B696/08 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung
Spruch
Die Beschwerdeführerin ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art8 EMRK verletzt worden.
Der Bescheid wird aufgehoben.
Der Bund (Bundesministerin für Inneres) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.340,-
bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu bezahlen.
Entscheidungsgründe:
I. 1. Die Beschwerdeführerin, eine Staatsangehörige der
Russischen Föderation, reiste am 3. Oktober 2005 mit einem bis 3. November 2005 gültigen Visum, ausgestellt von der österreichischen Botschaft in Moskau, legal nach Österreich ein. Sie war im Zeitpunkt ihrer Ausreise schwanger und wollte laut den Beschwerdebehauptungen ihren Ehemann, welchem mit 11. Juli 2006 die österreichische Staatsangehörigkeit verliehen wurde, in Österreich besuchen. Nach Ablauf ihres Visums kam sie ihrer Ausreiseverpflichtung nicht nach. Am 18. Dezember 2005 wurde ein Sohn in Wien geboren. Nach der Geburt des Sohnes war der Ehemann bereits schwer erkrankt und ständig pflege- und betreuungsbedürftig. Am 5. September 2007 starb der Ehemann an den Folgen seiner schweren Krankheit. Über ihren Antrag auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung aus humanitären Gründen vom 31. Juli 2006 war zum Zeitpunkt des angefochtenen Bescheides nicht rechtskräftig entschieden.
2. Mit Bescheid der Bundespolizeidirektion Wien wurde die Beschwerdeführerin gemäß §53 Abs1 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (in Folge: FPG), aus dem Bundesgebiet ausgewiesen, zumal sie ohne entsprechenden Aufenthaltstitel im Bundesgebiet aufhältig war. Der dagegen erhobenen Berufung wurde mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid der Sicherheitsdirektion Wien vom 4. März 2008 keine Folge gegeben.
Die belangte Behörde führt darin im Wesentlichen aus, dass die Beschwerdeführerin in Österreich über keinen Aufenthaltstitel verfüge. Die Ausweisung stelle zwar einen Eingriff in das Privat- und Familienleben der Beschwerdeführerin dar, sei aber nicht zuletzt auf Grund des nicht bloß kurzfristigen unrechtmäßigen Aufenthaltes aus Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung dringend geboten. Trotz des Umstandes, dass die Beschwerdeführerin mit einem österreichischen Staatsbürger verheiratet war, bestünde keine Möglichkeit, ihren Aufenthalt im Bundesgebiet vom Inland aus zu legalisieren. Die durch den unrechtmäßigen Aufenthalt bewirkte Beeinträchtigung des hoch zu veranschlagenden öffentlichen Interesses an der Wahrung eines geordneten Fremdenwesens sei von solchem Gewicht, dass die gegenläufigen privaten und familiären Interessen jedenfalls nicht höher zu bewerten seien, als das Interesse der Allgemeinheit an der Ausreise der Beschwerdeführerin. Die belangte Behörde habe keine besonderen zugunsten der Beschwerdeführerin sprechenden Umstände erkennen können, welche für ein Absehen von der Ausweisungsentscheidung sprechen.
3. In der Beschwerde wird die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Achtung des Privat- und Familienlebens iSd Art8 EMRK behauptet und u.a. die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides beantragt.
Die belangte Behörde habe eine unzureichende Interessenabwägung iSd Art8 EMRK vorgenommen: Die Beschwerdeführerin habe intensive familiäre Bindungen mit ihrem ihn Österreich lebenden Bruder und dessen Familie. Bis zum Tod ihres Ehemannes habe sie mit diesem in gemeinsamem Haushalt gelebt und ihn laufend betreut und gepflegt. Sie habe keinerlei Straftaten begangen. Eine Rückkehr in die Russische Föderation sei ihr als allein erziehende Mutter mit ihrem minderjährigen Sohn, welcher in Österreich den Kindergarten besuche und sozial integriert sei, unzumutbar.
4. Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt, auf die Erstattung einer Gegenschrift jedoch verzichtet.
II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:
1. Ein Eingriff in das durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte - unter Gesetzesvorbehalt stehende - Recht wäre dann verfassungswidrig, wenn der ihn verfügende Bescheid ohne jede Rechtsgrundlage ergangen wäre, auf einer dem Art8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruhte oder wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheides eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hätte; ein solcher Fall läge nur vor, wenn die Behörde einen so schweren Fehler begangen hätte, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn sie der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art8 Abs1 EMRK widersprechenden und durch Art8 Abs2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hätte (vgl. VfSlg. 11.638/1988, 15.051/1997, 15.400/1999, 16.657/2002).
Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit der §§53 Abs1 und 66 Abs1 FPG wurden nicht vorgebracht und sind aus Anlass der vorliegenden Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof auch nicht entstanden.
2. Der belangten Behörde ist allerdings ein in die Verfassungssphäre reichender Fehler vorzuwerfen.
2.1. Wie der Verfassungsgerichtshof bereits in seinem Erkenntnis VfSlg. 18.223/2007 dargelegt hat, ist die zuständige Fremdenpolizeibehörde stets dazu verpflichtet, das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung gegen die persönlichen Interessen des Fremden an einem weiteren Verbleib in Österreich am Maßstab des Art8 EMRK abzuwägen, wenn sie eine Ausweisung verfügt. In der zitierten Entscheidung wurden vom Verfassungsgerichtshof auch unterschiedliche - in der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte entwickelte - Kriterien aufgezeigt, die bei Vornahme einer solchen Interessenabwägung zu beachten sind und als Ergebnis einer Gesamtbetrachtung dazu führen können, dass Art8 EMRK einer Ausweisung entgegensteht.
2.2. Im Lichte dieser Kriterien erweist sich aber die von der Behörde vorgenommene - formelhafte - Abwägung iSd Art8 EMRK als unzureichend:
Vorauszuschicken ist, dass die Behörde die Ausweisung - unter Beachtung des §66 Abs1 FPG - zutreffend auf §53 Abs1 FPG gestützt hat.
Die belangte Behörde hat zwar dem öffentlichen Interesse an der Aufrechterhaltung der Ordnung auf dem Gebiet des Fremdenwesens die persönlichen Interessen der Beschwerdeführerin am Verbleib im Bundesgebiet gegenüber gestellt, jedoch keine - im Lichte der zitierten Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes vom 29. September 2007 gebotene und auf den zu beurteilenden Einzelfall bezogene - Interessenabwägung durchgeführt.
2.3. Die belangte Behörde verkennt zunächst, dass der bloße Hinweis darauf, dass sich die Beschwerdeführerin seit Ablauf des zuletzt erteilten Visums unrechtmäßig in Österreich aufhält, nicht den Schutz des durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Achtung des Privat- und Familienlebens mindert. Die belangte Behörde geht zwar vom Bestehen eines Familienlebens iSd Art8 EMRK aus, berücksichtigt bei der Abwägung allerdings die Auswirkungen einer Ausweisung auf den in Österreich geborenen minderjährigen Sohn nicht; ebenso wenig misst die Behörde entscheidungswesentliche Bedeutung dem Umstand bei, dass der (österreichische) Ehemann zwischenzeitlich verstorben ist und die Beschwerdeführerin sohin das Verlassenschaftsverfahren abzuwickeln hat (vgl. dazu auch VfSlg. 18.223/2007).
Schließlich hat sich die Behörde auch nicht mit der Frage auseinandergesetzt, ob möglicherweise - aufgrund des langjährigen Aufenthalts im Bundesgebiet - eine Bindung der Beschwerdeführerin zu Österreich entstanden ist, der ein entsprechender Verlust der Bindungen zu ihrem ursprünglichen Heimatstaat gegenübersteht.
Die Schlussfolgerung der Behörde, dass das öffentliche Interesse der Beendigung des Aufenthaltes der Beschwerdeführerin in Österreich überwiegt, vermag die Begründung des angefochtenen Bescheides nicht zu tragen.
3. Dadurch, dass die Behörde auf die Interessen der Beschwerdeführerin am Verbleib im Bundesgebiet nicht ausreichend Bedacht genommen hat, wurde diese in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt.
Der Bescheid war daher aufzuheben.
III. 1. Die Kostenentscheidung stützt sich auf §88 VfGG; im zugesprochenen Betrag sind Umsatzsteuer in Höhe von € 360,- sowie der Ersatz der gemäß §17a VfGG entrichteten Eingabengebühr in Höhe von € 180,- enthalten.
2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.