JudikaturVfGH

G164/88 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung

Entscheidung
01. Oktober 1988

Spruch

§60 des Zivildienstgesetzes 1986 - ZDG (Anlage 1 zur Kundmachung des Bundeskanzlers und des Bundesministers für Inneres vom 11. Dezember 1986, BGBl. Nr. 679, mit der das Zivildienstgesetz wiederverlautbart wird) wird als verfassungswidrig aufgehoben.

Frühere gesetzliche Bestimmungen treten nicht wieder in Wirksamkeit.

Die Aufhebung tritt mit Ablauf des 30. Juni 1989 in Kraft.

Der Bundeskanzler ist verpflichtet, diese Aussprüche unverzüglich im Bundesgesetzblatt kundzumachen.

Entscheidungsgründe:

I. 1. Beim VfGH sind drei Verfahren über Beschwerden (Art144 B-VG) anhängig, die sich gegen die im Instanzenzug ergangenen Bescheide des Landeshauptmannes von Wien vom 7. und 30. Oktober und vom 5. November 1987 wenden. Mit diesen Bescheiden wurden die Bf. schuldig erkannt, dadurch eine Verwaltungsübertretung nach §60 erster Fall des Zivildienstgesetzes 1986, BGBl. 679, (ZDG) begangen zu haben, daß sie länger als 30 Tage der Zuweisung zur Leistung des ordentlichen Zivildienstes bei einer bestimmten Einrichtung vorsätzlich nicht Folge geleistet hätten. Über die Bf. wurden (primäre) Arreststrafen von 20 und 30 Tagen verhängt.

Die Bf. behaupten, in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten sowie in ihren Rechten wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes (nämlich des §60 ZDG) verletzt worden zu sein. Sie begehren die kostenpflichtige Aufhebung der angefochtenen Bescheide.

2.a) Der VfGH hat aus Anlaß dieser Beschwerden beschlossen, gemäß Art140 Abs1 B-VG von amtswegen ein Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des §60 ZDG einzuleiten:

Diese Bestimmung findet sich im Abschnitt "Verwaltungsübertretungen" und lautet:

"§60. Wer vorsätzlich der Zuweisung zu einer Einrichtung im Rahmen des ordentlichen Zivildienstes länger als dreißig Tage oder der Zuweisung im Rahmen des außerordentlichen Zivildienstes länger als acht Tage nicht Folge leistet, begeht eine Verwaltungsübertretung und ist hiefür von der Bezirksverwaltungsbehörde mit Arrest bis zu drei Monaten zu bestrafen."

b) Der VfGH ging im Einleitungsbeschluß vorläufig davon aus, daß die Beschwerden zulässig sind und daß er §60 ZDG bei den sohin zu treffenden Sachentscheidungen anzuwenden hätte.

Gegen diese bundesgesetzliche Bestimmung äußerte der VfGH - zusammengefaßt - das Bedenken, daß sie den Art5 und 6 MRK widerspräche, weil die hier vorgesehene Strafe nicht von einem "Tribunal" iS der zitierten Konventionsbestimmungen zu verhängen ist und diese Verwaltungsstrafbestimmung nicht vom österreichischen Vorbehalt zu Art5 MRK erfaßt werde.

3. Die Bundesregierung hat beschlossen, von der Erstattung einer Äußerung im Gesetzesprüfungsverfahren abzusehen. Sie beantragt, für das Außerkrafttreten des §60 ZDG eine Frist von einem Jahr zu bestimmen.

II. Der VfGH hat erwogen:

Die - zulässigen - Gesetzesprüfungsverfahren haben nichts ergeben, was geeignet wäre, die im Einleitungsbeschluß geäußerten Bedenken zu zerstreuen:

1.a) Nach §60 ZDG ist ein bestimmtes Verhalten von der Bezirksverwaltungsbehörde mit (primärem) Arrest bis zu drei Monaten zu bestrafen.

Dem Art5 MRK zufolge dürfen nun aber Freiheitsstrafen nur durch "Tribunale", nicht jedoch durch weisungsgebundene Verwaltungsbehörden (etwa durch Bezirksverwaltungsbehörden) ausgesprochen werden.

Nach der neueren Judikatur des VfGH (vgl. VfSlg. 11506/1987) muß über strafrechtliche Anklagen in der Bedeutung des Art6 Abs1 MRK (dazu zählt jedenfalls eine dreimonatige Arreststrafe wie sie §60 ZDG vorsieht) ein Organ die Entscheidung fällen, das selbst als Tribunal qualifiziert werden kann; die bloß nachprüfende Kontrolle durch ein Tribunal (etwa den Verfassungs- oder Verwaltungsgerichtshof) genügt dieser Rechtsprechung zufolge den Anforderungen des Art6 Abs1 MRK nicht (vgl. auch VfSlg. 11523/1987).

Österreich hat jedoch gemäß Art64 MRK den Vorbehalt erklärt, daß

"die Bestimmungen des Artikels 5 der Konvention mit der Maßgabe angewendet werden, daß die in den Verwaltungsverfahrensgesetzen, BGBl. Nr. 172/1950, vorgesehenen Maßnahmen des Freiheitsentzuges unter der in der österreichischen Bundesverfassung vorgesehenen nachprüfenden Kontrolle durch den VwGH oder den VfGH unberührt bleiben."

Zur Bedeutung dieses Vorbehalts hat der VfGH den Standpunkt eingenommen, daß der Vorbehalt die Verhängung nicht bloß von Freiheitsstrafen, sondern auch von Geldstrafen durch Verwaltungsbehörden deckt, gleichgültig, welche materiellen Verwaltungsvorschriften iS des §10 VStG den Tatbestand enthalten, und daß der Vorbehalt für alle diese Verfahren auch die Anwendung des Art6 MRK ausschließt. Diesen Standpunkt hat der Gerichtshof in seiner Entscheidung vom 16. Juni 1987 G141-142/86 (= VfSlg. 11523/1987) mit Hinweisen auf die Vorjudikatur und Entscheidungen der EKMR bekräftigt.

Der Vorbehalt umfaßt seinem Sinn nach zumindest auch jene Gesetze, die zwar nach Erklärung des Vorbehaltes erlassen wurden, die aber keine nachträgliche Erweiterung jenes materiell-rechtlichen Bereiches bewirken, der durch die Abgabe des Vorbehaltes ausgeschlossen werden sollte (vgl. auch hiezu VfSlg. 11523/1987 mwH, 11371/1987).

Vom Vorbehalt sind daher Gesetze auch dann gedeckt, wenn gleichartige Straftatbestände bereits in Verwaltungsvorschriften enthalten waren, die vor dem 3. September 1958 erlassen wurden; dies gilt etwa für die StVO 1960, das KFG 1967, das ArbeitsruheG 1983 und das WeinG 1985 (s. zB VfSlg. 8234/1978, 10291/1984, 11369/1987, 11523/1987; vgl. zB auch EKMR v. 3.3.1983, Beschw. Nr. 8998/1980, EuGRZ 1984, 74 ff).

b) Für §60 des im Jahre 1974 erlassenen ZDG (das nun geltende ZDG 1986 stellt eine Wiederverlautbarung dar) ist nun aber kein solcher gleichartiger Straftatbestand auffindbar. Ein Zivildienst war zum Zeitpunkt der Abgabe des Vorbehaltes noch nicht eingerichtet; für diese Materie bestand also damals überhaupt keine Regelung.

Der österreichische Vorbehalt kann nicht so ausgelegt werden, daß er alle Verwaltungsübertretungen erfaßt, deren Ahndung verfahrensmäßig nach dem VStG 1950 durchzuführen ist. Eine derartige Auslegung des Vorbehaltes geriete zum Wortlaut des Art64 Abs1 MRK in Widerspruch (vgl. etwa Merli, Zivildienst und Rechtsstaat, 1985, 61 ff.).

c) Anders als etwa im Apothekerkammer-Fall (= VfSlg. 11506/1987) ist es hier nicht möglich, den verfassungsrechtlich unbedenklichen Rechtszustand durch Aufhebung (bloß) der in Betracht kommenden behördenorganisatorischen Vorschriften herzustellen; vielmehr ist es zur Erreichung dieses Zieles erforderlich, sowohl die (an sich verfassungsrechtlich unbedenklichen) Bestimmungen über den materiellen Tatbestand als auch die die Behördenzuständigkeit regelnden Vorschriften, sohin den ganzen §60 ZDG (wegen Widerspruchs zu Art5 und 6 MRK) aufzuheben.

2. Die übrigen Aussprüche gründen sich auf Art140 Abs5 und 6 B-VG.

Die Frist für das Inkrafttreten der Aufhebung wurde mit 30. Juni 1989 bestimmt, um es dem Gesetzgeber zu ermöglichen, ohne Legisvakanz eine verfassungsmäßige Neuregelung zu treffen; allerdings soll die konventionskonforme Lösung möglichst rasch herbeigeführt werden.

3. Dies konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung beschlossen werden.

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