B1033/10 ua – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung
Spruch
I. Die Beschwerdeführer sind durch die angefochtenen Bescheide, soweit diese die Durchsuchung der mitgeführten Behältnisse und die erkennungsdienstliche Behandlung für rechtmäßig erklären, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden.
Die Bescheide werden insoweit aufgehoben.
II. Der Bund (Bundesministerin für Inneres) ist schuldig, den Beschwerdeführern zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 5.800,-
bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
I. Sachverhalt, Beschwerdevorbringen und Vorverfahren
1. Die Beschwerdeführer, Staatsangehörige der Russischen Föderation tschetschenischer Volksgruppenzugehörigkeit, erhoben u.a. Maßnahmenbeschwerden gemäß Art129a Abs1 Z2 B-VG an den Unabhängigen Verwaltungssenat im Land Niederösterreich (im Folgenden: UVS), die sich - nach Übertritt der tschechisch-österreichischen Grenze in der Nacht vom 31. Oktober 2003 bis zur Abschiebung der Beschwerdeführer nach Tschechien am 1. November 2003 - gegen näher beschriebene Amtshandlungen der Organe der Bezirkshauptmannschaft Gmünd richteten.
2. Wegen Verletzung der gesetzlich normierten Entscheidungspflicht durch den UVS erhoben die Beschwerdeführer Säumnisbeschwerden gemäß Art132 B-VG an den Verwaltungsgerichtshof. Dieser setzte dem UVS gemäß §36 Abs2 Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985 (im Folgenden: VwGG) jeweils eine Frist zur Erlassung des versäumten Bescheides. Mit Verfügung vom 8. Oktober 2008 erstreckte der Verwaltungsgerichtshof auf Antrag des UVS diese Frist bis 1. Oktober 2009.
3. Die Entscheidungen über die Maßnahmenbeschwerden der nunmehrigen Beschwerdeführer erfolgten in den zu B1033/10 und B1042/10 protokollierten Verfahren mit Bescheiden vom 22. Juni 2010; in den zu B1039/10 und B1041/10 protokollierten Verfahren mit Bescheiden vom 17. Juni 2010; in dem zu B1040/10 protokollierten Verfahren mit Bescheid vom 22. Juni 2010; in den zu B1035/10 und B1036/10 protokollierten Verfahren mit Bescheiden vom 23. Juni 2010; in dem zu B1038/10 protokollierten Verfahren mit Bescheid vom 8. Juli 2010 sowie in den zu B1034/10 und B1037/10 protokollierten Verfahren mit Bescheiden vom 12. Juli 2010.
In diesen Bescheiden gab der UVS den Maßnahmenbeschwerden teilweise statt und stellte die Verletzung in Rechten der Beschwerdeführer durch die näher bezeichneten Amtshandlungen fest; einen Teil der Amtshandlung (Spruchpunkt B), nämlich die Festnahme, die Anhaltung zum Zweck der Vorführung vor die Bezirkshauptmannschaft Gmünd nach Grenzübertritt, die Durchsuchung der Beschwerdeführer, die Durchsuchung ihrer Kleidung und der mitgeführten Behältnisse sowie die erkennungsdienstliche Behandlung erklärte der UVS - da die Beschwerdeführer keine Identitätsdokumente vorweisen konnten - für rechtmäßig. Die Durchsuchung der Kleidung und der mitgeführten Behältnisse bzw. die erkennungsdienstliche Behandlung stützte der UVS auf §27 Abs2 bzw. auf §35 "AsylG"; er führte dazu aus, dass die Beschwerdeführer verpflichtet gewesen seien, wegen Fehlens eines Identitätsdokumentes die Durchsuchung ihrer Kleidung und der mitgeführten Behältnisse zu dulden bzw. an der erkennungsdienstlichen Behandlung mitzuwirken.
4. Die Bescheide wurden den Beschwerdeführern zugestellt und zwar in den zu B1033/10, B1035/10, B1036/10, B1039/10 und B1040/10
protokollierten Verfahren am 25. Juni 2010; in dem zu B1038/10
protokollierten Verfahren am 16. Juli 2010; in den zu B1034/10 und B1037/10 protokollierten Verfahren am 19. Juli 2010 und in den zu B1041/10 und B1042/10 protokollierten Verfahren am 23. Juni 2010.
5. Der Verwaltungsgerichtshof stellte mit Beschluss vom 26. August 2010 die Verfahren über die Säumnisbeschwerden gemäß §36 Abs2 VwGG ein.
6. Die vorliegenden, auf Art144 B-VG gestützten Beschwerden richten sich jeweils gegen Spruchpunkt B der Bescheide des UVS und zwar insoweit, als darin die Durchsuchung der mitgeführten Behältnisse sowie die erkennungsdienstliche Behandlung der Beschwerdeführer für rechtmäßig erklärt worden sind. Es wird die Verletzung in dem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung Fremder untereinander, in eventu auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter, geltend gemacht und die kostenpflichtige Aufhebung der Bescheide im angefochtenen Umfang beantragt. Begründend wird im Wesentlichen ausgeführt, dass der UVS die Durchsuchung der mitgeführten Behältnisse und die erkennungsdienstliche Behandlung - da die Beschwerdeführer nicht als Asylwerber behandelt worden seien - denkunmöglich auf §27 Abs2 bzw. §35 Abs1 Asylgesetz 1997 gestützt habe; zudem würden diesbezüglich jegliche Feststellungen fehlen. Das Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter sei verletzt, da der UVS die angefochtenen Bescheide erst nach Ablauf der vom Verwaltungsgerichtshof im Verfahren über die Säumnisbeschwerden gesetzten Nachfrist erlassen habe.
7. Die belangte Behörde legte die Verwaltungsakten vor und erstattete jeweils eine Gegenschrift, in der beantragt wird, der Beschwerde "keine Folge" zu geben.
II. Erwägungen
Der Verfassungsgerichtshof hat über die in sinngemäßer Anwendung der §§187 und 404 ZPO iVm §35 VfGG zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung verbundenen - zulässigen - Beschwerden erwogen:
1. Das Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wird durch den Bescheid einer Verwaltungsbehörde u.a. verletzt, wenn die Behörde eine ihr gesetzlich nicht zukommende Zuständigkeit in Anspruch nimmt (zB VfSlg. 15.738/2000, 16.066/2001, 16.298/2001 und 16.717/2002).
2. Dies trifft hier zu:
Nach Ablauf einer vom Verwaltungsgerichtshof im Zuge eines Säumnisbeschwerdeverfahrens gesetzten Frist ist die Behörde zur Erlassung des Bescheides nicht mehr zuständig (vgl. VfSlg. 5209/1966, 8683/1979, 9684/1983, 14.544/1996 und 16.717/2002). Die angefochtenen Bescheide wurden vom UVS erst nach Ablauf der vom Verwaltungsgerichtshof - nach einmaliger Verlängerung - gesetzten Frist (Oktober 2009) im Juni bzw. Juli 2010 erlassen. Zu diesem Zeitpunkt war der UVS zur Erlassung der Bescheide nicht mehr zuständig.
III. Ergebnis und damit zusammenhängende Ausführungen
1. Dadurch, dass die belangte Behörde eine Zuständigkeit in Anspruch genommen hat, die ihr nicht zugekommen ist, hat sie die Beschwerdeführer in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt.
Die Bescheide waren daher - im Umfang ihrer Anfechtung - aufzuheben.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. Allen Beschwerdeführern war der insgesamt einfache Pauschalsatz - erhöht um einen entsprechenden Streitgenossenzuschlag - zuzusprechen, weil sie durch ein und denselben Rechtsanwalt vertreten waren und es ihnen sowohl in zeitlicher als auch in sachverhaltsmäßiger und rechtlicher Hinsicht möglich gewesen wäre, gegen die - vom Sachverhalt und der rechtlichen Beurteilung her - gleichgelagerten Bescheide eine gemeinsame Beschwerde einzubringen (vgl. VfSlg. 17.317/2004). In den zugesprochenen Kosten sind Umsatzsteuer in Höhe von € 600,- sowie der Ersatz der für jede Beschwerde entrichteten Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in Höhe von insgesamt € 2.200,- enthalten.
3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.