U961/10 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung
Spruch
Die Beschwerdeführerin ist durch die angefochtene Entscheidung, soweit sie die Ausweisung aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Nigeria anordnet, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art8 EMRK verletzt worden.
Die bekämpfte Entscheidung wird insoweit aufgehoben.
Der Bund (Bundeskanzler) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.160,-- bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
II. beschlossen:
Die Behandlung der Beschwerde wird abgelehnt, soweit sie sich gegen die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und des subsidiär Schutzberechtigten richtet.
Entscheidungsgründe:
I. 1.1. Die Beschwerdeführerin, eine nach eigenen Angaben am
2. Mai 1988 geborene Staatsangehörige Nigerias, reiste am 12. Februar 2007 in das Bundesgebiet ein und stellte am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz. Im Zuge der mit ihr durchgeführten Einvernahmen vor dem Bundesasylamt (im Folgenden: BAA) brachte sie vor, dass ihre gesamte Familie in Nigeria bei der Explosion einer Pipeline am 26. Dezember 2006 ums Leben gekommen sei. Nachdem sie davon erfahren habe, sei sie in ihrem Schock an einen fremden Mann geraten, der sie zu sich nach Hause mitgenommen und dort vergewaltigt habe. Nach diesem Vorfall habe die Beschwerdeführerin ihre Flucht aus Nigeria angetreten.
1.2. Das BAA wies den Antrag mit Bescheid vom 30. Juli 2007 gemäß §3 Abs1 Asylgesetz 2005, BGBl. I 100/2005 (im Folgenden: AsylG 2005), ab (Spruchpunkt I), erkannte gemäß §8 Abs1 Z1 AsylG 2005 den Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zu (Spruchpunkt II) und wies die nunmehrige Beschwerdeführerin gemäß §10 Abs1 Z2 AsylG 2005 aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Nigeria aus (Spruchpunkt III).
1.3. Die dagegen erhobene Berufung (nunmehr: Beschwerde) vom 16. August 2007 hat der Asylgerichtshof (im Folgenden: AsylGH) mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 16. März 2010 gemäß §§3 Abs1, 8 Abs1 und 10 Abs1 Z2 AsylG 2005 abgewiesen. Im Erkenntnis führte der AsylGH u. a. aus, dass das Fluchtvorbringen der Beschwerdeführerin aufgrund unkonkreter sowie zum Teil widersprüchlicher Angaben unglaubwürdig sei und vor dem Hintergrund ihrer Arbeitsfähigkeit keine außergewöhnlichen Umstände ersichtlich seien, die ein Abschiebungshindernis im Sinne des Art3 EMRK darstellen könnten. Da keine Gründe vorlägen, die einer Ausweisung entgegenstünden, wurde auch die Beschwerde gegen Spruchpunkt III des bekämpften Bescheides abgewiesen.
1.4. Gegen dieses Erkenntnis des AsylGH richtet sich die auf Art144a B-VG, BGBl. I 2/2008, gegründete Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof vom 22. Juni 2010. Die Beschwerdeführerin macht darin die Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander gemäß ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes BGBl. 390/1973 sowie nach Art6, 8 und 13 EMRK geltend und beantragt die kostenpflichtige Aufhebung der angefochtenen Entscheidung.
1.5. Der AsylGH hat von der Erstattung einer Gegenschrift abgesehen und die gesammelten Verfahrensakten übermittelt.
2. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:
2.1. Wie der Verfassungsgerichtshof bereits in seinem Erkenntnis VfSlg. 17.340/2004 ausführte, darf eine Ausweisung nicht verfügt werden, wenn dadurch das Recht auf Schutz des Privat- und Familienlebens des Auszuweisenden verletzt würde. Die Behörde ist, wie in weiteren Erkenntnissen ausgeführt (VfSlg. 18.223/2007; VfGH 13.03.2008, B1032/07) stets dazu verpflichtet, das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung gegen die persönlichen Interessen des Fremden an einem weiteren Verbleib in Österreich am Maßstab des Art8 EMRK abzuwägen, wenn sie eine Ausweisung verfügt. In der zitierten Entscheidung wurden vom Verfassungsgerichtshof auch unterschiedliche - in der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte entwickelte - Kriterien aufgezeigt, die bei Vornahme einer solchen Interessenabwägung zu beachten sind und als Ergebnis einer Gesamtbetrachtung dazu führen können, dass Art8 EMRK einer Ausweisung entgegensteht.
2.2. Der AsylGH hat es im vorliegenden Fall jedoch gänzlich unterlassen, eine - im Lichte des §10 Abs2 AsylG 2005 und der zitierten Erkenntnisse des Verfassungsgerichtshofes gebotene und auf den zu beurteilenden Einzelfall bezogene - Interessenabwägung durchzuführen. Vielmehr hält er zur Begründung des Spruchpunktes III der angefochtenen Entscheidung lediglich Folgendes fest:
"Gemäß §10 AsylG ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Ausweisung zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird.
Gemäß §10 Abs2 AsylG 2005 sind Ausweisungen unzulässig, wenn dem Fremden im Einzelfall ein nicht auf dieses Bundesgesetz gestütztes Aufenthaltsrecht zukommt oder diese eine Verletzung von Art8 EMRK darstellen würden.
Im konkreten Fall kommt der Beschwerdeführerin weder ein solches Aufenthaltsrecht zu, noch konnte festgestellt werden, dass die Genannte im Fall ihrer Ausweisung in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Privat- und Familienleben verletzt würde.
Es liegen daher insgesamt betrachtet keine Gründe im Sinne des §10 Abs2 AsylG vor, die einer Ausweisung entgegenstehen. Die Ausweisungsentscheidung der belangten Behörde steht somit in Einklang mit den gesetzlichen Voraussetzungen und war somit zu bestätigen."
Die Begründung der darauf bezogenen, im Jahre 2007 getroffenen Ausweisungsentscheidung des BAA wird wie folgt zusammengefasst:
"Bezugnehmend auf Spruchpunkt III. verwies die belangte Behörde auf den Umstand, dass im Verfahren keine Umstände hervorgekommen seien, aus denen abgeleitet werden könnte, dass ein schützenswertes Familienleben vorliege. Weitere Hinweise auf ein in Vsterreich existentes Privatleben würden sich nicht ergeben, sodass insbesonders unter Berücksichtigung des erst 4-monatigen Aufenthaltes in Österreich die Ausweisung mangels familiärer sowie privater Anknüpfungspunkte in Österreich gerechtfertigt sei."
2.3. Der AsylGH hat hinsichtlich der Frage, ob die Ausweisung die Beschwerdeführerin in ihrem Recht auf Achtung des Familien- und Privatlebens berührt, keine Ermittlungen angestellt. Im Zuge des mehrjährigen Beschwerdeverfahrens hätte jedoch durchaus ein zu berücksichtigendes Familien- oder Privatleben der Beschwerdeführerin entstehen können (vgl. VfGH 08.06.2010, U668/10). Überhaupt finden sich bezüglich der verfügten Ausweisung keine personenbezogenen Feststellungen; es wird lediglich festgehalten, dass die Beschwerdeführerin (derzeit) "in Österreich als Prostituierte tätig" sei. Auf welcher Grundlage diese Feststellung fußt, bleibt jedoch nicht nachvollziehbar.
Im Rahmen der Ausweisungsentscheidung führte der AsylGH keine Interessenabwägung durch, wozu er aber gemäß Art8 Abs2 EMRK verpflichtet gewesen wäre. Das Unterlassen jeglicher Interessenabwägung verletzt - auch wenn vor dem Asylgerichtshof kein Vorbringen hinsichtlich einer Verletzung des Art8 EMRK durch die verfügte Ausweisung erstattet wurde - die Beschwerdeführerin in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art8 EMRK (vgl. zB VfGH 28.04.2009, U847/08; 22.09.2008, B642/08).
Die angefochtene Entscheidung war daher im genannten Umfang aufzuheben.
3. Die Kostenentscheidung stützt sich auf §§88a iVm 88 VfGG. In dem - im verzeichneten Ausmaß - zugesprochenen Betrag ist Umsatzsteuer in Höhe von € 360,-- enthalten.
II. Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer
Beschwerde gemäß Art144a B-VG ablehnen, wenn sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat oder von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144a Abs2 B-VG). Eine solche Klärung ist dann nicht zu erwarten, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.
Die Beschwerde behauptet - soweit sie sich gegen die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und des subsidiär Schutzberechtigten richtet - die Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte gemäß Art6 und 13 EMRK sowie ArtI Abs1 des BVG zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl. 390/1973.
Das Asylverfahren ist jedoch nicht von Art6 EMRK erfasst (vgl. VfSlg. 13.831/1994).
Die im Übrigen gerügten Rechtsverletzungen wären im vorliegenden Fall nur die Folge einer - allenfalls grob - unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen nicht anzustellen.
Demgemäß wurde beschlossen, von einer Behandlung der Beschwerde abzusehen, soweit sie sich gegen die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und des subsidiär Schutzberechtigten richtet (§19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG).
Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.