B251/09 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung
Spruch
I. Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid, soweit dieser über die Zulässigkeit der Beschwerdeerhebung gegen ein Telefonierverbot und eine nicht rechtzeitige Veranlassung ärztlicher Hilfe abspricht, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden.
Der Bescheid wird insoweit aufgehoben.
II. Das Land Wien ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.400,- bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu bezahlen.
Entscheidungsgründe:
I. Sachverhalt, Beschwerdevorbringen und Vorverfahren
1. Der Beschwerdeführer geriet am 4. April 2008 als Lenker eines Fahrzeuges in eine Verkehrskontrolle, im Zuge derer er sich u. a. einem Alkoholtest zu unterziehen hatte. Während dieser Verkehrskontrolle, die sich zur Feststellung der Identität auch auf den Mitfahrer des Beschwerdeführers bezog, kam es zur - vom Unabhängigen Verwaltungssenat Wien (im Folgenden: UVS) als erwiesen angenommenen - Versetzung eines Schlages auf den Hals des Beschwerdeführers durch eine Polizeibeamtin, dessen Folge ein Bruch des Zungenbeins war.
2. Am 16. Mai 2008 erhob der Beschwerdeführer u.a. eine Maßnahmenbeschwerde an den UVS, in der er sich "gegen die ... ausgeübten Akte unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt, und zwar
wandte.
3. Dieser Beschwerde hat der UVS mit dem angefochtenen Bescheid insoweit stattgegeben, als er die Amtshandlung der Anhaltung zur Durchführung eines Alkomattests insofern für rechtswidrig erklärt, als dem Beschwerdeführer im Zuge dieser Amtshandlung ein Schlag auf seinen Hals versetzt worden ist, welcher einen Zungenbeinbruch zur Folge hatte. Im Übrigen hat er die Beschwerde "mangels Erweislichkeit einer Beschimpfung, eines Telefonierverbotes und einer nicht rechtzeitigen Veranlassung ärztlicher Hilfe als unzulässig zurückgewiesen."
4. Die Versetzung des Handkantenschlages auf den Hals des Beschwerdeführers durch eine Polizeibeamtin im Zuge der Verkehrskontrolle erachtete der UVS insbesondere auf Grund eines im Verfahren erstellten Sachverständigengutachtens, wonach es einer entsprechenden Gewalteinwirkung bedarf, um die genannte Verletzung herbeizuführen, als erwiesen und bezeichnete in diesem Zusammenhang die Angaben der betreffenden Polizeibeamten in den durchgeführten mündlichen Verhandlungen als "geradezu absonderlich" bzw. "vollkommen unglaubwürdig". In rechtlicher Hinsicht führte der UVS aus, dass es sich bei dem Schlag gegen den Hals des Beschwerdeführers um den Einsatz eines hohen Maßes an Gewalt handelte, welcher nur bei erheblicher unmittelbarer Gefahr für die den Schlag ausführende Polizeibeamtin zu rechtfertigen gewesen wäre; diese Voraussetzung sei aber nicht gegeben. Jedenfalls sei das Ausmaß der Gewaltanwendung - so der UVS abschließend - außer Verhältnis zu jener Gefährdung, die als vom Beschwerdeführer ausgehend vertretbar angenommen habe werden können. In der Frage der Misshandlung, welche zu einer schweren Körperverletzung geführt habe, sei sohin spruchgemäß zu entscheiden gewesen.
5. Zum Sachverhalt - abgesehen von dem als erwiesen angenommenen Schlag gegen den Hals des Beschwerdeführers - führt der UVS Folgendes aus:
"Er [der Beschwerdeführer] fragte die Beamtin, warum sie dies [Versetzen eines Handkantenschlages] getan habe, und wiederholte diese Frage auch noch, als die anderen Beamten wieder bei ihnen standen, erhielt aber keine Auskunft. Jedoch klagte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht über gesundheitliche Beschwerden oder über Schmerzen. Die Beamten N und K führten sodann mit ihm den beabsichtigten Alkomattest durch, welcher eine Alkoholisierung ergab. Als er während der Durchführung des Tests mit seiner Bekannten S telefonieren wollte, wurde er von den Beamten aufgefordert, bis zur Beendigung des Tests zuzuwarten, was er auch tat. Danach wurde er in keiner Weise am Telefonieren gehindert. Nach dem Alkomattest erklärten die Beamten N und K dem Beschwerdeführer, dass er nicht mehr weiterfahren dürfe, und nahmen ihm zur Sicherheit die Fahrzeugschlüssel ab. Bis zu diesem Zeitpunkt und dem kurz danach
erfolgten Verlassen des Ortes durch die Beamten ... hatte der
Beschwerdeführer keinen Krankentransport oder Arzt verlangt und werde für die Beamten sichtbare Verletzungen, noch von außen wahrnehmbare Beschwerden aufgewiesen.
Ab diesem Zeitpunkt wurde der Beschwerdeführer jedoch zunehmend heiserer und bekam Atembeschwerden, er telefonierte mit der
Zeugin S, versuchte den verbleibenden Beamten ... klar zu machen,
dass er von der Beamtin S auf den Hals geschlagen worden sei und erklärte, einen Arzt zu benötigen. Daraufhin riefen die Beamten ... die Rettung an, welche jedoch relativ lange benötigte, sodass die Beamten noch einmal urgieren mussten. Erst beim Eintreffen der Rettung wurden die Atembeschwerde des Beschwerdeführers auch äußerlich merkbar."
Zur Beweiswürdigung führt der UVS u.a. weiter Folgendes aus:
"Von der zeitlichen Abfolge erscheint die Darstellung des Beschwerdeführers schwer nachvollziehbar, zumal zwischen der von ihm erwähnten Visitierung seines Mitfahrers und dem mit ihm durchgeführten Alkomattest eine zeitliche Lücke klafft, während der alle Beamten mehr oder weniger untätig herumzustehen scheinen. Auch besteht kein Anlass, entgegen der Darstellung der Beamten von einer Visitierung des Beschwerdeführers auszugehen oder davon, dass sein Mitfahrer M von der weiblichen Beamtin visitiert worden wäre. Trotz dem grundsätzlich guten persönlichen Eindruck geht der UVS Wien vielmehr davon aus, dass der Beschwerdeführer hier aufgrund seiner Aufregung und des mangelhaften Sprachverständnisses Eindrücke durcheinander gebracht hat, weshalb für den zeitlichen Ablauf die schlüssigere Darstellung der Polizeibeamten zu Grunde gelegt wird. Deshalb wurde auch festgestellt, dass der Schlag gegen den Hals deutlich vor Beginn des Alkomattests stattgefunden hat, während der Telefonierwunsch - welchen der Beschwerdeführer selbst mit dem Test in Zusammenhang bringt - frühestens mit dessen Beginn erstmals zum Ausdruck gebracht worden ist."
In der Folge würdigt der UVS den im angefochtenen Bescheid festgestellten Sachverhalt in rechtlicher Hinsicht wie folgt:
"Ein wuchtiger Schlag gegen den Hals kann zu einem Bruch des Zungenbeines führen, welcher seinerseits mit Lebensgefahr für den Betroffenen verbunden sein kann. Es handelt sich somit um den Einsatz eines hohen Maßes an Gewalt, welcher nur bei erheblicher unmittelbarer Gefahr für die den Schlag ausführende Polizeibeamtin zu rechtfertigen gewesen wäre. Diese Voraussetzung war aber nicht gegeben.
...
Das an den Beschwerdeführer gestellte Ansinnen, mit dem Telefonieren bis nach Beendigung des bereits begonnenen Alkomattests zuzuwarten, ist als solches nicht rechtswidrig und kann nicht mit einem Verbot des Telefonierens gleichgesetzt werden. Auch unter dem Gesichtspunkt des §30 Abs1 Z2 SPG (Beiziehung einer Vertrauensperson) - welcher im übrigen nicht bei der Ausübung straßenpolizeilicher Befugnisse gilt - hätte ein Zuwarten auf das Eintreffen einer erst zu verständigenden Person eine unverhältnismäßige Verzögerung dargestellt (vgl Pürstl/Zirnsack, SPG (2005), Anm 9 zu §30, samt Hinweis auf Hauer/Keplinger, Kommentar zum SPG², Anm B.7 zu §30). Selbst im Falle einer Verhaftung bestünde kein Recht auf sofortige Verständigung, sondern gemäß Art4 Abs7 PersFrG nur eines 'ohne unnötigen Aufschub'.
Da dieser so wie die weiteren Beschwerdepunkte nicht erwiesen werden konnten, war der Beschwerde im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes vor der B-VG Novelle 1988 ungeachtet ihrer meritorischen Behandlung diesbezüglich nicht ab-, sondern zurückzuweisen."
6. In der auf Art144 B-VG gestützten Beschwerde wird der vorliegende Bescheid wegen Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte gemäß Art2, 3 und 8 EMRK, auf Gleichbehandlung Fremder untereinander und auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter "hinsichtlich der Zurückweisung der Beschwerden gegen die Verweigerung der medizinischen Hilfeleistung und gegen das Telefonierverbot angefochten" und insoweit die kostenpflichtige Aufhebung des Bescheides beantragt.
7. Begründend wird u.a. ausgeführt, dass die Zurückweisung der Maßnahmenbeschwerde in den zitierten Anfechtungspunkten den Beschwerdeführer im Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletze, indem ihm eine meritorische Entscheidung verweigert worden sei. Im Hinblick auf die Vorenthaltung medizinischer Versorgung sei der Beschwerdeführer auch in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten gemäß Art2 und 3 EMRK verletzt worden, da den Staat in diesem Zusammenhang nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte positive Gewährleistungspflichten treffen würden.
8. Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der sie dem Beschwerdevorbringen entgegentritt und die Abweisung der Beschwerde beantragt. Der Beschwerdeführer erstattete eine Replik, worauf die belangte Behörde duplizierte. Daraufhin erstattete der Beschwerdeführer eine Triplik.
II. Erwägungen
Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:
1. Nach der mit VfSlg. 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s. etwa VfSlg. 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg. 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl. 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein - auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes - Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.
Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet ein Bescheid, wenn er auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl. zB VfSlg. 16.214/2001), wenn die Behörde dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der - hätte ihn das Gesetz - dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl. 390/1973, stehend erscheinen ließe (s. etwa VfSlg. 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn sie bei Erlassung des Bescheides Willkür geübt hat (zB VfSlg. 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001).
Ein willkürliches Verhalten der Behörde, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außer-Acht-Lassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg. 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).
2. Vorauszuschicken ist, dass der UVS in nicht zu beanstandender Weise ein Ermittlungsverfahren samt mündlicher Verhandlung durchgeführt und den Sachverhalt dem Grunde nach festgestellt hat, auf Grund dessen er einen Teil der Amtshandlung, nämlich den Schlag auf den Hals des Beschwerdeführers, für rechtswidrig erklärt. Hinsichtlich der übrigen Teile der angefochtenen Amtshandlung, nämlich der nicht rechtzeitigen Veranlassung ärztlicher Hilfe und des Telefonierverbotes, weist der UVS die an ihn gerichtete Beschwerde, "ungeachtet ihrer meritorischen Behandlung", "mangels Erweislichkeit" zurück, wobei er sichtlich davon ausgeht, dass die genannten Verhaltensweisen - unabhängig von dem als erwiesen angenommenen Schlag auf den Hals des Beschwerdeführers - an sich Akte unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt darstellen können (vgl. zur Maßnahmenqualität bestimmter Unterlassungen VfSlg. 16.638/2002 und 15.372/1998).
3. Bei der Qualifikation der in Beschwerde gezogenen Verhaltensweisen der nicht rechtzeitigen Veranlassung ärztlicher Hilfe und des Telefonierverbotes "als nicht erweislich" ist dem UVS jedoch ein in die Verfassungssphäre reichender Fehler unterlaufen:
4. Die Feststellungen, die zur Zurückweisung der Beschwerde "mangels Erweislichkeit" eines Telefonierverbotes und einer nicht rechtzeitigen Veranlassung ärztlicher Hilfe führten, stützt der UVS unter anderem darauf, dass diese Feststellungen "auch mit der Aussage der Zeugin S" (Anmerkung: der Vertrauensperson des Beschwerdeführers) in der durchgeführten mündlichen Verhandlung "gut vereinbar" seien; beispielhaft wiederholt die belangte Behörde in einem Klammerausdruck die Aussage der Zeugin, wonach diese "Polizisten" sagen gehört habe, "jetzt wird nicht telefoniert". Der weiteren Aussage der Zeugin, dass das von ihr mit dem Beschwerdeführer geführte Telefonat "von Polizisten auch physisch unterbrochen worden wäre", sowie der Aussage hinsichtlich des Zeitpunktes der (erstmaligen) Verständigung der Rettung wird vom UVS jedoch nicht gefolgt.
5. Die in diesen Punkten angenommene Unglaubwürdigkeit des Beschwerdeführers ist für den Verfassungsgerichtshof nicht nachvollziehbar begründet: Dass die Aussagen des Beschwerdeführers zur Versetzung eines Schlages auf den Hals durch eine Polizeibeamtin für "durchaus glaubwürdig", die Aussagen der Polizeibeamten im bezeichneten Zusammenhang hingegen "für vollkommen unglaubwürdig" und teilweise "geradezu absonderlich" erachtet werden, andererseits aber beim Vorwurf der nicht rechtzeitigen Veranlassung ärztlicher Hilfe und des Telefonierverbotes - genau umgekehrt - von der Unglaubwürdigkeit der Angaben des Beschwerdeführers und der Glaubwürdigkeit der Angaben der Polizeiorgane trotz der plausiblen Aussage der Zeugin S ausgegangen wird, ist für den Verfassungsgerichtshof auf Basis der vorliegenden Begründung nicht nachvollziehbar. Vielmehr beschränkt sich der UVS im Kern darauf anzugeben, dass der Beschwerdeführer "aufgrund seiner Aufregung und des mangelhaften Sprachverständnisses Eindrücke durcheinandergebracht hat", weshalb der Darstellung der Polizeibeamten gefolgt werde.
III. Ergebnis und damit zusammenhängende Ausführungen
1. Der belangten Behörde sind somit grobe Begründungsmängel unterlaufen, die den Bescheid - im angefochtenen Umfang - mit Willkür behaften. Der Beschwerdeführer ist dadurch in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung Fremder untereinander verletzt.
Der angefochtene Bescheid war daher in dem im Spruch bezeichneten Umfang aufzuheben.
2. Die Kostenentscheidung stützt sich auf §88 VfGG; im zugesprochenen Betrag ist Umsatzsteuer in Höhe von € 400,- enthalten.
3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.