JudikaturVfGH

B1447/10 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung

Entscheidung
20. September 2011

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Freiheit und Sicherheit (persönliche Freiheit) verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesministerin für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.620,-

bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Entscheidungsgründe:

I. Sachverhalt, Beschwerdevorbringen und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger von Tunesien, reiste am 2. April 2010 über Italien illegal nach Österreich ein und stellte am 19. Mai 2010 einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheid vom 5. August 2010 wies das Bundesasylamt diesen Antrag gemäß §5 Asylgesetz 2005 (im Folgenden: AsylG) zurück. Mit der Zurückweisung wurde eine durchsetzbare Ausweisung erlassen, woraufhin die Bezirkshauptmannschaft Baden mit Bescheid vom 6. August 2010 die Schubhaft gemäß §76 Abs2a Fremdenpolizeigesetz 2005 (im Folgenden: FPG) angeordnet hat.

2. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates im Land Niederösterreich vom 3. September 2010 wurde der vom Beschwerdeführer eingebrachten Schubhaftbeschwerde gemäß §83 FPG keine Folge gegeben und gleichzeitig festgestellt, dass die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorliegen.

Begründend wird ausgeführt, dass mit der zurückweisenden Entscheidung des Bundesasylamtes vom 5. August 2010 eine durchsetzbare Ausweisung verbunden worden sei, sodass die Fremdenpolizeibehörde gemäß §76 Abs2a FPG in diesem Fall die Schubhaft anzuordnen gehabt hätte. Die Anordnung der Schubhaft sei diesfalls nämlich gesetzlich zwingend vorgeschrieben, weswegen eine Verhältnismäßigkeitsprüfung zu unterbleiben habe. Weiter sei die Schubhaft weder von unverhältnismäßiger Dauer noch könne durch die Anordnung eines gelinderen Mittels sichergestellt werden, dass der Beschwerdeführer zur Durchführung der Abschiebung tatsächlich greifbar bleibe.

3. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in dem durch Art5 EMRK und durch Art1 des Bundesverfassungsgesetzes vom 29. November 1988 über den Schutz der persönlichen Freiheit verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Freiheit und Sicherheit (persönliche Freiheit) sowie in dem Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides beantragt wird. Begründend wird im Wesentlichen ausgeführt, dass die belangte Behörde bei ihrer Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Schubhaft keine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorgenommen habe.

4. Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt, eine Gegenschrift wurde nicht erstattet.

II. Rechtslage

Die maßgebliche Rechtslage stellt sich wie folgt dar:

§§76 und 83 FPG, BGBl. I 100/2005 idF BGBl. I 122/2009, lauten:

"Schubhaft und gelinderes Mittel

Schubhaft

§76. (1) Fremde können festgenommen und angehalten werden (Schubhaft), sofern dies notwendig ist, um das Verfahren zur Erlassung eines Aufenthaltsverbotes oder einer Ausweisung bis zum Eintritt ihrer Durchsetzbarkeit oder um die Abschiebung, die Zurückschiebung oder die Durchbeförderung zu sichern. Über Fremde, die sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten, darf Schubhaft verhängt werden, wenn auf Grund bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, sie würden sich dem Verfahren entziehen.

(2) Die örtlich zuständige Fremdenpolizeibehörde kann über einen Asylwerber oder einen Fremden, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, Schubhaft zum Zwecke der Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer Ausweisung gemäß §10 AsylG 2005 oder zur Sicherung der Abschiebung anordnen, wenn

1. gegen ihn eine durchsetzbare - wenn auch nicht rechtskräftige - Ausweisung (§10 AsylG 2005) erlassen wurde;

2. gegen ihn nach den Bestimmungen des Asylgesetzes 2005 ein Ausweisungsverfahren eingeleitet wurde;

3. gegen ihn vor Stellung des Antrages auf internationalen Schutz eine durchsetzbare Ausweisung (§§53 oder 54) oder ein durchsetzbares Aufenthaltsverbot (§60) verhängt worden ist oder

4. auf Grund des Ergebnisses der Befragung, der Durchsuchung und der erkennungsdienstlichen Behandlung anzunehmen ist, dass der Antrag des Fremden auf internationalen Schutz mangels Zuständigkeit Österreichs zur Prüfung zurückgewiesen werden wird.

(2a) Die örtlich zuständige Fremdenpolizeibehörde hat über einen Asylwerber Schubhaft anzuordnen, wenn

1. gegen den Asylwerber eine mit einer zurückweisenden Entscheidung gemäß §5 AsylG 2005 verbundene durchsetzbare Ausweisung erlassen wurde oder ihm gemäß §12a Abs1 AsylG 2005 ein faktischer Abschiebeschutz nicht zukommt;

2. eine Mitteilung gemäß §29 Abs3 Z4 bis 6 AsylG 2005 erfolgt ist und der Asylwerber die Gebietsbeschränkung gemäß §12 Abs2 AsylG 2005 verletzt hat;

3. der Asylwerber die Meldeverpflichtung gemäß §15a AsylG 2005 mehr als einmal verletzt hat;

4. der Asylwerber, gegen den nach den Bestimmungen des Asylgesetzes 2005 ein Ausweisungsverfahren eingeleitet wurde, der Mitwirkungsverpflichtung gemäß §15 Abs1 Z4 vorletzter Satz AsylG 2005 nicht nachgekommen ist, oder

5. der Asylwerber einen Folgeantrag (§2 Abs1 Z23 AsylG 2005) gestellt hat und der faktische Abschiebeschutz gemäß §12a Abs2 AsylG 2005 aufgehoben wurde,

und die Schubhaft für die Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer Ausweisung gemäß §10 AsylG 2005 oder zur Sicherung der Abschiebung notwendig ist, es sei denn, dass besondere Umstände in der Person des Asylwerbers der Schubhaft entgegenstehen.

(3) Die Schubhaft ist mit Bescheid anzuordnen; dieser ist gemäß §57 AVG zu erlassen, es sei denn, der Fremde befände sich bei Einleitung des Verfahrens zu seiner Erlassung aus anderem Grund nicht bloß kurzfristig in Haft. Nicht vollstreckte Schubhaftbescheide gemäß §57 AVG gelten 14 Tage nach ihrer Erlassung als widerrufen.

(4) Hat der Fremde einen Zustellungsbevollmächtigten, so gilt die Zustellung des Schubhaftbescheides auch in dem Zeitpunkt als vollzogen, in dem eine Ausfertigung dem Fremden tatsächlich zugekommen ist. Die Zustellung einer weiteren Ausfertigung an den Zustellungsbevollmächtigten ist in diesen Fällen unverzüglich zu veranlassen.

(5) Wird ein Aufenthaltsverbot oder eine Ausweisung durchsetzbar und erscheint die Überwachung der Ausreise des Fremden notwendig, so gilt die zur Sicherung des Verfahrens angeordnete Schubhaft ab diesem Zeitpunkt als zur Sicherung der Abschiebung verhängt.

(6) Stellt ein Fremder während der Anhaltung in Schubhaft einen Antrag auf internationalen Schutz, so kann diese aufrecht erhalten werden. Liegen die Voraussetzungen des Abs2 vor, gilt die Schubhaft als nach Abs2 verhängt. Das Vorliegen der Voraussetzungen für die Anordnung der Schubhaft gemäß Abs2 ist mit Aktenvermerk festzuhalten.

(7) Die Anordnung der Schubhaft kann mit Beschwerde gemäß §82 angefochten werden.

Entscheidung durch den unabhängigen Verwaltungssenat

§83. (1) Zur Entscheidung über eine Beschwerde gemäß §82 Abs1 Z2 oder 3 ist der unabhängige Verwaltungssenat zuständig, in dessen Sprengel die Behörde ihren Sitz hat, welche die Anhaltung oder die Schubhaft angeordnet hat. In den Fällen des §82 Abs1 Z1 richtet sich die Zuständigkeit nach dem Ort der Festnahme.

[…]

(4) Sofern die Anhaltung noch andauert, hat der unabhängige Verwaltungssenat jedenfalls festzustellen, ob zum Zeitpunkt seiner Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorliegen. Im Übrigen hat er im Rahmen der geltend gemachten Beschwerdepunkte zu entscheiden."

III. Erwägungen

Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. Gemäß §76 Abs2a Z1 erster Fall FPG (auf den sich die nachprüfende Kontrolle der belangten Behörde bezieht) hat die örtlich zuständige Fremdenpolizeibehörde die Verhängung der Schubhaft über einen Asylwerber anzuordnen, wenn gegen ihn eine mit einer zurückweisenden Entscheidung gemäß §5 AsylG verbundene durchsetzbare Ausweisung erlassen wurde. Des Weiteren ist nach der zitierten Bestimmung die Schubhaft nur dann anzuordnen, wenn diese für die Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer Ausweisung oder zur Sicherung der Abschiebung notwendig ist, es sei denn, dass besondere Umstände in der Person des Asylwerbers der Schubhaft entgegenstehen.

Im vorliegenden Fall lag im Zeitpunkt der Verhängung der Schubhaft durch die Bezirkshauptmannschaft Baden eine den Antrag auf internationalen Schutz zurückweisende Entscheidung gemäß §5 AsylG vor, die mit einer durchsetzbaren (vgl. §36 Abs1 und 4 AsylG) Ausweisung verbunden war. Die belangte Behörde konnte ihren Bescheid somit denkmöglich auf §76 Abs2a Z1 FPG stützen.

2. Der Bescheid einer Verwaltungsbehörde, mit dem darüber entschieden wird, ob eine Festnahme oder Anhaltung einer Person rechtmäßig war oder ist, verletzt das durch Art1 ff. des Bundesverfassungsgesetzes über den Schutz der persönlichen Freiheit und durch Art5 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Freiheit und Sicherheit (persönliche Freiheit), wenn er gegen die verfassungsgesetzlich festgelegten Erfordernisse der Festnahme bzw. Anhaltung verstößt, wenn er in Anwendung eines verfassungswidrigen, insbesondere den genannten Verfassungsvorschriften widersprechenden Gesetzes erlassen wurde oder wenn er gesetzlos oder in denkunmöglicher Anwendung einer verfassungsrechtlich unbedenklichen Rechtsgrundlage ergangen ist; ein Fall, der nur dann vorläge, wenn die Behörde einen so schweren Fehler begangen hätte, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre (VfSlg. 13.708/1994, 15.131/1998, 15.684/1999 und 16.384/2001).

Gegen die angewendete Bestimmung des §76 Abs2a Z1 erster Fall FPG sind beim Verfassungsgerichtshof anlässlich des vorliegenden Beschwerdefalles keine Bedenken entstanden, zumal sie - im Lichte des Bundesverfassungsgesetzes vom 29. November 1988 über den Schutz der persönlichen Freiheit - einer verfassungskonformen Interpretation zugänglich ist.

Wie der Verfassungsgerichtshof nämlich in seinem Erkenntnis VfSlg. 17.891/2006 zu §76 Abs2 Z4 FPG klargestellt hat, sind die Behörden unter Bedachtnahme auf das verfassungsrechtliche Gebot der Verhältnismäßigkeit verpflichtet, im Einzelfall die verfassungsrechtlich gebotene Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der Sicherung des Verfahrens und der Schonung der persönlichen Freiheit des Betroffenen vorzunehmen.

Nichts anderes gilt für die Bestimmung des §76 Abs2a FPG (vgl. schon VfGH 2.5.2011, B1700/10, und VwGH 26.8.2010, 2010/21/0234): Dass der Gesetzgeber in dieser Bestimmung - im Unterschied zu §76 Abs1 und 2 FPG - einleitend vorsieht, dass die Behörde die Schubhaft anzuordnen "hat", entbindet die Vollzugsbehörden - entgegen der Auffassung der belangten Behörde - im Einzelfall nicht von der gebotenen Verhältnismäßigkeitsprüfung (vgl. auch RV 330 BlgNR 24. GP, 32). Sieht doch §76 Abs2a FPG selbst im letzten Absatz vor, dass die Schubhaft - neben den speziellen Voraussetzungen der Ziffern 1 bis 5 - nur dann zu verhängen ist, wenn sie für die Sicherung des Ausweisungsverfahrens oder zur Sicherung der Abschiebung "notwendig ist, es sei denn, dass besondere Umstände in der Person des Asylwerbers der Schubhaft entgegenstehen".

Indem die belangte Behörde aber vermeint, dass die Verhängung der Schubhaft bei Vorliegen der Voraussetzungen des §76 Abs2a Z1 erster Fall FPG ohne Überprüfung deren Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit von vornherein zwingend ist, hat sie dieser Bestimmung einen verfassungswidrigen Inhalt unterstellt.

IV. Ergebnis und damit zusammenhängende Ausführungen

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Freiheit und Sicherheit (persönliche Freiheit) verletzt worden.

Der angefochtene Bescheid war daher aufzuheben.

2. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 400,- sowie der Ersatz der gemäß §17a VfGG entrichteten Eingabengebühr enthalten.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

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