B409/85 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung
Spruch
Die Beschwerde wird abgewiesen.
Entscheidungsgründe:
I. 1. R F, geb. am 14. Feber 1959, stellte am 9. Oktober 1979 an die Zivildienstkommission beim Bundesministerium für Inneres (ZDK) gemäß §5 des Zivildienstgesetzes (im folgenden ZDG genannt), BGBl. 187/1974, den Antrag, ihn von der Wehrpflicht zu befreien. Der Antrag war ausführlich begründet. Mit Bescheid der ZDK, Senat 1, vom 9. Mai 1980, Z 115633/1-ZDK/1/79 wurde dem Antrag gemäß §2 Abs1 iVm.
§6 Abs1 ZDG stattgegeben und ausgesprochen, daß R F zivildienstpflichtig sei. Der Bescheid wurde am 24. Juni 1980 rechtskräftig. R F leistete vom 1. Feber 1982 bis 30. September 1982 beim Zentralsekretariat des Vereines "Jugendzentrum der Stadt Wien" den ordentlichen Zivildienst.
2. R F wurde mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen in Wien vom 9. November 1982, Z 5e Vr 10729/81, Hv 176/82, schuldig erkannt, er habe in Wien
das Verbrechen der teils vollendeten und teils versuchten schweren Erpressung nach §§144 Abs1, 145 Abs1 Z1 und 15 StGB,
das Verbrechen der versuchten Nötigung zum Beischlaf nach den §§15, 202 Abs1 StGB,
das Vergehen der versuchten Nötigung zur Unzucht nach den §§204 Abs1 und 15 StGB und
das Vergehen der Amtsanmaßung nach dem §314 StGB begangen. Er wurde hiefür nach dem §145 Abs1 StGB, unter Bedachtnahme auf §28 StGB, zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von 2 (zwei) Jahren und gemäß §389 StPO zum Ersatz der Kosten des Strafverfahrens verurteilt.
Mit Urteil des Oberlandesgerichtes Wien vom 30. Mai 1983, Z 21 Bs 210/33, wurde den Berufungen des R F und des Staatsanwaltes nicht Folge gegeben. Das erstinstanzliche Urteil wurde rechtskräftig.
3. Am 9. September 1983 regte der Bundesminister für Ineres unter der Z 115633/6-III/6/83 bei der ZDK an, von Amts wegen die verfügte Befreiung von der Wehrpflicht gemäß §5a ZDG zu widerrufen, weil die schwere Erpressung und die Nötigung zum Beischlaf und zur Unzucht Gewalt gegen andere Menschen einschlössen und nach Ansicht des Bundesministers es nicht länger glaubhaft sei, daß R F bei Leistung des Wehrdienstes der vom ZDG verlangten Gewissensbelastung unterliege.
Dem in Haft befindlichen R F wurde Gelegenheit gegeben, hiezu Stellung zu nehmen. Dieser gab am 28. Feber 1982 folgende Stellungnahme ab:
"Die strafbaren Handlungen, deretwegen ich mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 9. 11. 1982 zu GZ 5e Vr 10729/81, Hv 176/82, verurteilt wurde, sind nicht geeignet, den Schluß des Bundesministeriums für Inneres zu rechtfertigen, wonach es sich um Straftaten gehandelt habe, die Gewalt gegen andere Menschen inkludiere und geeignet sei, meine Befreiung von der Wehrpflicht zu widerrufen. Aufgrund meiner damals schwierigen Situation hatte ich eine 'Jugendsünde' begangen, die keinesfalls auf stabile Aggressionstendenzen Menschen gegenüber schließen läßt. Im Gegenteil:
Der psycholgische Sachverständige, Dr. I K, hatte ausdrücklich angeführt, daß deutlich ausgeprägte soziale Interessen hinsichtlich des Umganges mit Menschen bei mir faßbar seien."
Er beantragte die Beischaffung des Aktes 5e Vr 10729/81, Hv 176/82, des Landesgerichtes für Strafsachen in Wien, wobei insbesondere auf das Sachverständigengutachten der Psychologin Dr. I K Bedacht zu nehmen sei.
Anläßlich der am 23. Mai 1984 vor der ZDK durchgeführten mündlichen Verhandlung gab R F an, er sei bei seinen Straftaten in einer Ausnahmesituation gewesen, über die er nicht mehr sprechen wolle. Auf den Vorhalt, daß er bei seinen Taten, wegen welcher er verurteilt worden sei, Drohungen ausgeübt habe, wendete er ein, das habe mit seiner friedlichen Einstellung nichts zu tun, er habe ja keine Waffen angewendet.
Mit Bescheid der ZDK vom 23. Mai 1984, Z 115633/2-ZDK/8/84, wurde die mit Bescheid der ZDK vom 9. Mai 1980 verfügte Befreiung von der Wehrpflicht gemäß §5a Abs3 ZDG widerrufen. Ferner wurde festgestellt, daß R F wieder wehrpflichtig sei. In der Begründung wurde ausgeführt, aufgrund der Delikte, deretwegen R F rechtskräftig verurteilt worden sei, könne eindeutig geschlossen werden, daß er Gewalt gegen Menschen nicht mehr ablehne, da diese Tatbestände ja Gewalt, wenn auch nur psychische, inkludierten.
4. Der gegen diesen Bescheid von R F fristgerecht erhobenen Berufung gab die Zivildienstoberkommission beim Bundesministerium für Inneres (ZDOK), Senat 1, mit Bescheid vom 29. Oktober 1984, Z 115633/3-ZDOK/1/84, ohne eine mündliche Verhandlung durchgeführt durchgeführt zu haben, nicht Folge.
Die ZDOK begründete ihre Entscheidung folgendermaßen:
"Die vom Berufungswerber vorgebrachten Berufungsgründe bieten keinen Anlaß dazu, von der Entscheidung der Zivildienstkommission beim Bundesministerium für Inneres abzugehen.
Gemäß §5a Abs3 ZDG hat die Zivildienstkommission von Amts wegen die Befreiung von der Wehrpflicht mit Bescheid zu widerrufen, wenn der Zivildienstpflichtige durch sein Verhalten eindeutig erkennen läßt, daß er die Anwendung von Waffengewalt gegen andere Menschen aus den im §2 Abs1 ZDG genannten Gewissensgründen nicht mehr ablehnt und daher auch bei Leistung des Wehrdienstes nicht mehr in schwere Gewissensnot geraten würde.
Diese Kriterien für einen Widerruf liegen auch nach Ansicht der Zivildienstoberkommission gegebenenfalls vor:
Wie den Urteilen des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 9. 11. 1982 und des Oberlandesgerichtes Wien vom 30. 5. 1983, AZ 21 Bs 210/83, zu entnehmen ist, hat R F nach der am 9. 5. 1980 erfolgten Befreiung von der Wehrpflicht im Sommer und Herbst 1981 in Wien zu wiederholten Malen Frauen durch die Androhung von Gewalt gegen ihnen nahestehende, angeblich in der Hand von Sexualverbrechern befindliche Personen zur Herausgabe von Geld und zur Unzucht zu zwingen versucht.
Aus einem solchen Verhalten eines Menschen, der bewußt mit der Angst anderer spekuliert und die Wirkung seiner Drohungen mit Gewalt zur Erreichung eines verbotenen Zwecks zu nützen sucht, kann - wie die Zivildienstkommission zutreffend erkannte - denkrichtig und lebensnah abgeleitet werden, daß eine beim Drohenden früher (allenfalls wirklich bestandene, jedenfalls aber) von der Behörde bei der Anerkennung als gegeben angenommene ablehnende Einstellung gegen die Anwendung von (Waffen )Gewalt gegen andere Menschen offenkundig nicht mehr besteht und er demnach bei Leistung des Wehrdienstes nicht mehr in Gewissensnot geraten würde. Demzufolge war die Behörde erster Instanz zum Widerruf der von ihr gewährten Befreiung von der Wehrpflicht berechtigt. Dabei ist die Frage, warum der vom Wehrdienst Befreite seine (ursprünglich angeblich) gewaltfreie Grundeinstellung in der Folge änderte, in diesem Zusammenhang nicht relevant. Maßgeblich ist nur, daß er durch ein seiner Anerkennung als Zivildiener folgendes Verhalten eindeutig zum Ausdruck brachte, daß die bei ihm anfänglich tatsächlich vorhandene (bzw. im Anerkennungsbescheid als gegeben angenommene) Geisteshaltung nicht mehr besteht. Im übrigen könnte ein derartiger Motivationsumschwung gerade vorliegend im Hinblick auf die Weigerung des Berufungswerbers, Angaben darüber zu machen, wieso es zu den zahlreichen strafbaren Handlungen kam, keineswegs nachvollzogen werden. Diesbezügliche Ausführungen - die der Berufungswerber vermißt - müßten sich demnach zwangsläufig im Bereiche von Vermutungen bewegen. Sie würden daher von der Behörde erster Instanz zu Recht unterlassen. Sie könnten vorliegend selbst vom Berufungssenat nicht nachgetragen werden, weil der Berufungswerber darüber auch in seinem Rechtsmittel keinen Aufschluß gibt. Ein solcher läßt sich letztlich verläßlich auch nicht dem von der Berufung zitierten (im Strafverfahren eingeholten) Gutachten der Dr. I K entnehmen, da dieses auf (Dis )Simulationstendenzen des Berufungswerbers verweist, die ein Verständnis seiner Person natürlich erschweren. Im übrigen spricht die Sachverständige in ihrem Gutachten nicht nur von ausgeprägten sozialen Interessen des Berufungswerbers, sondern - was die Berufung aber verschweigt - auch von dessen Infantilität, Exaltiertheit, Konfliktbereitschaft (basierend auf Ängsten), nonkonformistischer Einstellung, geringem Verantwortungsbewußtsein, impulsiver Egozentrik und Neigung zur Asozialität, sohin von Charaktereigenschaften, die - den Berufungsausführungen zuwider - das Vorliegen einer die Anwendung von Waffengewalt ablehnenden Haltung beim Berufungswerber geradezu unwahrscheinlich erscheinen lassen.
Daß der Berufungswerber nach seinen Straftaten ohne Anstand Zivildienst geleistet hat und von einem Zivildienstvorgesetzten (§38 ZDG) sowie auch von seinem späteren Dienstgeber gelobt wurde, ändert an dem von der Behörde erster Instanz in bezug auf die Einstellung zur Gewaltfreiheit festgestellten Sachverhalt nichts. Beide Umstände können zwanglos mit dem von der genannten Sachverständigen bekundeten Bestreben des Berufungswerbers erklärt werden, in seiner Umwelt Beliebtheit zu erlangen.
Was der Berufungswerber sonst in seinem Rechtsmittel über die Intensität seines Gewinnstrebens bei Begehung der Straftaten und über seine Zukunftsaussichten vorbringt, ist nicht dazu geeignet, irgendwelche Rückschlüsse auf eine weiterhin bei ihm bestehende Gewaltanwendung ablehnende Geisteshaltung zu ziehen."
5. Gegen diesen Bescheid der ZDOK richtet sich die Beschwerde des R F an den VfGH, in der er beantragt, den angefochtenen Bescheid wegen Verletzung des Rechts auf Befreiung von der Wehrpflicht aufzuheben und der bel. Beh. den Ersatz der Verfahrenskosten aufzuerlegen.
6. Die ZDOK als bel. Beh. verzichtete auf die Erstattung von Gegenausführungen und legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor.
II. Der VfGH hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:
1. Der VfGH hat in seinem Erk. VfSlg. 10918/1986 ausgesprochen, daß er die vom damaligen Bf. betreffend die Verfassungsmäßigkeit des §5a ZDG erhobenen Bedenken nicht teilt. Auch der vorliegende Beschwerdefall gibt zu solchen Bedenken keinen Anlaß.
2. a) Der Bf. sieht sich durch den angefochtenen Bescheid in seinem aus §2 Abs1 ZDG abgeleiteten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Befreiung vom Wehrdienst zwecks Zivildienstleistung verletzt.
Er beruft sich darauf, daß die Voraussetzungen für die Befreiung vom Wehrdienst und für den Widerruf dieser Befreiung nicht gleich seien. Während der Antragsteller auf Befreiung vom Wehrdienst die Gewissensgründe, aus denen er die Anwendung von Waffengewalt ablehne, glaubhaft machen müsse, dürfe die Befreiung nur widerrufen werden, wenn das Verhalten des Wehrpflichtigen eindeutig gegen die vom Gesetz geforderte Gewissensüberzeugung spreche. Die Beweislast hiefür treffe die Behörde.
Ob das Gesetz den vom Bf. aufgezeigten Unterschied der Voraussetzungen für die Befreiung vom Wehrdienst und für den Widerruf der Befreiung aufweist, hat der VfGH nicht zu beurteilen. Das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Befreiung vom Wehrdienst wird jedenfalls dann verletzt, wenn einem Antrag nicht stattgegeben oder eine ausgesprochene Befreiung vom Wehrdienst widerrufen wird, obwohl glaubhaft gemacht ist, daß der Betroffene im Falle der Anwendung von Waffengewalt in schwere Gewissensnot geraten würde. Im Falle des Widerrufes ist daher das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Befreiung vom Wehrdienst nur dann verletzt, wenn weiterhin glaubhaft ist, daß der Betroffene im Falle der Anwendung von Waffengewalt in schwere Gewissensnot geraten würde.
b) Eine Verletzung dieses verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes liegt nach der ständigen Rechtsprechung des VfGH nicht nur dann vor, wenn die Behörde die im §2 Abs1 ZDG umschriebenen materiellrechtlichen Voraussetzungen der Wehrpflichtbefreiung unrichtig beurteilt; sie ist, da sich der Schutzumfang des Grundrechtes auf die für den Nachweis der Voraussetzungen maßgebende Vorgangsweise der Glaubhaftmachung (Bescheinigung) miterstreckt, auch dann gegeben, wenn der Behörde wesentliche Verstöße in diesem verfahrensrechtlichen Bereich unterlaufen oder wenn sie dem Antragsteller überhaupt die Möglichkeit nimmt, das Zutreffen der materiellen Voraussetzungen glaubhaft zu machen (vgl. zB VfSlg. 8787/1980), woran sich auch durch die ZDG-Nov. BGBl. 496/1980 nichts änderte (vgl. zB VfSlg. 9549/1982, 9573/1982; VfGH 26. November 1982 B667/81).
c) Maßgebend für die Entscheidung der bel. Beh., daß der Bf. die Anwendung von Waffengewalt gegen andere Menschen nicht mehr ablehnt und daher auch bei Leistung des Wehrdienstes nicht mehr in schwere Gewissensnot geraten würde, war der Umstand, daß dieser in der Zwischenzeit wegen schwerer Straftaten gerichtlich verurteilt worden war. Dem kann der VfGH nicht entgegentreten. Diese Verurteilung läßt nämlich die Auffassung zu, daß der Bf. die innerhalb einer menschlichen Gemeinschaft bestehende Wertordnung geringachtet, und erlaubt es, die auch weiterhin behauptete Grundhaltung zur Anwendung von Waffengewalt als nicht mehr glaubhaft anzusehen. Der Bf. macht keine Umstände geltend, die dafür sprechen würden, daß dem angefochtenen Bescheid in dieser Hinsicht eine - hier allein relevante - wesentlich fehlerhafte Würdigung von Bescheinigungsmitteln zugrunde liege (VfSlg. 9362/1982).
d) Ob der bel. Beh. dadurch, daß sie dem Bf. nicht Gelegenheit gab, seine Gewissensgründe vor ihr mündlich darzulegen, ein Verfahrensfehler unterlaufen ist, hat der VfGH nicht zu beurteilen. Im Hinblick auf seine Anhörung in einer mündlichen Verhandlung im Verfahren erster Instanz wäre ein solcher Mangel jedenfalls nicht wesentlich (vgl. VfSlg. 10021/1984).
e) Bei der gegebenen Beweislage war die ZDOK sohin durchaus berechtigt, die behaupteten Gewissensgründe als nicht mehr glaubhaft gemacht zu werten und den Widerruf der Befreiung vom Wehrdienst gemäß §5a ZDG zu bestätigen.
2. Da sich im Beschwerdeverfahren auch keine Hinweise auf die Verletzung eines anderen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes oder auf eine Rechtsverletzung infolge Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm ergaben, war die Beschwerde abzuweisen.