitgehend über einstimmenden psychologischen Sachverständigengutachten, als bereits in den ersten beiden Gutachten während des Zulassungsverfahrens (Dr. E. K. und Dr. I. H.) 2006 eine schwere post traumatische Belastungsstörung (ICD F. 43.1) im Übergang zur anhaltenden Persönlichkeitsveränderung nach schwerer Belastung (ICD F. 62.0) diagnostiziert wird. Im letzten Gutachten (Dr. E. B.) aus dem Jahr 2012 wird festgestellt, dass die posttraumatische Störung nun völlig der anhaltenden Persönlichkeitsver änderung nach schwerer Belastung gewichen (ICD F. 62.0) ist.
3.4. Die Gutachter halten allesamt das Vorbringen des Erstbeschwerdeführers für glaubwürdig und in Einklang mit seinem psychischen Zustand stehend. Darüber hinaus weist die im Zulassungs verfahren beigezogene Gutachterin Dr. I. H. darauf hin, dass der Erst beschwerdeführer an beiden Unterarmen Narben aufweist, die durch Ver brennungen mit Zigaretten verursacht worden sein könnten, was dem Vor bringen zu seinen Folterungen während der geschilderten Anhaltung ent sprechen würde. Der Asylgerichtshof setzt sich mit all diesen entscheidungswesentlichen Umständen in seiner Beweiswürdigung nicht auseinander.
3.5. Dadurch hat der Asylgerichtshof Willkür geübt. Da die beanstandete Be gründung auch in der Entscheidung der Zweitbeschwerdeführerin übernommen wurde und die Entscheidungen der Dritt- bis Fünftbeschwerdeführerinnen im Familienverfahren nach dem Erstbeschwerdeführer ergangen sind, belastet dieser Fehler auch die übrigen Entscheidungen mit Willkür. Hinsichtlich der dritt- bis fünftbeschwerdeführenden Parteien ist dem Asylgerichts hof darüber hinaus anzulasten, dass er keine ausreichenden Ermittlungen zur Integration der in Österreich geborenen inzwischen bis zu sechseinhalb Jahre alten Kinder angestellt hat und die Dauer des Verfahrens vor dem Asylgerichts hof von etwa fünfeinhalb Jahren von der Einbringung der Beschwerden bis zur ersten Entscheidung im Rahmen der Interessenabwägung zur Zulässigkeit der Ausweisung nicht entsprechend gewürdigt hat.
III. Ergebnis
1. Die beschwerdeführenden Parteien sind somit durch die angefochtenen Ent scheidungen in dem durch das Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973 verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden.
2. Die angefochtenen Entscheidungen sind daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne münd liche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 iVm §88a VfGG. In den zuge sprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von je € 436,– enthalten.