U694/10 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung
Spruch
Die Beschwerdeführer sind durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden, gemäß Art3 EMRK verletzt worden.
Die Entscheidung wird aufgehoben.
Der Bund (Bundeskanzler) ist schuldig, den Beschwerdeführern zuhanden ihrer Rechtsvertreterin die mit € 2.880,- bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu bezahlen.
Entscheidungsgründe:
I. 1. Der Asylgerichtshof legte der angefochtenen Entscheidung
folgenden Sachverhalt zugrunde:
1.1. Die Erstbeschwerdeführerin (geboren am 28. August 1974 oder 1. Jänner 1978), reiste mit ihren minderjährigen Kindern, der Zweitbeschwerdeführerin (geboren am 1. Jänner 2004) und dem Drittbeschwerdeführer (geboren am 1. Jänner 2007), alle Staatsangehörige Afghanistans, illegal nach Griechenland ein. Nach ungefähr dreimonatigem Aufenthalt in Griechenland reisten die Beschwerdeführer, ohne in Griechenland einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt zu haben, mit einem gefälschten ukrainischen Reisepass und einem gefälschten griechischen Visum mit dem Flugzeug nach Österreich ein und stellten am 10. November 2009 Anträge auf internationalen Schutz. Nach der Geburt des Viertbeschwerdeführers am 10. Dezember 2009 in Österreich stellte die Erstbeschwerdeführerin als gesetzliche Vertreterin für diesen einen Antrag auf internationalen Schutz.
1.2. Bei den Einvernahmen vor der Grenzpolizeiinspektion Schwechat am 10. November 2009 und vor dem Bundesasylamt am 12. Jänner 2010 gab die Erstbeschwerdeführerin im Wesentlichen an, dass sie im Alter von fünfzehn Jahren in Afghanistan geheiratet habe und mit ihrem Ehemann in den Iran gegangen sei. Dort habe ihr Ehemann eine iranische Frau geheiratet. Als die Erstbeschwerdeführerin mit dem fünften Kind schwanger gewesen sei, habe ihr die iranische Frau "das Leben schwer gemacht" und sie habe sich entschlossen, den Iran zu verlassen. In der Türkei habe sie sich mit ihren Eltern und ihren Geschwistern getroffen. Ihre Eltern seien mit zwei ihrer vier Kinder weitergereist, sie sei mit der Zweitbeschwerdeführerin und dem Drittbeschwerdeführer mit einem Schlauchboot nach Mytilini (Griechenland) und von dort weiter nach Athen gefahren. In Athen hätten sich die Erst-, Zweit- und Drittbeschwerdeführer in einer Wohnung versteckt gehalten bis ihnen ein Schlepper einen gefälschten Reisepass und Flugtickets besorgt habe. Danach seien sie nach Österreich geflogen. Der Vater, die Schwester und ein Bruder der Erstbeschwerdeführerin seien bereits in Österreich. Die Mutter und die beiden (anderen) Kinder der Erstbeschwerdeführerin seien noch auf dem Weg nach Österreich. Zudem lebe ein weiterer Bruder der Erstbeschwerdeführerin seit ca. zwei Jahren in Österreich.
1.3. Nachdem das vom Bundesasylamt am 17. November 2009 an die griechischen Behörden gerichtete (Wieder )Aufnahmeersuchen gemäß Art10 Abs1 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. L 50/1 vom 25. Februar 2003; im Folgenden:
Dublin II-VO), unbeantwortet blieb, wurde Griechenland gemäß Art18 Abs7 Dublin II-VO zur Prüfung der Asylanträge zuständig. Der Viertbeschwerdeführer wurde den griechischen Behörden gemäß Art4 Abs3 Dublin II-VO, wonach für ein nach Ankunft des asylwerbenden Elternteiles in einem Mitgliedstaat der Dublin II-VO geborenes Kind jener Mitgliedstaat zuständig ist, der für die Prüfung des Asylantrages dieses Elternteiles zuständig ist, gemeldet.
1.4. Mit Bescheiden vom 19. Jänner 2010 wies das Bundesasylamt die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz gemäß §5 Abs1 des Bundesgesetzes über die Gewährung von Asyl (Asylgesetz 2005 - AsylG 2005), BGBl. I 100/2005 (im Folgenden: AsylG 2005), als unzulässig zurück und stellte fest, dass zur Prüfung der Asylanträge gemäß Art10 Abs1 iVm Art18 Abs7 Dublin II-VO Griechenland zuständig sei. Ferner wies das Bundesasylamt die Beschwerdeführer gemäß §10 Abs1 Z1 AsylG 2005 nach Griechenland aus und erklärte die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der Beschwerdeführer nach Griechenland gemäß §10 Abs4 AsylG 2005 für zulässig.
2. Nach Erhebung von Beschwerden gegen die Bescheide des Bundesasylamtes vom 19. Jänner 2010 ersuchte der Asylgerichtshof das Bundesasylamt - da es sich bei den Beschwerdeführern um eine allein stehende afghanische Frau mit minderjährigen Kindern handle - um ergänzende Erhebungen gemäß §66 Abs1 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 1991 (AVG). Unter Bezugnahme auf die Beantwortung einer in einem anderen Fall (Mutter mit zwei minderjährigen Kindern) gestellten Anfrage durch die Staatendokumentation des Bundesasylamtes vom 11. Dezember 2009, welche sich ihrerseits (u.a.) auf einen Bericht der Österreichischen Botschaft Athen vom 1. Dezember 2009 bezog, wonach bei entsprechender Ankündigung der Überstellung von "vulnerablen Personen" zumindest deren vorläufige Unterbringung in Griechenland gewährleistet sei, stellte der Asylgerichtshof folgende konkrete Anfragen an das Bundesasylamt:
Die Verpflichtung zum Selbsteintritt Österreichs (Art3 Abs2 Dublin II-VO) verneinte der Asylgerichtshof. Da sämtliche in Österreich lebende Familienmitglieder der Beschwerdeführer (der Vater, die Schwester und zwei Brüder der Erstbeschwerdeführerin) von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen betroffen seien, der Aufenthalt der Beschwerdeführer in Österreich erst sehr kurz sei und ein niedriger Integrationsgrad bestehe, liege im Falle der Rücküberstellung der Beschwerdeführer nach Griechenland keine Verletzung des Art8 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) vor.
Ebenso wenig bestehe die Gefahr der Verletzung des Art3 EMRK im Falle der Rücküberstellung der Beschwerdeführer nach Griechenland. Asylwerber, die gemäß der Dublin II-VO nach Griechenland rücküberstellt werden, hätten die Möglichkeit, am Flughafen in Griechenland einen Asylantrag zu stellen und die "rosa Karte" zu erhalten, die ihnen ein Recht auf Unterkunft und Verpflegung, Zugang zum Arbeitsmarkt sowie zur Gesundheitsversorgung in Griechenland gewähre. Zwar könne es im Einzelfall zu durch Kapazitätsprobleme bedingten längeren Wartezeiten hinsichtlich der Unterkunftsgewährung und der Versorgung bei Asylwerbern, bei denen besondere individuelle Gründe für die Annahme einer speziellen Schutzbedürftigkeit bestünden (zB Personen mit Erkrankungen, Familien mit Kleinkindern oder schwangeren Frauen), somit zu einer Verletzung des Art3 EMRK im Falle ihrer Rücküberstellung nach Griechenland kommen.
Jedoch treffe dies nach Ansicht des Asylgerichtshofes nicht auf die Beschwerdeführer zu: Mit der Ermöglichung der Asylantragstellung in Griechenland bei ihrer Rücküberstellung erhielten die Beschwerdeführer einen Versorgungsanspruch. Es sei daher davon auszugehen, dass - vor dem Hintergrund der individuellen \berlebensfähigkeit der Beschwerdeführer und den in Griechenland vorzufindenden Verhältnissen - die Beschwerdeführer in der Lage seien, ihre dringendsten Lebensbedürfnisse so weit zu befriedigen, dass sie nicht in eine dauerhaft ausweglose Lage gedrängt werden würden. Zudem hätten die ergänzenden Erhebungen des Asylgerichtshofes ergeben, dass den griechischen Behörden die Überstellung der Beschwerdeführer als eine allein stehende Frau mit drei minderjährigen Kindern mindestens fünf Tage zuvor mitgeteilt werde und die griechischen Behörden den Beschwerdeführern "automatisch Priorität einräumen". Die Beschwerdeführer würden demgemäß zumindest vorläufig untergebracht werden, um deren Obdachlosigkeit zu vermeiden. Jedenfalls stünde Asylwerbern allgemein die Möglichkeit offen, bei den zuständigen Behörden in Griechenland und letztlich beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) konkret drohende oder eingetretene Menschenrechtsverletzungen geltend zu machen.
5. Gegen diese Entscheidung des Asylgerichtshofes richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG [richtig: Art144a B-VG] gestützte Beschwerde, in der die Verletzung des rechtsstaatlichen Prinzips sowie die Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte (Art3, 6 und 8 EMRK, Art83 Abs2 B-VG und Gleichbehandlung Fremder untereinander) geltend gemacht und die kostenpflichtige Aufhebung der angefochtenen Entscheidung beantragt wird.
Begründend wird im Wesentlichen ausgeführt, dass "mittlerweile" die Mutter mit den beiden (anderen) Kindern der Erstbeschwerdeführerin "nach Österreich gereist ist und hier einen Asylantrag gestellt hat". Sämtliche Familienmitglieder seien aus Afghanistan geflohen mit dem Ziel, in Österreich gemeinsam ohne ständige Bedrohung und Existenzangst zu leben. Der Asylgerichtshof habe kein entsprechendes Ermittlungsverfahren hinsichtlich der Familiensituation der Beschwerdeführer in Österreich durchgeführt; der der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegende Sachverhalt sei nicht entscheidungsreif gewesen. Die Erstbeschwerdeführerin sei angesichts des geringen Alters der Zweit- bis Viertbeschwerdeführer (sechs Jahre, drei Jahre und sechseinhalb Monate) in einer sehr schwierigen Situation. In Österreich hätten die Beschwerdeführer erstmals seit langer Zeit Ruhe gefunden und könnten in einem gesicherten Umfeld leben. Die griechischen Behörden könnten für eine sichere Unterbringung der Beschwerdeführer nicht garantieren, die Beschwerdeführer würden bestenfalls in einem Auffanglager für Flüchtlinge untergebracht werden und höchstens einmal im Monat Zugang zu medizinischer Versorgung haben. Zudem sei auf die Aussetzung der Rückbringungsverfahren von Flüchtlingen nach Griechenland durch den EGMR hinzuweisen. Weiters sei den Beschwerdeführern angesichts ihrer Situation kein "höheres Maß an Beeinträchtigung" zuzumuten.
6. Der Asylgerichtshof hat als belangtes Gericht die Verfahrensakten vorgelegt und beantragt, die Beschwerde abzuweisen. Eine Gegenschrift wurde nicht erstattet.
II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:
1. Das gemäß Art3 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden, wird durch eine Entscheidung des Asylgerichtshofes verletzt, wenn er eine Verletzung desselben nicht wahrnimmt. Ein solcher verfassungswidriger Eingriff liegt aber auch vor, wenn die Entscheidung in Anwendung eines der genannten Verfassungsvorschrift widersprechenden Gesetzes ergangen ist, wenn er auf einer dem genannten Grundrecht widersprechenden Auslegung des Gesetzes beruht oder wenn der Behörde grobe Verfahrensfehler unterlaufen sind (zB VfSlg. 13.897/1994, 15.026/1997, 15.372/1998 und 16.384/2001).
2. Ein solcher Fehler ist dem Asylgerichtshof unterlaufen:
Wie der Asylgerichtshof zunächst zutreffend festgestellt hat, kann ein Asylwerber im Falle der Überstellung nach Griechenland in seinem gemäß Art3 EMRK garantierten Recht insoweit verletzt werden, als Unterkunft und Versorgung in Griechenland nicht rechtzeitig zur Verfügung gestellt werden. Dies insbesondere dann, wenn es sich - wie im vorliegenden Fall einer allein stehenden Frau mit drei Kleinkindern, wovon eines erst neun Monate alt ist, - um Asylwerber handelt, bei denen individuelle Gründe bestehen, die die Annahme einer besonderen Schutzbedürftigkeit rechtfertigen. Um in diesen besonders gelagerten Einzelfällen eine Verletzung des Art3 EMRK zu vermeiden, hat es der Asylgerichtshof selbst bereits als erforderlich erachtet, eine individuelle Zusicherung der griechischen Behörden im Hinblick auf die Versorgung von nach Griechenland zu überstellenden Asylwerbern zu erwirken (vgl. etwa zur Einholung einer individuellen Zusicherung der [medizinischen] Versorgung eines schutzbedürftigen Asylwerbers AsylGH 16.11.2009, S14 406668-2/2009 sowie 20.5.2010, S16 412989-1/2010; vgl. zur mangelnden Zusicherung der Bereitstellung einer Unterkunft AsylGH 22.6.2009, S10 405811-2/2009, sowie zu nicht genügenden allgemeinen Ausführungen hinsichtlich der Unterbringung einer Mutter mit Kleinkindern AsylGH 19.10.2009, S13 404115-2/2009).
Der Asylgerichtshof hat - in Kenntnis um die allgemeine Situation von Asylsuchenden in Griechenland - auch im vorliegenden Fall ergänzende Erhebungen durch das Bundesasylamt veranlasst, um sicher sein zu können, dass die Beschwerdeführer im Falle ihrer Rücküberstellung nach Griechenland durch eine mangelnde Versorgung nicht in ihrem nach Art3 EMRK garantierten Recht verletzt werden.
Allerdings begnügte er sich in Folge mit einer bloß allgemeinen Mitteilung des Bundesasylamtes, dass den griechischen Behörden die Ankunft von Asylwerbern über das elektronische Kommunikationsnetzwerk "DublinNet" angekündigt werden müsse und diese Ankündigung (unter Angabe etwaiger "Besonderheiten") schon unmittelbar nach Bekanntgabe der Flugdaten von der österreichischen Fremdenpolizei an Griechenland zur Vorabinformation gesendet werde; diese Auskunft des Bundesasylamtes ergänzt lediglich einen in anderem Zusammenhang erstellten Bericht der Österreichischen Botschaft Athen, wonach bei Überstellung "vulnerabler Personen" nach Griechenland durch staatliche Einrichtungen diesen zumindest vorläufig Unterkunft gewährt werde.
Für den Verfassungsgerichtshof ergibt sich somit das Bild, dass es bei Rücküberstellung schutzwürdiger Personen nach Griechenland zur Durchführung der Asylverfahren grundsätzlich zwar die Möglichkeit staatlicher Versorgung gibt, jedoch ohne fallbezogene individuelle Zusicherung der zuständigen Behörden davon nicht automatisch ausgegangen werden kann.
Wenn sich der Asylgerichtshof im Fall der Beschwerdeführer allein mit generellen Auskünften begnügt, ersetzt dies nicht eine individualisierte Versorgungszusage durch griechische Behörden, wie dies im Lichte des Art3 EMRK für besonders schutzwürdige Personen jedoch geboten ist.
Dadurch, dass der Asylgerichtshof diese, zur Beurteilung der Frage, ob Österreich zum Selbsteintritt gemäß Art3 Abs2 Dublin II-VO verpflichtet wäre, unabdingbare Prämisse nicht hinreichend bzw. zutreffend gewürdigt hat, wurden die Beschwerdeführer in ihrem Recht gemäß Art3 EMRK verletzt.
Die Entscheidung war daher aufzuheben.
III. 1. Die Kostenentscheidung stützt sich auf §88a iVm §88 VfGG. Da die Beschwerdeführer gemeinsam durch eine Rechtsanwältin vertreten sind, war der einfache Pauschalsatz, erhöht um einen entsprechenden Streitgenossenzuschlag, zuzusprechen (vgl. VfGH 26.6.1998, B259/96). In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 480,-
enthalten.
2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.