JudikaturVfGH

SV2/10 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung

Entscheidung
27. September 2010

Spruch

Der Antrag wird zurückgewiesen.

Begründung:

I. 1. Mit dem beim Verfassungsgerichtshof eingebrachten

Schriftsatz stellt der Antragsteller den Antrag (Hervorhebung im Original),

"der Verfassungsgerichtshof möge gemäß Art140a B-VG und §66 Z. 2 VfGG aussprechen:

dass der mit Beschluss des Nationalrates vom 9.4.2008 genehmigte Staatsvertrag 'EU-Reformvertrag' - Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft samt den Protokollen, dem Anhang und der Schlussakte der Regierungskonferenz einschließlich der dieser beigefügten Erklärungen vom 30.11.2009, kundgemacht mit BGBl III 2009/132, von den zu seiner Vollziehung berufenen Organen wegen Rechtswidrigkeit nicht anzuwenden ist;

in eventu

dass die in dem mit BGBl III 2009/132 kundgemachten Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrages über die Europäische Union und des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft samt Protokollen, Anhang und Schlussakte der Regierungskonferenz einschließlich der dieser beigefügten Erklärungen enthaltenen

Artikel 5, 5 (1), 7 (1), 27, 28 28 (2), 35, 46b, 48 (6) EUV sowie die in besagtem Staatsvertrag enthaltenen Artikel 2, 2 (1), 2 (2), 2 (3), 2 (4), 2 (5), 2 (6), 3, 4, 4 (2), 4 (3), 5, 5 (1), 5 (2), 5 (3), 6, 48 (6), 249a (3), 269, 308 (1), 311, 311 (3), 312, 313, 314, 352 AEUV sowie die in besagtem Staatsvertrag im Rahmen der einen Bestandteil des Vertrages verkörpernden Zusatzerklärung (17. Erklärung) enthaltenen Artikel I 33 (1) Abs1 und Abs2 sowie 36 EVV, oder einzelne der vorgenannten Bestimmungen oder einzelne Teile derselben, von den zur Vollziehung des Staatsvertrages berufenen Organen wegen Rechtswidrigkeit nicht anzuwenden sind.

2.) Der Antragsteller begehrt den Ersatz der Kosten zu Handen des Antragstellervertreters, wobei im Sinne des §27 letzter Satz VfGG der Zuspruch für alle regelmäßig anfallenden Kosten begehrt wird.

3.) Außerdem beantragt der Antragsteller die Abhaltung einer mündlichen Verhandlung vor dem Verfassungsgerichtshof und die zu Handen des Antragstellervertreters zuzustellende Ladung zu selbiger."

2. Hinsichtlich der Antragslegitimation zur Anfechtung des Vertrags von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft samt Protokollen, Anhang und Schlussakte der Regierungskonferenz einschließlich der dieser beigefügten Erklärungen ("Reformvertrag"), BGBl. III 132/2009 (im Folgenden: Vertrag von Lissabon), wird vom Antragsteller folgendes Vorbringen erstattet:

2.1. Der Antragsteller bringt vor, dass der Staatsvertrag für ihn tatsächlich - ohne Fällung einer gerichtlichen Entscheidung und ohne Erlassung eines Bescheides - wirksam geworden sei und in seine Rechtssphäre nachteilig eingreife. Der unmittelbare Eingriff sei durch den Staatsvertrag selbst nach Art und Ausmaß eindeutig bestimmt und beeinträchtige die rechtlich geschützten Interessen des Antragstellers nicht bloß potentiell, sondern aktuell. Es stehe dem Antragsteller kein anderer zumutbarer Weg zur Abwehr des rechtswidrigen Eingriffs zur Verfügung, da ein anderer Rechtsweg gänzlich fehle bzw. unzumutbar wäre, zumal auf Grund der fait-accompli-Wirkung spätere Anfechtungen einzelner Rechtsakte ersichtlich zu spät kämen und auf Grund der im Staatsvertrag vorgesehenen absoluten Vorrangwirkung des Unionsrechts von vornherein ineffizient wären. Diesbezüglich sei auf die Judikatur des deutschen Bundesverfassungsgerichts verwiesen, wonach eine Verfassungsbeschwerde gegen Rechtssätze bereits dann zugelassen werde, wenn von den angefochtenen Bestimmungen ein gegenwärtiger Zwang zu nicht mehr korrigierbaren Entscheidungen und Dispositionen ausgehe, die nur dann getroffen werden könnten, wenn über die Verfassungsmäßigkeit einer Bestimmung Klarheit bestehe; dies sei beim vorliegenden Antrag der Fall.

In sinngemäßer Anwendung des Art140 B-VG liege für die Prüfung nach Art140a B-VG bereits ein anfechtungsfähiges "Endprodukt" vor, da die Kundmachung im BGBl. III 132/2009 nach dem erfolgten völkerrechtlichen In-Kraft-Treten bzw. nach erfolgter Ratifikation durch alle Mitgliedstaaten stattgefunden habe.

Des Weiteren stützt sich der Antragsteller auf das vor dem Hintergrund des "Grundsatzes der Rechtsschutzeffizienz" bestehende "Gebot einer verfassungsbausteinkonformen Interpretation" der Art140 und 140a B-VG sowie der Bestimmungen des VfGG.

2.2. Zum Eingriff in Rechtssphäre des Antragstellers führt dieser insbesondere Folgendes aus (Hervorhebungen im Original):

"Der Antragsteller ist durch die Ratifizierung und das In-Geltung-Treten des EU-Reformvertrages (Vertrag von Lissabon) ohne Abhaltung einer rechtlich gebotenen Volksabstimmung aktuell und unmittelbar in seinem subjektiven Recht auf Ausübung [seines] Wahlrechts im Rahmen einer Volksabstimmung verletzt worden, zumal plebiszitär-demokratische Mitwirkungsrechte des Einzelnen subjektive verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte darstellen. ...

... Diese bereits erfolgte Verletzung eines subjektiven

Rechts bewirkt einen aktuellen, direkten Eingriff in die Rechtssphäre des Antragstellers. Dadurch liegt eine unmittelbare Eingriffswirkung vor und ist der Antragsteller folglich zur Anfechtung legitimiert.

Der Antragsteller ist als Wahlberechtigter unmittelbar durch die Normen des Reformvertrages nachteilig betroffen, da diese in seine Rechtsstellung eingreifen: Durch den Vertrag von Lissabon wird unter anderem in die in Art1 B-VG vorgesehene demokratische Ordnung und in das demokratische Bauprinzip der Bundesverfassung sowie in das Legalitätsprinzip des Art18 B-VG, in das Recht auf Vertretung durch den österreichischen Nationalrat im Sinne des Art26 Abs1 B-VG, in das Recht auf Durchführung einer Volksabstimmung gemäß Art44 Abs3 B-VG, in die Steuerfinanzhoheit, in die als immerwährend erklärte Neutralität und in weitere Rechte der österreichischen Staatsbürger eingegriffen. ..."

3. In der Sache bringt der Antragsteller vor, dass anlässlich des Abschlusses des Vertrags von Lissabon die Verpflichtung zur Durchführung einer bundesweiten Volksabstimmung bestanden habe. Eine Gesamtänderung der Bundesverfassung sei nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes bereits in einer Änderung zu erblicken, die einen der leitenden Grundsätze der Bundesverfassung auch nur berühre; so lasse sich nicht in Abrede stellen, dass das "Verhältnis der durch den EU-Reformvertrag bewirkten Beitritts-Gesamtänderung gegenüber dem EU-Beitrittsermächtigungs-Bundesverfassungsgesetz nunmehr nachhaltig verändert" werde und dadurch wesentliche Prinzipien der Bundesverfassung berührt würden.

Der Antragsteller hegt das Bedenken, dass der Vertrag von Lissabon eine Einschränkung des demokratischen Prinzips bzw. der "politisch demokratischen Rechte gemäß Art1 B-VG", des Rechts der Staatsbürger auf Vertretung durch den Nationalrat nach Art24 iVm Art26 B-VG, des Rechts auf Durchführung einer Volksabstimmung nach Art44 Abs3 B-VG, der Kontrollbefugnis des Verfassungsgerichtshofes, des Neutralitätsprinzips, der Kompetenzverteilung nach den Art10 ff. B-VG und des bundesstaatlichen Prinzips durch die Entwicklung von einem Staatenbund zu einem europäischen Bundesstaat bewirke.

4. Die Bundesregierung hat dazu eine Äußerung erstattet, in der sie beantragt, den Antrag als unzulässig zurückzuweisen, in eventu festzustellen, dass weder der Vertrag von Lissabon zur Gänze noch einzelne Bestimmungen des Vertrags über die Europäische Union (im Folgenden: EUV) und des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (im Folgenden: AEUV) rechtswidrig und daher nicht anzuwenden sind.

Zur Zulässigkeit führt die Bundesregierung auf das Wesentliche zusammengefasst aus, dass der Antragsteller zwar die Existenz einer Rechtssphäre, in welche die bekämpften Normen eingreifen könnten, behaupte, jene aber unklar und ohne Nachweis umschreibe. Soweit die "demokratische Ordnung" bzw. die "politisch demokratischen Rechte gemäß Art1 B-VG" angesprochen werden, sei festzuhalten, dass diese Bestimmung jedenfalls keine subjektiven Rechte einzuräumen vermöge. Hinsichtlich des behaupteten Rechts auf "Vertretung durch den österreichischen Nationalrat" sei festzustellen, dass Art26 Abs1 B-VG zwar das Wahlrecht als subjektives Recht garantiere, der Antragsteller allerdings nicht dartue, inwiefern durch den Vertrag von Lissabon in dieses eingegriffen werde. Soweit der Antragsteller ein Recht auf Durchführung einer Volksabstimmung im Fall einer Gesamtänderung der Bundesverfassung nach Art44 Abs3 B-VG behauptet, weist die Bundesregierung auf das Erkenntnis VfSlg. 17.588/2005 und den Beschluss vom 12. Juni 2010, SV1/10, hin, in welchen der Verfassungsgerichtshof bereits festgestellt habe, dass die Bundesverfassung lediglich die Teilnahme an einer angeordneten Volksabstimmung gewährleiste, nicht aber ein Recht auf Durchführung einer solchen einräume.

Im Ergebnis werde vom Antragsteller nicht eine einzige Rechtsposition nachgewiesen, geschweige denn eine verfassungsrechtlich geschützte Position aufgezeigt, in die die bekämpften Normen eingreifen könnten. Außerdem sei darauf hinzuweisen, dass der Antragsteller weder Adressat des Vertrags von Lissabon noch Adressat der einzelnen angefochtenen Bestimmungen sei:

Der Vertrag von Lissabon enthalte lediglich Novellierungsanordnungen, die als solche nicht an den Antragsteller adressiert seien; bei den angefochtenen Bestimmungen des EUV und des AEUV hingegen handle es sich um nicht unmittelbar anwendbares Unionsrecht.

Schließlich sei das Erfordernis des §62 Abs1 VfGG, die gegen die Verfassungsmäßigkeit der Norm sprechenden Bedenken im Einzelnen darzulegen, nicht erfüllt, da sich der Antrag darauf beschränke, den Verstoß gegen Verfassungsbestimmungen zu behaupten, aber nicht konkret darlege, aus welchen Gründen die - im Übrigen nicht hinreichend genau bezeichneten - bekämpften Normen mit den genannten Verfassungsbestimmungen in Widerspruch stehen sollten.

II. Der Antrag ist mangels Antragslegitimation als unzulässig zurückzuweisen:

1. Gemäß Art140a Abs1 B-VG erkennt der Verfassungsgerichtshof über die Rechtswidrigkeit von Staatsverträgen. Dabei ist auf die mit Genehmigung des Nationalrates gemäß Art50 B-VG abgeschlossenen Staatsverträge und die gesetzesändernden oder gesetzesergänzenden Staatsverträge gemäß Art16 Abs1 B-VG der Art140 B-VG, auf alle anderen Staatsverträge der Art139 B-VG anzuwenden.

Bei dem vom Antragsteller angefochtenen Vertrag von Lissabon handelt es sich um einen gemäß Art50 Abs1 Z2 iVm Abs4 B-VG idF BGBl. I 2/2008 genehmigten Staatsvertrag, auf den somit Art140 B-VG anzuwenden ist.

Der Umstand, dass der Antragsteller - dem Art140a B-VG zuwider - die Feststellung, dass der Vertrag von Lissabon, in eventu genauer bezeichnete Bestimmungen des EUV und des AEUV wegen Rechtswidrigkeit nicht anzuwenden seien, statt der Feststellung der Verfassungswidrigkeit des Vertrags von Lissabon bzw. dieser einzelnen Bestimmungen begehrt, berührt die Zulässigkeit des Antrags nicht, weil das im Antrag geäußerte Begehren voraussetzungsgemäß den Vorwurf der Rechtswidrigkeit - hier: der Verfassungswidrigkeit - und damit das Begehren auf deren Feststellung in sich schließt (vgl. VfSlg. 16.628/2002).

2. Gemäß Art140 B-VG erkennt der Verfassungsgerichtshof über die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen auch auf Antrag einer Person, die unmittelbar durch diese Verfassungswidrigkeit in ihren Rechten verletzt zu sein behauptet, sofern das Gesetz ohne Fällung einer gerichtlichen Entscheidung oder ohne Erlassung eines Bescheides für diese Person wirksam geworden ist. Wie der Verfassungsgerichtshof in seiner mit VfSlg. 8009/1977 beginnenden ständigen Rechtsprechung ausgeführt hat, ist daher grundlegende Voraussetzung für die Antragslegitimation, dass das Gesetz in die Rechtssphäre der betroffenen Person unmittelbar eingreift und sie - im Fall seiner Verfassungswidrigkeit - verletzt. Hiebei hat der Verfassungsgerichtshof vom Antragsvorbringen auszugehen und lediglich zu prüfen, ob die vom Antragsteller ins Treffen geführten Wirkungen solche sind, wie sie Art140 Abs1 letzter Satz B-VG als Voraussetzung für die Antragslegitimation fordert (vgl. zB VfSlg. 11.730/1988, 15.863/2000, 16.088/2001, 16.120/2001).

3. Dieses Erfordernis erfüllt der Antrag auf Aufhebung des Vertrages von Lissabon nicht. Der Antragsteller stützt die Ausführungen zu seiner Antragslegitimation auf die Behauptung seines verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts auf Ausübung seines Wahlrechts im Rahmen einer Volksabstimmung. Der Antragsteller hat damit nicht im Einzelnen dargelegt, aus welchen Gründen jede einzelne der Regelungen des auch zur Gänze angefochtenen Vertrags von Lissabon bzw. jede einzelne angefochtene Bestimmung des EUV und des AEUV unmittelbar in seine Rechtssphäre eingreift:

Soweit der Antragsteller vorbringt, dass jeder Einzelne ein verfassungsgesetzlich gewährleistetes subjektives Recht auf Ausübung seines Wahlrechts im Rahmen einer Volksabstimmung habe, erfolgt zum einen keine nähere Konkretisierung der unmittelbaren rechtlichen Betroffenheit: Das Vorbringen zur Antragslegitimation erschöpft sich in der Behauptung eines verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts des Antragstellers bzw. jedes Normunterworfenen auf Durchführung einer Volksabstimmung im Fall einer Gesamtänderung der Bundesverfassung. Eine Darlegung, inwiefern durch den Vertrag von Lissabon bzw. durch einzelne Bestimmungen des EUV und des AEUV in die dem Antragsteller zufolge bestehende Rechtssphäre unmittelbar eingegriffen wird, findet sich im Antrag jedoch nicht. Zum anderen ist aus dem Bundesverfassungsrecht zwar ein Recht auf Teilnahme an einer angeordneten Volksabstimmung, nicht aber ein Recht auf Durchführung einer solchen abzuleiten (vgl. VfSlg. 17.588/2005; VfGH 12.6.2010, SV1/10).

Soweit die Verfassungswidrigkeit der "Art I 33 (1) und Abs1 und Abs2, sowie Art36 EVV" behauptet und deren Aufhebung begehrt wird, ist den hinsichtlich der Antragslegitimation bestehenden Anforderungen an das Antragsvorbringen überdies schon deshalb nicht Genüge getan, weil sich daraus nicht ergibt, welche Norm unter der Abkürzung "EVV" zu verstehen ist. Sollte der Antragsteller damit den Vertrag über eine Verfassung für Europa, ABl. C 310 vom 16.12.2004, gemeint haben, so ist ihm entgegenzuhalten, dass dieser nicht Gegenstand einer Anfechtung iSd Art140a B-VG sein kann, weil er nie kundgemacht wurde (vgl. VfSlg. 18.576/2008; VfGH 11.3.2009, G149-152/08 ua.).

Der Antragsteller vermag sohin nicht darzutun, dass er durch die Bestimmungen des Vertrags von Lissabon bzw. durch die im Antrag näher bezeichneten Bestimmungen des EUV und des AEUV unmittelbar in seinen Rechten berührt ist. Der Antrag erweist sich bereits aus diesem Grund als unzulässig, weshalb auf das Vorbringen des Antragstellers zum Fehlen eines anderen zumutbaren Weges und zur Zulässigkeit von Verfassungsbeschwerden vor dem deutschen Bundesverfassungsgericht nicht einzugehen ist.

III. Der Antrag auf Feststellung, dass der Vertrag von Lissabon, in eventu einzelne näher bezeichnete Bestimmungen des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union wegen Rechtswidrigkeit nicht anzuwenden sind, ist somit mangels Antragslegitimation als unzulässig zurückzuweisen.

Dies konnte gemäß §19 Abs3 Z2 lite VfGG ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.

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