G105/10 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung
Spruch
Der Antrag wird zurückgewiesen.
Begründung:
1. Mit hg. Erkenntnis vom 4. März 2011, G105/10, wurde aufgrund eines Individualantrages die Wortfolge "und 48c" in §14 Abs1 Z4 Börsegesetz 1989, BGBl. 555, idF BGBl. I 22/2009 aufgehoben und ausgesprochen, dass die Aufhebung mit Ablauf des 31. Dezember 2011 in Kraft tritt.
2. Mit Schriftsatz vom 3. Juni 2011 stellt die (individual)antragstellende Gesellschaft den Antrag auf
"Richtigstellung bzw ergänzende Klarstellung des Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofes vom 4.3.2011, G105/10-9 durch den ausdrücklichen Ausspruch, dass die mit diesem Erkenntnis aufgehobene Gesetzesbestimmung auf die dem Individualantrag zugrunde liegende Verurteilung durch den Bescheid des UVS Wien vom 15.4.2010, GZ: UVS-06/FM/57/8515/2009-12, bzw auf ein aufgrund dieser Verurteilung eingeleitetes Entzugsverfahren der Börsezulassung gegen uns keine Anwendung findet."
Weder die Judikatur der Höchstgerichte (insbesondere des Obersten Gerichtshofes) noch die Lehre gäben klare Anhaltspunkte dafür, welche Wirkung die Aufhebung einer Norm als Ergebnis eines Individualantrages für den konkreten Anwendungsfall hätte.
Das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 4. März 2011, G105/10, enthalte keinen ausdrücklichen Ausspruch gemäß Art140 Abs7 B-VG dahingehend, dass die als verfassungswidrig erkannte Bestimmung auf die dem Individualantrag zugrunde liegende rechtskräftige Verurteilung gemäß §48c Börsegesetz 1989 (oder auf alle bis zum Zeitpunkt des Beginns der nichtöffentlichen Beratung ergangenen rechtskräftigen Verurteilungen) nicht mehr anzuwenden sei.
Nach Art140 Abs7 B-VG sei daher die aufgehobene Wortfolge grundsätzlich auf alle bis Ablauf der Frist verwirklichten Tatbestände anzuwenden; die Wiener Börse AG habe sohin Börsemitglieder von der Wiener Börse automatisch auszuschließen, sobald sie selbst oder einer ihrer Geschäftsleiter rechtskräftig gemäß §48c Börsegesetz 1989 bestraft würden.
Da der Verfassungsgerichtshof bislang lediglich ausdrücklich festgehalten habe, dass Individualanträgen kein begünstigter Anlassfall zugrunde liegt (VfSlg. 16.022/2000; 16.145/2001), sei davon auszugehen, dass eine Rückwirkung der Aufhebung eines Gesetzes auf Grund eines Individualantrages von einem entsprechenden ausdrücklichen Ausspruch abhängig sei. Mangels solchen Ausspruchs liege daher zunächst die Schlussfolgerung nahe, dass die aufgehobene Wortfolge weiterhin auch auf die letztlich dem Individualantrag zugrunde liegende Bestrafung des Vorstandsmitgliedes angewendet und zur Begründung eines Börseausschlussverfahrens herangezogen werden könne. Davon gehe offenbar auch die Wiener Börse AG aus.
Eine solche Auslegung würde allerdings dem Zweck eines Normenkontrollverfahrens auf Grund eines Individualantrages widersprechen, sodass der Wille des Verfassungsgerichtshofes zum Zeitpunkt der Fällung seiner Entscheidung nach Auffassung der (individual)antragstellenden Gesellschaft nur auf die Rückwirkung der Aufhebung auf den Individualantragsteller bzw. auf die dem Individualantrag zugrunde liegende Verurteilung des Vorstandsmitgliedes gerichtet gewesen sein kann. Der Verfassungsgerichtshof dürfte selbstverständlich von dieser Rückwirkung ausgegangen sein und deshalb einen Ausspruch nach Art. 140 Abs7 B-VG nicht für notwendig gehalten haben.
Der Wille des Verfassungsgerichtshofes sei aber insbesondere auf Grund des Fehlens gesicherter Rechtsprechung und einheitlicher Lehre zur Frage der Anlassfallwirkung von Individualanträgen nicht von vornherein klar erkennbar, was zu missverständlichen und insbesondere falschen Auslegungen des Erkenntnisses führen könne.
Eine Richtigstellung des Erkenntnisses iSd §419 ZPO iVm §35 Abs1 VfGG und §42 der Geschäftsordnung des Verfassungsgerichtshofes durch einen entsprechenden ausdrücklichen Ausspruch gemäß Art140 Abs7 B-VG sei daher notwendig, weil nur so die richtige, dem tatsächlichen Willen des Verfassungsgerichtshofes entsprechende Auslegung des Erkenntnisses gewährleistet werden könne und damit auch der Gefahr, dass auf Grund unrichtiger - vom Verfassungsgerichtshof so nicht intendierter - Schlüsse aus dem Erkenntnis der Rechtsschutz ausgehebelt werde, begegnet werden könne.
3. Gemäß §35 Abs1 VfGG sind die Bestimmungen der Zivilprozessordnung und des Einführungsgesetzes zur Zivilprozessordnung sinngemäß anzuwenden, soweit das VfGG keine anderen Bestimmungen enthält.
Gemäß §419 Abs1 ZPO kann das Gericht, das das Urteil gefällt hat, jederzeit Schreib- und Rechnungsfehler oder andere offenbare Unrichtigkeiten in dem Urteil oder in dessen Ausfertigungen oder Abweichungen der Ausfertigung von der gefällten Entscheidung berichtigen und die Angaben, die entgegen der Vorschrift des §417 Abs3 ZPO übergangen wurden, einfügen. Gemäß §42 Abs1 der Geschäftsordnung des Verfassungsgerichtshofes sind auf Antrag oder von Amts wegen den Parteien die ihnen zugestellten Ausfertigungen abzufordern und durch einen besonderen Zusatz zu berichtigen, wenn eine Ausfertigung Schreibfehler, Rechnungsfehler oder ähnliche offenbare Unrichtigkeiten aufweist.
Nach ständiger Judikatur des Verfassungsgerichtshofes ist eine Berichtigung iSd §35 Abs1 VfGG iVm §419 Abs1 ZPO nur zulässig, "wenn das, was ausgesprochen wurde, offensichtlich nicht dem Willen des Gerichtes zur Zeit der Fällung der Entscheidung entsprochen hat" (vgl. VfSlg. 16.639/2002 und die dort zitierte Vorjudikatur).
Diese Voraussetzung ist hier nicht gegeben, weil der Spruch des Erkenntnisses G105/10-9 dem Beschluss des Verfassungsgerichtshofes vom 4. März 2011, entspricht. Dabei ist zu berücksichtigen, dass ein Verfahren zum Entzug der Börsemitgliedschaft betreffend die antragstellende Gesellschaft weder im Zeitpunkt der damaligen Beschlussfassung noch im Zeitpunkt der Einbringung des Antrags auf Richtigstellung anhängig war und die im Antrag erwähnte Verurteilung den Verlust der Börsemitgliedschaft nur dann nach sich zieht, wenn sich die antragstellende Gesellschaft von dem betreffenden Vorstandsmitglied nicht trennt. Hingegen sieht keine Rechtsvorschrift die Berichtigung eines Erkenntnisses in dem Fall vor, dass dieses (hier: nach Auffassung der antragstellenden Gesellschaft) zu Unklarheiten in der Rechtsanwendung führt.
4. Soweit die antragstellende Gesellschaft eine "ergänzende Klarstellung" beantragt, ist darauf hinzuweisen, dass gemäß §423 Abs2 ZPO, den der Verfassungsgerichtshof gemäß §35 VfGG sinngemäß anzuwenden hat, Anträge auf Ergänzung eines Urteiles (§423 Abs1 ZPO) binnen 14 Tagen nach Zustellung dieses Urteiles beim Prozessgericht einzubringen sind. Der Beschluss, dessen "Ergänzung" beantragt wird, wurde der antragstellenden Gesellschaft am 11. April 2011 zugestellt; der mit 3. Juni 2011 datierte Ergänzungsantrag langte am 6. Juni 2011, und somit verspätet, beim Verfassungsgerichtshof ein. Angesichts dessen war nicht darauf einzugehen, ob das Begehren der antragstellenden Gesellschaft überhaupt Gegenstand einer Ergänzung iSd §423 ZPO sein konnte.
5. Der Antrag war daher zurückzuweisen.
6. Dies konnte gemäß §19 Abs3 Z2 litd und b VfGG in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.