B1413/09 ua – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung
Spruch
Die Beschwerdeführer sind durch die angefochtenen Bescheide im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art8 EMRK verletzt worden.
Die Bescheide werden aufgehoben.
Der Bund (Bundesministerin für Inneres) ist schuldig, den Beschwerdeführern zu Handen ihrer Rechtsvertreter die mit € 2.620,-
bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstigem Zwang zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
I. 1. Die am 5. Mai 1974, 3. Jänner 1978, 1. März 2001 und
22. Juni 2003 geborenen Beschwerdeführer sind Staatsangehörige der Republik Kosovo und reisten am 18. Dezember 2005 illegal nach Österreich ein. Am selben Tag stellten sie Asylanträge, die mit Bescheiden des Bundesasylamtes vom 3. April 2006 gemäß §7 Asylgesetz 1997 abgewiesen wurden. Gleichzeitig wurde gemäß §8 Abs1 Asylgesetz 1997 festgestellt, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in ihren Heimatstaat zulässig sei und gemäß §8 Abs2 Asylgesetz 1997 die Ausweisung der Beschwerdeführer ausgesprochen. Die dagegen erhobenen Berufungen wurden mit Bescheiden des Unabhängigen Bundesasylsenates vom 19. Februar 2007 abgewiesen. Den dagegen erhobenen Verwaltungsgerichtshofsbeschwerden wurde mit Beschluss vom 23. März 2007 die aufschiebende Wirkung zuerkannt. Die Behandlung der Beschwerden lehnte der Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 23. April 2009 ab.
2. Mit Schreiben vom 12. Mai 2009 wurden die Beschwerdeführer von der Bezirkshauptmannschaft Graz-Umgebung aufgefordert, das Bundesgebiet zu verlassen. Dieser Aufforderung kamen die Beschwerdeführer nicht nach.
3. Am 4. Juni 2009 stellten die Beschwerdeführer bei der Bezirkshauptmannschaft Graz-Umgebung Anträge auf Erteilung von "Niederlassungsbewilligungen - unbeschränkt" gemäß §43 Abs2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz, BGBl. I 100/2005 idF BGBl. I 29/2009 (im Folgenden: NAG).
4. Die Beschwerdeführer wurden am 29. Juni 2009 festgenommen und am 30. Juni 2009 in die Republik Kosovo abgeschoben.
5. Mit Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Graz-Umgebung vom 13. Juli 2009 wurden die Anträge der Beschwerdeführer auf Erteilung von "Niederlassungsbewilligungen - unbeschränkt" gemäß §§43 Abs2 und 44b NAG mit der Begründung abgewiesen, dass sie sich nicht mehr im Bundesgebiet aufhielten, was jedoch Voraussetzung zur Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §43 Abs2 NAG sei.
6. Mit Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates für die Steiermark vom 20. Oktober 2009 wurde die Abschiebung der Beschwerdeführer vom 30. Juni 2009 wegen Verstoßes gegen Art6 und 13 EMRK für rechtswidrig erklärt.
7. Mit Bescheiden der Bundesministerin für Inneres vom 19. November 2009 wurde die Berufung gegen den Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Graz-Umgebung vom 13. Juli 2009 gemäß §§43 Abs2 und 44b Abs1 NAG mit der Begründung abgewiesen, dass die Erteilung von Aufenthaltstiteln gemäß §43 Abs2 NAG nicht möglich sei, weil sich die Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung nicht mehr im Bundesgebiet aufgehalten hätten. Weiters führt die belangte Behörde aus, selbst für den Fall, dass sich die Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung im Bundesgebiet aufgehalten hätten, wären die Anträge gemäß §43 Abs2 NAG zurückzuweisen gewesen, weil sich aus dem Antragsvorbringen im Hinblick auf die Berücksichtigung des Privat- und Familienlebens kein maßgeblich geänderter Sachverhalt im Verhältnis zu den bereits rechtskräftig verfügten Ausweisungen ergeben hätte.
8. Gegen diese Bescheide richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art8 EMRK), auf Gleichheit von Fremden untereinander gemäß ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl. 390/1973, auf eine wirksame Beschwerde (Art13 EMRK), auf Effizienz des Rechtsschutzes sowie in Rechten wegen Anwendung des verfassungswidrigen §43 Abs2 NAG behauptet wird. Begründend führen die Beschwerdeführer aus, die belangte Behörde habe kein ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren durchgeführt und die Rechtslage gehäuft verkannt. Sie hätte ihre Entscheidung im Aufenthaltstitelverfahren nicht auf den Umstand stützen dürfen, dass sich die Beschwerdeführer auf Grund einer später als rechtswidrig beurteilten Abschiebung nicht mehr im Inland befinden. §43 Abs2 NAG sei dahin gehend auszulegen, dass die Erteilung eines Aufenthaltstitels trotz des Umstandes, dass der Antragsteller sich im Ausland befindet, bei Vorliegen der Voraussetzungen zu erteilen ist. Schließlich seien die Beschwerdeführer in Österreich integriert, weshalb ihnen gemäß Art8 EMRK ein Aufenthaltstitel zu erteilen gewesen wäre.
9. Die belangte Behörde legte die Verwaltungsakten vor, erstattete jedoch keine Gegenschrift.
II. Die maßgeblichen Bestimmungen des NAG lauten in der zum Entscheidungszeitpunkt maßgeblichen Fassung (BGBl. I 29/2009) wie folgt:
"Niederlassungsbewilligung - unbeschränkt
§43. (1) ...
(2) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen (§44a) oder auf begründeten Antrag (§44b), der bei der örtlich zuständigen Behörde im Inland einzubringen ist, eine quotenfreie 'Niederlassungsbewilligung - unbeschränkt' zu erteilen, wenn
1. kein Erteilungshindernis gemäß §11 Abs1 Z1, 2 oder 4 vorliegt,
2. dies gemäß §11 Abs3 zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art8 EMRK geboten ist, und
3. der Drittstaatsangehörige die Integrationsvereinbarung nach §14 Abs5 Z2 bis 5 oder 7 erfüllt hat, oder im Falle der Minderjährigkeit,
a) noch nicht der allgemeinen Schulpflicht unterliegt;
b) im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht eine Primarschule (§3 Abs3 des Schulorganisationsgesetzes, BGBl. Nr. 242/1962) besucht oder im vorangegangenen Semester besucht hat oder
c) im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht eine Sekundarschule (§3 Abs4 des Schulorganisationsgesetzes) besucht und der Unterrichtsgegenstand 'Deutsch' im vorangegangenen Schuljahr positiv beurteilt wurde oder die Schulnachricht am Ende des ersten Semesters des laufenden Schuljahres im Unterrichtsgegenstand 'Deutsch' eine positive Leistung ausweist oder er bis zum Entscheidungszeitpunkt die positive Beurteilung im Unterrichtsgegenstand 'Deutsch' durch das zuletzt ausgestellte Jahreszeugnis oder die zuletzt ausgestellte Schulnachricht nachweist.
(3) ...
Niederlassungsbewilligung - beschränkt
§44. (1) bis (2) ...
(3) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen (§44a) oder auf begründeten Antrag (§44b), der bei der örtlich zuständigen Behörde im Inland einzubringen ist, eine quotenfreie 'Niederlassungsbewilligung - beschränkt' zu erteilen, wenn kein Erteilungshindernis gemäß §11 Abs1 Z1, 2 oder 4 vorliegt und dies gemäß §11 Abs3 zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art8 EMRK geboten ist.
(4) ...
§44b. (1) Liegt kein Fall des §44a vor, sind Anträge gemäß §§43 Abs2 und 44 Abs3 als unzulässig zurückzuweisen, wenn
1. gegen den Antragsteller eine Ausweisung rechtskräftig erlassen wurde, oder
2. rechtskräftig festgestellt wurde, dass eine Ausweisung bloß vorübergehend (§10 AsylG 2005, §66 FPG) unzulässig ist, oder
3. die Sicherheitsdirektion nach einer Befassung gemäß Abs2 in der Stellungnahme festgestellt hat, dass eine Ausweisung bloß vorübergehend unzulässig ist
und aus dem begründeten Antragsvorbringen im Hinblick auf die Berücksichtigung des Privat- und Familienlebens gemäß §11 Abs3 ein maßgeblich geänderter Sachverhalt nicht hervorkommt.
(2) Liegt kein Fall des Abs1 Z1 oder 2 vor, hat die Behörde unverzüglich die der zuständigen Fremdenpolizeibehörde übergeordnete Sicherheitsdirektion von einem Antrag gemäß §§43 Abs2 oder 44 Abs3 zu verständigen und eine begründete Stellungnahme zu fremdenpolizeilichen Maßnahmen, insbesondere ob eine Ausweisung auf Dauer oder bloß vorübergehend unzulässig ist, einzuholen. Bis zum Einlangen der begründeten Stellungnahme der Sicherheitsdirektion ist der Ablauf der Frist gemäß §73 Abs1 AVG gehemmt. §25 Abs2 gilt sinngemäß.
(3) Anträge gemäß §§43 Abs2 sowie 44 Abs3 und 4 begründen kein Aufenthalts- oder Bleiberecht nach diesem Bundesgesetz.
(4) ..."
III. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:
1.1. Ein Eingriff in das durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte - unter Gesetzesvorbehalt stehende - Recht wäre dann verfassungswidrig, wenn der ihn verfügende Bescheid ohne jede Rechtsgrundlage ergangen wäre, auf einer dem Art8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruhte oder wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheides eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hätte; ein solcher Fall läge nur vor, wenn die Behörde einen so schweren Fehler begangen hätte, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn sie der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art8 Abs1 EMRK widersprechenden und durch Art8 Abs2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hätte (vgl. VfSlg. 11.638/1988, 15.051/1997, 15.400/1999, 16.657/2002).
1.2. Der Verfassungsgerichtshof geht in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) davon aus, dass aus Art8 EMRK keine generelle Verpflichtung abzuleiten ist, dem Wunsch eines Fremden, sich in einem bestimmten Mitgliedstaat aufzuhalten, nachkommen zu müssen. Bei der Festlegung der Bedingungen für die Einwanderung, den Aufenthalt und die Ausweisung von Fremden wird den Vertragsstaaten ein weiter Gestaltungsspielraum zugestanden (zB EGMR 18.2.1991, Fall Moustaquim, Appl. 12.313/86, ÖJZ 1991, 452; 19.2.1998, Fall Dalia, 154/1996/773/974, ÖJZ 1998, 937; 16.6.2005, Fall Sisojeva, Appl. 60.654/00, NL 2005, 138).
Allerdings kann sich nach der Rechtsprechung des EGMR (zB 19.2.1996, Fall Gül, 53/1995/559/645, ÖJZ 1996, 593; 16.6.2006, Fall Sisojeva, Appl. 60.654/00, NL 2005, 138; 17.1.2006, Fall Mendizabal, Appl. 51.431/99, NL 2006, 18; 31.1.2006, Fall Rodrigues da Silva und Hoogkamer, Appl. 50.435/99, NL 2006, 26; 22.6.2006, Fall Kaftailova, Appl. 59.643/00) und des Verfassungsgerichtshofes
(VfSlg. 13.836/1994, 14.091/1995, 15.051/1997, 17.734/2005, 18.517/2008; VfGH 7.10.2009, B1392/08 ua.) unter besonderen Umständen eine Verpflichtung ergeben, die Einreise und Niederlassung von Personen zu gestatten, mit der Folge, dass die Verweigerung der Einreise oder Niederlassung einen Eingriff in Art8 EMRK bildet.
2. Gemäß §43 Abs2 NAG ist im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen von Amts wegen (§44a NAG) oder auf begründeten Antrag (§44b NAG), der bei der örtlich zuständigen Behörde im Inland einzubringen ist, eine quotenfreie "Niederlassungsbewilligung - unbeschränkt" zu erteilen, wenn kein Erteilungshindernis gemäß §11 Abs1 Z1, 2 oder 4 NAG vorliegt, dies gemäß §11 Abs3 NAG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art8 EMRK geboten ist, und der Drittstaatsangehörige die Integrationsvereinbarung nach §14 Abs5 Z2 bis 5 oder 7 NAG erfüllt hat oder im Falle der Minderjährigkeit, noch nicht der allgemeinen Schulpflicht unterliegt, im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht eine Primarschule besucht oder im vorangegangenen Semester besucht hat oder im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht eine Sekundarschule besucht und der Unterrichtsgegenstand "Deutsch" im vorangegangenen Schuljahr positiv beurteilt wurde oder die Schulnachricht am Ende des ersten Semesters des laufenden Schuljahres im Unterrichtsgegenstand "Deutsch" eine positive Leistung ausweist oder er bis zum Entscheidungszeitpunkt die positive Beurteilung im Unterrichtsgegenstand "Deutsch" durch das zuletzt ausgestellte Jahreszeugnis oder die zuletzt ausgestellte Schulnachricht nachweist.
3. In der Beschwerde wird vorgebracht, die belangte Behörde habe §43 Abs2 NAG einen verfassungswidrigen Inhalt unterstellt, indem sie die Wortfolge "im Bundesgebiet aufhältigen" dahin gehend interpretiert hat, dass die Erteilung eines Aufenthaltstitels nur an Drittstaatsangehörige, die sich zum Zeitpunkt der Erlassung des Bescheides im Bundesgebiet aufhalten, zulässig sei, nicht jedoch an Drittstaatsangehörige, die sich zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung nicht mehr im Bundesgebiet aufhalten.
4. Mit diesem Vorbringen sind die Beschwerdeführer im Recht:
Nach Auffassung der belangten Behörde gebietet §43 Abs2 NAG, dass sich der antragstellende Drittstaatsangehörige bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens zur Erteilung eines Aufenthaltstitels im Bundesgebiet aufhalten muss, widrigenfalls sein Antrag abzuweisen ist. Dies führt dazu, dass unabhängig davon, aus welchem Grund der Antragsteller das Bundesgebiet verlassen hat (und sei es, wie im vorliegenden Fall, auf Grund einer gesetzwidrigen Abschiebung noch während des Verfahrens) die Prüfung der Frage, ob ein Aufenthaltstitel zu erteilen ist, ausgeschlossen ist; die Fremdenpolizeibehörde könnte, folgte man dieser Auffassung, auch durch eine rechtswidrige Abschiebung des Drittstaatsangehörigen den Ausgang des Aufenthaltstitelverfahrens bestimmen.
Eine solche Interpretation ist aber mit dem Zweck der hier anzuwendenden Norm nicht vereinbar: Da sich aus Art8 EMRK unter besonderen Umständen eine Verpflichtung ergeben kann, die Einreise und Niederlassung von Personen zu gestatten, verstieße eine Norm, die die Abweisung eines Antrages auf Erteilung eines Aufenthaltstitels, der auf in Art8 EMRK gelegenen Gründen gestützt ist, allein auf Grund des Umstandes, dass sich der Antragsteller nicht mehr im Inland befindet, gegen Art8 EMRK.
Der Wortlaut des §43 Abs2 NAG gebietet jedoch - anders als die belangte Behörde vermeint - eine solche Auslegung nicht. Vielmehr ist die Wortfolge "im Bundesgebiet aufhältigen" in §43 Abs2 NAG im Sinne der Verfassungsbestimmung des Art8 EMRK in verfassungskonformer Interpretation dahin gehend auszulegen, dass sich vor dem Hintergrund des vorliegenden Falles der Drittstaatsangehörige nicht auch im Zeitpunkt der Bescheiderlassung im Inland aufhalten muss.
Die belangte Behörde hat somit eine mit dem Grundrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens konforme Deutung des §43 Abs2 NAG unterlassen. Dadurch hat sie die angefochtenen Bescheide mit Verfassungswidrigkeit belastet.
5. Die Bescheide waren daher aufzuheben.
6. Die Kostenentscheidung stützt sich auf §88 VfGG. Im zugesprochenen Betrag ist Umsatzsteuer in Höhe von € 400,- und Eingabegebühr im Umfang von € 220,- enthalten.
7. Dies konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.