JudikaturVfGH

G1/10 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung

Entscheidung
28. Februar 2011

Spruch

Der Antrag wird zurückgewiesen.

Begründung:

I. Sachverhalt, Antragsvorbringen und Vorverfahren

1.1. Der Antragsteller, ein nepalesischer Staatsangehöriger, beantragte am 19. April 2001 in Österreich Asyl. Mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates vom 3. Jänner 2008 wurde der Asylantrag abgewiesen und die Abschiebung nach Nepal für zulässig erachtet. Seit 12. Jänner 2008 verfügt der Antragsteller über keine Aufenthaltsbewilligung in Österreich, seine Arbeitsbewilligung wurde am 28. April 2009 bis 14. Mai 2010 verlängert.

1.2. Mit Bescheid der Bundespolizeidirektion Wien vom 19. Februar 2009 wurde der Antragsteller aus Österreich ausgewiesen. Seiner dagegen erhobenen Berufung gab die Sicherheitsdirektion Wien mit Bescheid vom 31. August 2009 keine Folge.

1.3. Am 2. April 2009 beantragte er beim Amt der Wiener Landesregierung die Erteilung einer Niederlassungsbewilligung gemäß §44 Abs4 NAG, über die noch nicht entschieden ist.

2. Gestützt auf Art140 B-VG begehrt der Antragsteller

"a) ...

im §44 Abs4 Einleitung NAG idF des diesbezüglich am 1.4.2009 in Kraft getretenen Bundesgesetzes BGBl I 29/2009 die Worte 'in besonders berücksichtigungswürdigen Fällen', …

b) ...

im §44 Abs5 NAG idF des Bundesgesetzes BGBl I 122/2009 die Passage '1. ein Verfahren zur Erlassung einer Ausweisung erst nach einer Antragstellung gemäß Abs4 eingeleitet wurde und 2.' (...) und im §81 Abs15 NAG idF des Bundesgesetzes BGBl I 122/2009 die Passage '§44 Abs4 und',

in eventu

... lediglich im §81 Abs15 NAG idF des Bundesgesetzes BGBl I

122/2009 die Passage '§44 Abs4 und',

c) ...

im §44 Abs5 Z2 NAG idF des Bundesgesetzes BGBl I 122/2009 das Wort 'jedenfalls', sowie

d) ...

im §44 Abs5 NAG idF des Bundesgesetzes BGBl I 122/2009 den letzten Satz ('Verfahren gemäß Abs4 gelten als eingestellt, wenn der Fremde das Bundesgebiet verlassen hat.')"

als verfassungswidrig aufzuheben und ihm die Kosten des Verfahrens zu ersetzen.

Seine Antragslegitimation begründet der Antragsteller damit, dass über seinen auf §44 Abs4 NAG gestützten Antrag auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung vom 2. April 2009 noch nicht entschieden sei und die angefochtenen, seit 1. Jänner 2010 in Kraft stehenden Bestimmungen insofern für ihn wirksam würden, als er entgegen der davor geltenden Rechtslage schon vor Entscheidung über seinen gemäß §44 Abs4 NAG gestellten Antrag abgeschoben werden könne. Da dieses Verfahren gemäß §44 Abs5 NAG als eingestellt gelte, wenn er das Bundesgebiet verlassen habe, könne er nach seiner Abschiebung keine Bescheidbeschwerde mehr erheben. Ebenso wenig könne er vom Ausland aus diejenigen Bestimmungen mit Individualantrag bekämpfen, nach denen ihm jetzt die Abschiebung drohe. Er sei daher jetzt - vor seiner Abschiebung - gezwungen, mit Individualantrag sämtliche in Frage kommenden Verfassungswidrigkeiten an den Verfassungsgerichtshof heranzutragen.

Sollte - nach Aufhebung des §44 Abs5 letzter Satz NAG idF BGBl. I 122/2009 durch den Verfassungsgerichtshof - theoretisch vom Ausland aus eine Bescheidbeschwerde zulässig sein, wäre die Erhebung einer solchen unverhältnismäßig, denn mit der Ausreise sei nicht nur der Verlust seines Arbeitsplatzes verbunden, sondern es seien auch die Kontaktmöglichkeiten von Nepal aus sehr eingeschränkt. Die Unzumutbarkeit eines anderen Weges zur verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle liege daher vor.

3. Die Bundesregierung erachtet in ihrer Äußerung den Antrag als nicht zulässig. Dem Antragsteller stehe ein zumutbarer Weg zur Verfügung, eine amtswegige Antragstellung beim Verfassungsgerichtshof anzuregen, weil über seinen Antrag gemäß §44 Abs4 NAG noch nicht entschieden sei und ihm gegen eine negative Entscheidung des Amtes der Wiener Landesregierung die Beschwerdeerhebung an den Verfassungs- oder Verwaltungsgerichtshof offen stehe. Da dem Antrag auch keine aufschiebende Wirkung zukomme, sei er nicht geeignet, die Abschiebung des Antragstellers zu verhindern, deswegen werde durch die Antragstellung die Rechtsposition des Antragstellers nicht verbessert. Fraglich scheine auch die aktuelle Betroffenheit des Antragstellers, halte er sich doch noch im Bundesgebiet auf. Darüber hinaus sei der Antrag auch deshalb unzulässig, weil der begehrte Aufhebungsumfang nicht derart abgesteckt sei, dass durch die Aufhebung die angenommene Rechtswidrigkeit beseitigt würde.

4. Dazu erstattete der Antragsteller eine Äußerung.

II. Rechtsquellen

1. §44 Abs4 des Bundesgesetzes über die Niederlassung und den Aufenthalt in Österreich (Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz - NAG), BGBl. I 100/2005, lautete in der bis 1. Jänner 2010 geltenden Fassung BGBl. I 29/2009 (die angefochtene Wortfolge ist in Fettdruck hervorgehoben):

"Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen kann trotz Vorliegens eines Erteilungshindernisses gemäß §11 Abs1 Z3, 5 oder 6 in besonders berücksichtigungswürdigen Fällen auf begründeten Antrag, der bei der örtlich zuständigen Behörde im Inland einzubringen ist, eine quotenfreie 'Niederlassungsbewilligung - beschränkt' erteilt werden, wenn

1. der Drittstaatsangehörige nachweislich seit dem 1. Mai 2004 durchgängig im Bundesgebiet aufhältig ist und

2. mindestens die Hälfte des Zeitraumes des festgestellten durchgängigen Aufenthalts im Bundesgebiet rechtmäßig gewesen ist.

Die Behörde hat dabei den Grad der Integration des Drittstaatsangehörigen, insbesondere die Selbsterhaltungsfähigkeit, die schulische und berufliche Ausbildung, die Beschäftigung und die Kenntnisse der Deutschen Sprache, zu berücksichtigen. Der Nachweis einer oder mehrerer Voraussetzungen des §11 Abs2 Z2 bis 4 kann auch durch Vorlage einer Patenschaftserklärung (§2 Abs1 Z18) erbracht werden. Ein einem bereits rechtskräftig erledigten Antrag nachfolgender weiterer Antrag (Folgeantrag) ist als unzulässig zurückzuweisen, wenn aus dem begründeten Antragsvorbringen ein maßgeblich geänderter Sachverhalt nicht hervorkommt. Die §§44b Abs2 sowie 74 gelten."

2. Mit dem Fremdenrechtsänderungsgesetz 2009 - FrÄG 2009, BGBl. I 122/2009 (Bundesgesetz, mit dem das Asylgesetz 2005, das Fremdenpolizeigesetz 2005, das Gebührengesetz 1957, das Grundversorgungsgesetz - Bund 2005, das Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz, das Staatsbürgerschaftsgesetz 1985 und das Tilgungsgesetz 1972 geändert werden), wurde der Schlussabsatz des §44 Abs4 NAG novelliert und der Bestimmung ein Abs5 angefügt. Das FrÄG 2009 trat mit 1. Jänner 2010 in Kraft.

Die maßgeblichen Bestimmungen des NAG, BGBl. I 100/2005 idF BGBl. I 122/2009, lauten auszugsweise (die angefochtenen Bestimmungen sind in Fettdruck hervorgehoben):

"2. Hauptstück

Behördenzuständigkeiten

Sachliche Zuständigkeit

§3. (1) Behörde nach diesem Bundesgesetz ist der örtlich zuständige Landeshauptmann. ...

(2) Über Berufungen gegen die Entscheidungen des Landeshauptmannes entscheidet der Bundesminister für Inneres. Gegen Entscheidungen über Anträge auf Erteilung einer 'Niederlassungsbewilligung - beschränkt' gemäß §44 Abs4 ist eine Berufung nicht zulässig.

(3)-(5) ...

4. Hauptstück

Allgemeine Voraussetzungen

Allgemeine Voraussetzungen für einen Aufenthaltstitel

§11. (1) Aufenthaltstitel dürfen einem Fremden nicht erteilt werden, wenn ...

3. gegen ihn eine durchsetzbare Ausweisung erlassen wurde und seit seiner Ausreise nicht bereits achtzehn Monate vergangen sind, sofern er nicht einen Antrag gemäß §21 Abs1 eingebracht hat, nachdem er seiner Ausreiseverpflichtung freiwillig nachgekommen ist; ...

5. eine Überschreitung der Dauer des erlaubten sichtvermerksfreien oder sichtvermerkspflichtigen Aufenthalts im Zusammenhang mit §21 Abs6 vorliegt oder

6. er in den letzten zwölf Monaten wegen Umgehung der Grenzkontrolle oder nicht rechtmäßiger Einreise in das Bundesgebiet rechtskräftig bestraft wurde.

(2)-(7) ...

Niederlassungsbewilligung - beschränkt

§44. (1)-(3) ...

(4) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen kann trotz Vorliegens eines Erteilungshindernisses gemäß §11 Abs1 Z3, 5 oder 6 in besonders berücksichtigungswürdigen Fällen auf begründeten Antrag, der bei der örtlich zuständigen Behörde im Inland einzubringen ist, eine quotenfreie 'Niederlassungsbewilligung - beschränkt' erteilt werden, wenn

1. der Drittstaatsangehörige nachweislich seit dem 1. Mai 2004 durchgängig im Bundesgebiet aufhältig ist und

2. mindestens die Hälfte des Zeitraumes des festgestellten durchgängigen Aufenthalts im Bundesgebiet rechtmäßig gewesen ist.

Die Behörde hat dabei den Grad der Integration des Drittstaatsangehörigen, insbesondere die Selbsterhaltungsfähigkeit, die schulische und berufliche Ausbildung, die Beschäftigung und die Kenntnisse der Deutschen Sprache, zu berücksichtigen. Der Nachweis einer oder mehrerer Voraussetzungen des §11 Abs2 Z2 bis 4 kann auch durch Vorlage einer Patenschaftserklärung (§2 Abs1 Z18) erbracht werden. Hinsichtlich des Vorliegens der Voraussetzungen gemäß §11 Abs2 Z1 und 5 einschließlich fremdenpolizeilicher Maßnahmen hat die Behörde unverzüglich eine begründete Stellungnahme der der zuständigen Fremdenpolizeibehörde übergeordneten Sicherheitsdirektion einzuholen. Bis zum Einlangen dieser Stellungnahme bei der Behörde ist der Ablauf der Fristen gemäß §74 und §73 AVG gehemmt. Ein einem bereits rechtskräftig erledigten Antrag nachfolgender weiterer Antrag (Folgeantrag) ist als unzulässig zurückzuweisen, wenn aus dem begründeten Antragsvorbringen ein maßgeblich geänderter Sachverhalt nicht hervorkommt.

(5) Anträge gemäß Abs4 begründen kein Aufenthalts- oder Bleiberecht nach diesem Bundesgesetz. Bis zur rechtskräftigen Entscheidung der Behörde über einen solchen Antrag hat die zuständige Fremdenpolizeibehörde jedoch mit der Durchführung der eine Ausweisung umsetzenden Abschiebung zuzuwarten, wenn

1. ein Verfahren zur Erlassung einer Ausweisung erst nach einer Antragstellung gemäß Abs4 eingeleitet wurde und

2. die Erteilung einer 'Niederlassungsbewilligung - beschränkt' gemäß Abs4 wahrscheinlich ist, wofür die Voraussetzungen des Abs4 Z1 und 2 jedenfalls vorzuliegen haben.

Hinsichtlich des Vorliegens der Voraussetzungen der Z2 hat die zuständige Fremdenpolizeibehörde vor Durchführung der Abschiebung eine begründete Stellungnahme der Behörde einzuholen. Verfahren gemäß Abs4 gelten als eingestellt, wenn der Fremde das Bundesgebiet verlassen hat.

Übergangsbestimmungen

§81. (1)-(14) ...

(15) Alle nach Inkrafttreten des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 122/2009 anhängigen Verfahren gemäß §§44 Abs4 und 69a sind nach den Bestimmungen des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 122/2009 zu Ende zu führen."

III. Erwägungen

Prozessvoraussetzungen

1. Der Verfassungsgerichtshof hat seit dem Beschluss VfSlg. 8009/1977 in ständiger Rechtsprechung den Standpunkt vertreten, die Antragslegitimation nach Art140 Abs1 (letzter Satz) B-VG setze voraus, dass durch die bekämpfte Bestimmung die (rechtlich geschützten) Interessen des Antragstellers nicht bloß potentiell, sondern aktuell beeinträchtigt werden müssen und dass der durch Art140 Abs1 B-VG dem Einzelnen eingeräumte Rechtsbehelf dazu bestimmt ist, Rechtsschutz gegen verfassungswidrige Gesetze nur insoweit zu gewähren, als ein anderer zumutbarer Weg hiefür nicht zur Verfügung steht (zB VfSlg. 11.803/1988, 13.871/1994, 15.343/1998, 16.722/2002, 16.867/2003).

Ein solcher zumutbarer Weg besteht grundsätzlich dann, wenn ein gerichtliches oder verwaltungsbehördliches Verfahren bereits anhängig ist, das dem von der generellen Rechtsnorm Betroffenen letztlich Gelegenheit bietet, die Einleitung eines amtswegigen Normprüfungsverfahrens durch den Verfassungsgerichtshof anzuregen. Wie der Verfassungsgerichtshof im Zusammenhang mit nach Art139 und 140 B-VG gestellten Individualanträgen mehrfach ausgeführt hat, ist der Partei in einem solchen Fall nur bei Vorliegen besonderer, außergewöhnlicher Umstände das Recht zur Einbringung eines Verordnungs- oder Gesetzesprüfungsantrages eingeräumt; andernfalls gelangte man zu einer Doppelgleisigkeit des Rechtsschutzes, die mit dem Grundprinzip des Individualantrages als eines bloß subsidiären Rechtsbehelfes nicht im Einklang stünde (vgl. zB VfSlg. 8312/1978, 8552/1979, 8890/1980, 10.251/1984, 11.344/1987, 11.823/1988).

2. Wie vom Antragsteller selbst vorgebracht, hat er am 2. April 2009 einen Antrag auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung gemäß §44 Abs4 NAG gestellt. Laut aktuellem ZMR-Auszug hält er sich nach wie vor in Österreich auf. Gegen die verfahrensbeendende Entscheidung in diesem Bewilligungsverfahren hat er die Möglichkeit, den Verfassungsgerichtshof mit einer auf Art144 B-VG gestützten Beschwerde innerhalb der sechswöchigen Beschwerdefrist anzurufen und darin die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die mit dem Individualantrag angefochtenen Bestimmungen und Wortfolgen darzulegen. Der Verfassungsgerichtshof wäre - hätte er im zulässigen Beschwerdeverfahren gegen präjudizielle Bestimmungen Bedenken ob ihrer Verfassungsmäßigkeit - verpflichtet, ein amtswegiges Gesetzesprüfungsverfahren einzuleiten.

Darüber hinaus stünde es dem Antragsteller schon jetzt offen, im Wege eines - bei der Bundesministerin für Inneres einzubringenden - Devolutionsantrages einen (letztinstanzlichen) Bescheid zu erwirken, gegen den ihm das Beschwerderecht beim Verfassungsgerichtshof zukäme. Im Falle der Nichterledigung dieses Devolutionsantrages hätte er die Möglichkeit, beim Verwaltungsgerichtshof eine Säumnisbeschwerde einzubringen, der, sollte dieser die verfassungsrechtlichen Bedenken des Antragstellers teilen, beim Verfassungsgerichtshof einen Antrag auf Gesetzesprüfung zu stellen hätte (vgl. VfSlg. 15.601/1999, 15.795/2000).

Soweit sich der Antragsteller unter litd seines Antrages gegen den letzten Satz in §44 Abs5 NAG idF BGBl I 122/2009 wendet, ist diese Bestimmung im Anlassverfahren nicht mehr anzuwenden, weil sie der Verfassungsgerichtshof mit Erkenntnis vom heutigen Tag, G201/10-9, als verfassungswidrig aufgehoben und ihre Anwendung in allen am 28. Februar 2011 anhängigen Verfahren ausgeschlossen hat.

IV. Ergebnis

Da dem Antragsteller die Legitimation zur Stellung eines Individualantrages fehlt, war der Antrag schon aus diesem Grund gemäß §19 Abs3 Z2 lite VfGG in nichtöffentlicher Sitzung als unzulässig zurückzuweisen.

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