U708/10 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung
Spruch
Der Beschwerdeführer ist durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden.
Die Entscheidung wird aufgehoben.
Der Bund (Bundeskanzler) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 900,-- bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu bezahlen.
Dem gemäß §63 Abs1 ZPO, §35 VfGG gestellten Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe im Umfang des §64 Abs1 Z1 lita ZPO (einstweilige Befreiung von der Entrichtung der Gerichtsgebühren und anderen bundesgesetzlich geregelten staatlichen Gebühren) wird stattgegeben.
Entscheidungsgründe:
I. 1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der
Russischen Föderation, stellte am 23. Dezember 2003 einen Antrag auf Gewährung von Asyl. Das Bundesasylamt wies den Antrag mit Bescheid vom 11. August 2004 gemäß §7 Asylgesetz 1997 (im Folgenden: AsylG 1997) ab, stellte fest, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers in die Russische Föderation gemäß '8 Abs1 AsylG 1997 zulässig sei und wies den Beschwerdeführer gemäß §8 Abs2 AsylG 1997 aus dem österreichischen Bundesgebiet aus.
Die gegen diesen Bescheid erhobene Berufung vom 24. August 2004 (nunmehr: Beschwerde) wurde mit Entscheidung des Asylgerichtshofes durch eine Einzelrichterin vom 1. März 2010 - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 12. April 2007 sowie am 14. Oktober 2009 - gemäß §§7, 8 Abs1 AsylG 1997 abgewiesen und der Beschwerdeführer gemäß §10 Abs1 Z2 Asylgesetz 2005 (im Folgenden: AsylG 2005) aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen.
2. Die rechtlichen Erwägungen des Asylgerichtshofes in Bezug auf die Einzelrichterzuständigkeit lauten wie folgt:
"Gemäß §75 Abs7 Z1 Asylgesetz 2005 idF BGBl. I 135/2009) sind Verfahren, die am 1. Juli 2008 beim unabhängigen Bundesasylsenat anhängig sind, vom Asylgerichtshof weiterzuführen; Mitglieder des unabhängigen Bundesasylsenates, die zu Richtern des Asylgerichtshofes ernannt worden sind, haben alle bei ihnen anhängigen Verfahren, in denen bereits eine mündliche Verhandlung stattgefunden hat, als Einzelrichter weiterzuführen.
Da im vorliegenden Verfahren bereits vor dem 1. Juli 2008 eine mündliche Verhandlung vor der nunmehr zuständigen Richterin stattgefunden hat, ist von einer Einzelrichterzuständigkeit auszugehen."
3. In der gegen diese Entscheidung gemäß Art144a B-VG erhobenen Beschwerde wird die Verletzung im "Recht auf Schutz des Privatlebens und der körperlichen Sicherheit nach den Art3 ff. 8 EMRK" geltend gemacht und die kostenpflichtige Aufhebung der angefochtenen Entscheidung sowie die Befreiung von den Gerichtsgebühren beantragt.
4. Der Asylgerichtshof legte die Verwaltungsakten des Bundesasylamtes sowie die Gerichtsakten vor, nahm jedoch von der Erstattung einer Gegenschrift Abstand, verwies auf die Begründung der angefochtenen Entscheidung und beantragte die Abweisung der Beschwerde.
II. Die für das Verfahren maßgebliche Rechtslage stellt sich wie
folgt dar:
1. Die maßgebliche Bestimmung des Bundesgesetzes über den Asylgerichtshof, BGBl. I 4/2008 idgF, lautet:
"Senate und Kammersenate
§9. (1) Der Asylgerichtshof entscheidet in Senaten, sofern bundesgesetzlich nicht die Entscheidung durch Einzelrichter oder verstärkte Senate (Kammersenate) vorgesehen ist.
(2) - (5) ..."
2. Die maßgeblichen Bestimmungen des Asylgesetzes 2005, BGBl. I 100/2005 idgF, lauten:
"Asylgerichtshof
§61. (1) Der Asylgerichtshof entscheidet in Senaten oder, soweit dies in Abs3 oder 3a vorgesehen ist, durch Einzelrichter über
(2) ...
(3) Der Asylgerichtshof entscheidet durch Einzelrichter über Beschwerden gegen
1. zurückweisende Bescheide
(3a) - (4) ...
...
Übergangsbestimmungen
§75. (1) bis (6) ...
(7) Am 1. Juli 2008 beim unabhängigen Bundesasylsenat anhängige Verfahren sind vom Asylgerichtshof nach Maßgabe der folgenden Bestimmungen weiterzuführen:
1. Mitglieder des unabhängigen Bundesasylsenates, die zu Richtern des Asylgerichtshofes ernannt worden sind, haben alle bei ihnen anhängigen Verfahren, in denen bereits eine mündliche Verhandlung stattgefunden hat, als Einzelrichter weiterzuführen.
2. Verfahren gegen abweisende Bescheide, in denen eine mündliche Verhandlung noch nicht stattgefunden hat, sind von dem nach der ersten Geschäftsverteilung des Asylgerichtshofes zuständigen Senat weiterzuführen.
3. ...
(8) - (14) ..."
III. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:
1. Das Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wird durch den Bescheid einer Verwaltungsbehörde verletzt, wenn die Behörde eine ihr gesetzlich nicht zukommende Zuständigkeit in Anspruch nimmt (zB VfSlg. 15.372/1998, 15.738/2000, 16.066/2001, 16.298/2001 und 16.717/2002) oder wenn sie in gesetzwidriger Weise ihre Zuständigkeit ablehnt, etwa indem sie zu Unrecht eine Sachentscheidung verweigert (zB VfSlg. 15.482/1999, 15.858/2000, 16.079/2001 und 16.737/2002).
Das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wird insbesondere dann verletzt, wenn eine an sich zuständige, aber nicht dem Gesetz entsprechend zusammengesetzte Kollegialbehörde entschieden hat (zB VfSlg. 10.022/1984, 14.731/1997, 15.588/1999, 15.668/1999, 15.731/2000, 16.572/2002 und VfGH 9.12.2008, B1110/08). Für Entscheidungen des Asylgerichtshofes gelten sinngemäß dieselben verfassungsrechtlichen Schranken. Dies bedeutet, dass das Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter dann verletzt wird, wenn statt eines Senates ein Einzelrichter entscheidet oder umgekehrt.
2. Ein solcher in die Verfassungssphäre reichender Fehler ist dem Asylgerichtshof unterlaufen:
2.1. Neben der Einzelrichterzuständigkeit in den Fällen des §61 Abs3 AsylG 2005 sieht die Übergangsbestimmung des §75 Abs7 Z1 AsylG 2005 vor, dass am 1. Juli 2008 beim unabhängigen Bundesasylsenat anhängige Verfahren vom Asylgerichtshof nach der Maßgabe weiterzuführen sind, dass die Mitglieder des unabhängigen Bundesasylsenates, die zu Richtern des Asylgerichtshofes ernannt worden sind, alle bei ihnen anhängigen Verfahren, in denen bereits eine mündliche Verhandlung stattgefunden hat, als Einzelrichter weiterzuführen haben. Dazu hat der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis VfSlg. 18.610/2008 Folgendes ausgesprochen:
"§75 Abs7 Z1 AsylG 2005 soll ermöglichen, dass Asylverfahren, in denen vor dem 1. Juli 2008 eine mündliche Verhandlung stattgefunden hat, möglichst rasch durch das vormals zuständige Mitglied des UBAS, das zum Richter des Asylgerichtshofes ernannt wurde, erledigt werden können. Für diese überschaubare Zahl von Übergangsfällen ist festzustellen, dass der Gesetzgeber an ein Verfahrensstadium anknüpft, in dem bereits - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung - eine entscheidungsreife Rechtssache vorliegt. Eine Übergangsbestimmung dieser Art, die - wie erwähnt - auf das fortgeschrittene Verfahrensstadium und die Identität des zur Entscheidung berufenen Organwalters abstellt, ist verfassungsrechtlich noch unbedenklich."
2.2. Im vorliegenden Fall fand am 12. April 2007 - also vor dem 1. Juli 2008 - vor dem zuständigen Mitglied des unabhängigen Bundesasylsenates eine mündliche Verhandlung statt, die zur Durchführung von Erhebungen in der Russischen Föderation auf unbestimmte Zeit vertagt wurde. Am 14. Juni 2007 wurde eine Anfrage an den Verbindungsbeamten der Österreichischen Botschaft gestellt, die am 26. Juli 2007 und 19. August 2007 beantwortet wurde. Am 24. Jänner 2008 folgte eine weitere Anfrage, am 8. Mai 2008, 28. August 2008, 25. September 2008 und 14. Oktober 2008 wurde hinsichtlich dieser urgiert; die Österreichische Botschaft in Moskau antwortete schließlich am 30. Oktober 2008.
Am 14. Oktober 2009 fand erneut vor dem zuvor für das Verfahren beim unabhängigen Bundesasylsenat zuständigen Mitglied, welches mittlerweile zur Richterin des Asylgerichtshofes ernannt worden war, eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung statt. Mit Entscheidung des Asylgerichtshofes durch die Einzelrichterin vom 1. März 2010 wurde schließlich die gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 11. August 2004 erhobene Beschwerde abgewiesen.
Im vorliegenden Fall hat demnach zwar bereits vor dem 1. Juli 2008 eine mündliche Verhandlung vor der später entscheidenden Richterin des Asylgerichtshofes stattgefunden. Daraus alleine kann jedoch nicht auf eine Einzelrichterzuständigkeit geschlossen werden.
Wie der Verfassungsgerichthof nämlich schon in seinem Erkenntnis VfSlg. 18.610/2008 festgestellt hat, soll die Übergangsbestimmung des §75 Abs7 Z1 AsylG 2005 ermöglichen, dass Asylverfahren, in denen vor dem 1. Juli 2008 eine mündliche Verhandlung stattgefunden hat, möglichst rasch durch das vormals zuständige Mitglied des unabhängigen Bundesasylsenates, das zum Richter des Asylgerichtshofes ernannt wurde, erledigt werden können. In Fällen, welche unter die Übergangsbestimmung des §75 Abs7 Z1 AsylG 2005 fallen, muss daher - bei verfassungskonformer Interpretation der Bestimmung - bereits eine "entscheidungsreife Rechtssache" vorliegen.
Diese Voraussetzung war im vorliegenden Fall jedoch nicht gegeben, was sich einerseits aus der Vertagung der mündlichen Verhandlung vom 12. April 2007 auf unbestimmte Zeit sowie der Durchführung von Erhebungen in der Russischen Föderation und andererseits aus der Notwendigkeit der Fortsetzung der mündlichen Verhandlung am 14. Oktober 2009 ergibt. Daraus geht vielmehr hervor, dass der erkennenden Einzelrichterin nach dem 1. Juli 2008 nicht eine bereits "entscheidungsreife Rechtssache" vorlag, weshalb der Asylgerichtshof nicht durch eine Einzelrichterin, sondern in einem Senat zu entscheiden gehabt hätte.
Der belangte Asylgerichtshof hat demnach durch die Entscheidung durch eine Einzelrichterin den Beschwerdeführer im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt.
3. Die Entscheidung war daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen eingegangen zu werden brauchte.
4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.