V101/11 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung
Spruch
Dem Antrag auf Erlassung einer einstweiligen Anordnung wird keine Folge gegeben.
Begründung:
I.
1. Im Rahmen der gemäß §14 des Bundesgesetzes zur Regelung des Glücksspielwesens (Glücksspielgesetz) in der Fassung BGBl. I 111/2010 vorgesehenen öffentlichen Interessentensuche zur Konzessionserteilung zur Durchführung bestimmter Lotterien veröffentlichte die Bundesministerin für Finanzen auf der Homepage des Bundesministeriums für Finanzen am 6. Juni 2011 u.a. die "Unterlage zur Teilnahme an der öffentlichen Interessentensuche 'Lotterienkonzession' ". Diese enthält nähere Bestimmungen über das Verwaltungsverfahren zur Vergabe der österreichischen Lotterienkonzession.
2. Mit ihrem auf Art139 B-VG gestützten Antrag begehrt die antragstellende Gesellschaft diese, ihrem Vorbringen nach als Verordnung zu qualifizierende Unterlage als gesetzwidrig aufzuheben. Gleichzeitig stellt sie einen Antrag auf "Erlassung einer positiven einstweiligen Anordnung qua Unionsrecht" und führt zur Antragslegitimation Folgendes aus:
"1. ALLGEMEINES
Der einstweilige Rechtsschutz vor dem Verfassungsgerichtshof beschränkt sich derzeit auf die Möglichkeit, einer Bescheidbeschwerde aufschiebende Wirkung zuzuerkennen (§85 Abs2 VfGG). Uns ist bewusst, dass einem Individualantrag keine aufschiebende Wirkung zuerkannt werden kann. Uns ist weiters bewusst, dass dem VfGG die Möglichkeit, eine positive einstweilige Anordnung - dh eine Anordnung, die einer Verfahrenspartei einstweilen zu einem positiven Tun verpflichtet - fremd ist.
2. ZUR ZULÄSSIGKEIT EINER POSITIVEN EINSTWEILIGEN ANORDNUNG
2.1. EuGH-Urteil vom 19.06.1990, Rs C-213/89 'Factortame'
Diese Rechtsschutzlücken sind unserer Ansicht nach
unionsrechtswidrig: Der EuGH hat nämlich in seinem Urteil vom
19.06.1990, Rs C-213/89 'Factortame', ausgesprochen, 'dass jede
Bestimmung einer nationalen Rechtsordnung ... mit den in der Natur
des Gemeinschaftsrechts liegenden Erfordernissen unvereinbar wäre,
die dadurch zu einer Abschwächung der Wirksamkeit des
Gemeinschaftsrechts führen würde, dass dem ... zuständigen Gericht
die Befugnis abgesprochen wird, bereits zum Zeitpunkt dieser Anwendung alles Erforderliche zu tun, um diejenigen innerstaatlichen Rechtsvorschriften auszuschalten, die unter Umständen ein wenn auch nur vorübergehendes Hindernis für die volle Wirksamkeit der Gemeinschaftsnormen bilden' (EuGH 19.06.1990, Rs C-213/89 'Factortame', Rn 20).
Die volle Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts wird - nach Ansicht des EuGH - auch dann abgeschwächt, wenn ein Gericht durch eine Vorschrift des nationalen Rechts daran gehindert wird, einstweilige Anordnungen zu erlassen, 'um die volle Wirksamkeit der späteren Gerichtsentscheidung über das Bestehen der aus dem Gemeinschaftsrecht hergeleiteten Rechte sicherzustellen' (EuGH 19.06.1990, Rs C-213/89 'Factortame', Rn 21).
Dies bedeutet nicht nur, dass die dem Gemeinschaftsrecht widersprechenden Normen unangewendet bleiben müssen, sondern auch, dass das zuständige Gericht die zur Sicherstellung der vollen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts erforderlichen einstweiligen Anordnungen treffen darf und soll; dies auch dann, wenn eine explizite gesetzliche Ermächtigung dazu fehlt (vgl Fasching/Schwartz, Verwaltungsverfahrensrecht im Überblick4 [2009] 23). Das nationale Recht muss also einstweilige Maßnahmen zur Verfügung stellen, welche die Einhaltung unionsrechtlicher Vorgaben ausreichend abzusichern vermögen.
2.2. Grenzüberschreitender Bezug
Der - für die Anwendbarkeit des Unionsrechts erforderliche - grenzüberschreitende Bezug ist gegeben. Dies aus folgenden Gründen:
a. Wir hatten vor, gemeinsam mit einem Unternehmen anzubieten, das Lotterien in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union anbietet. Die hier in Rede stehende Verfahrensunterlage, die Bietergemeinschaften nicht zulässt, verhindert dies. Wir sind daher durch die Verfahrensunterlage daran gehindert, mit dem Lotterienunternehmen eines anderen Mitgliedstaats zusammenzuarbeiten und uns gemeinsam um die ausgeschriebene Lotterienkonzession zu bewerben.
b. Im Fall der Konzessionserteilung haben wir vor, unsere Lotteriendienstleistungen auch grenzüberschreitend zugänglich zu machen: Die Teilnahme an unseren terrestrischen Lotterien (zB Klassenlotterie, Lotto 6 aus 45) soll ebenso wie an unseren Elektronischen Lotterien auch Einwohnern aus anderen Mitgliedstaaten der EU zugänglich sein.
c. Darüber hinaus wollen wir im Fall der Konzessionserteilung unsere Lotteriendienstleistungen auch aktiv - via Brief, Telefax und e-mail - im EU-Ausland anbieten. Unsere Elektronischen Lotterien werden für jeden Bürger eines EU-Mitgliedstaats abrufbar und zugänglich sein.
Die vorstehenden Ausführungen zeigen, dass ein grenzüberschreitender Bezug jedenfalls besteht. Dies schon deshalb, weil ein - untrennbarer - Teil der zu vergebenden Lotterienkonzession die (via Internet anzubietenden) Elektronischen Lotterien sind. Auch für diese herrscht Betriebspflicht. Unser Glücksspielangebot ist daher - sofern wir die Konzession erhalten - ex lege grenzüberschreitend angelegt und grenzüberschreitend zugänglich.
2.3. Inhalt der positiven einstweiligen Anordnung
Im vorliegenden Fall droht uns aus dem Umstand, dass die BMF das Verfahren zur Vergabe der einzigen österr Lotterienkonzession aufgrund der hier in Rede stehenden - qualifiziert rechtswidrigen - Verfahrensunterlage durchführt, ein unmittelbarer und unverhältnismäßiger Nachteil.
Die BMF plant offenbar, die Konzession in einem 'Eilverfahren' durchzuführen, das seinesgleichen im öster Recht sucht: Die Bekanntmachung erfolgte am 06.06.2011, der Konzessionsantrag musste bis 01.08.2011 gestellt werden, die Konzessionserteilung ist bis mit Ende September 2011 in Aussicht genommen. Innerhalb von bloß 3,5 Monaten soll eine Konzession ausgeschrieben und vergeben werden, die für die nächsten 15 Jahre das ausschließliche Recht verleiht, in Österreich mit Lotterien (milliardenschwere) Geschäfte zu machen. Die Vorbereitung eines ausreichend belegten und aussichtsreichen Konzessionsantrags innerhalb dieser kurzen Zeit ist schlicht unmöglich. Solch kurze Antragsfristen sind auch in ganz Europa einzigartig; sie sind diskriminierend. Nach den uns zur Verfügung stehenden Informationen wurde diese enge Fristsetzung und der Zeitpunkt der Konzessionsvergabe überdies mit Vorbedacht in einen Zeitraum terminisiert, in dem der Verfassungsgerichtshof nicht tagt. Ein anderer sachlicher Grund für diese Hast ist nicht ersichtlich; die derzeit gültige Konzession läuft erst im Herbst 2012 aus.
Ohne den sofortigen Stopp des Konzessionsverfahrens wird die BMF - ihrem eigenen Plan nach - die Lotterienkonzession in wenigen Wochen für die nächsten 15 Jahre vergeben, ohne dass wir jemals eine faire Chance gehabt hätten, uns darum zu bewerben. Wir stellen daher den
Antrag,
der Verfassungsgerichtshof möge der BMF untersagen, das Verfahren zur Vergabe der Lotterienkonzession bis zur Entscheidung über den gegenständlichen Individualantrag fortzusetzen und die Konzession zu erteilen."
3. Die Bundesministerin für Finanzen erstattete eine Stellungnahme, in der sie beantragt, dem Antrag auf Erlassung einer einstweiligen Anordnung keine Folge zu geben.
II.
Dem Antrag auf Erlassung einer einstweiligen Anordnung ist aus folgenden Gründen keine Folge zu geben:
1. Das VfGG hat bei der Regelung des Verfahrens über die Anfechtung der Gesetzmäßigkeit von Verordnungen einem Antrag im Sinne des Art139 Abs1 letzter Satz B-VG eine aufschiebende Wirkung nicht zuerkannt und in diesem Fall auch die Erlassung einer einstweiligen Anordnung - wie sie von der antragstellenden Gesellschaft begehrt wird - durch den Verfassungsgerichtshof nicht vorgesehen. Dies ist, wie die Regelung des §57 Abs3 VfGG, welche den Antrag eines Gerichts im Sinne des Art139 Abs1 erster Satz B-VG betrifft, zeigt und wie auch die gleichzeitige Neuregelung der aufschiebenden Wirkung von Beschwerden durch §85 VfGG erkennen lässt, keine Gesetzeslücke, sondern eine beabsichtigte, sich aus den Besonderheiten des Art139 B-VG erklärende Regelung (vgl. zur aufschiebenden Wirkung schon den hg. Beschluss VfSlg. 13.706/1994 unter Hinweis auf die Vorjudikatur).
Im innerstaatlichen Recht ist somit für das Verfahren nach Art139 B-VG die Erlassung einer einstweiligen Anordnung weder gegenüber dem Antragsteller nach Art139 Abs1 letzter Satz B-VG noch gegenüber der Allgemeinheit vorgesehen; die Befugnis dazu lässt sich auch nicht im Wege einer analogen Anwendung des §85 VfGG herleiten.
2. Die antragstellende Gesellschaft begründet ihren Antrag im Wesentlichen damit, dass die von ihr bekämpfte Regelung dem Gesetz und dem Unionsrecht widerspreche und der Verfassungsgerichtshof daher "die zur Sicherstellung der vollen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts erforderlichen Anordnungen treffen darf und soll; dies auch dann, wenn eine explizite gesetzliche Ermächtigung dazu fehlt".
3. Selbst wenn man von einem Widerspruch zwischen der "Unterlage zur Teilnahme an der öffentlichen Interessentensuche 'Lotterienkonzession' " und dem Unionsrecht ausginge, ist für die antragstellenden Gesellschaft aus dem Recht der Union kein Anspruch auf Erlassung einer einstweiligen Anordnung abzuleiten:
3.1. Nach dem von der Judikatur des EuGH entwickelten Prinzip des Anwendungsvorranges des Unionsrechtes hat jedes innerstaatliche Organ, das über eine Rechtssache abzusprechen oder die Rechtmäßigkeit eines behördlichen Vorgehens zu beurteilen hat, den Anwendungsvorrang des Unionsrechtes im Rahmen seiner Zuständigkeit zu beachten und gegebenenfalls die Anwendung der innerstaatlichen Norm zu unterlassen (EuGH 9.3.1978, Rs. 106/77, Simmenthal II, Slg. 1978, 629 ff., Rz 21). Der Verfassungsgerichtshof hat in ständiger Rechtsprechung betont, dass auch er den Anwendungsvorrang des Unionsrechtes zu beachten habe (z.B. VfSlg. 14.805/1997; 14.951/1997; 15.036/1997; 15.215/1998). Er hat aber auch - unter Hinweis auf das oben zitierte Urteil des EuGH - festgehalten, dass er über die Frage, ob eine österreichische Rechtsvorschrift infolge des Anwendungsvorranges unmittelbar anwendbaren Unionsrechtes unangewendet zu bleiben habe, nur dann selbst zu entscheiden habe, wenn die Frage für seine Entscheidung relevant sei, was für sich nach innerstaatlichem Recht zu beurteilen sei (VfSlg. 15.215/1998 unter Verweis auf VfSlg. 14.886/1997).
3.2. Nach der Judikatur des EuGH zum Provisorialrechtsschutz "haben die innerstaatlichen Gerichte [...] den Rechtsschutz zu gewährleisten, der sich für die einzelnen aus der unmittelbaren Wirkung des Gemeinschaftsrechtes ergibt" (Urteil vom 19.6.1990, Rs. C-213/89, Factortame, Slg. 1990, I-2433 (2466 ff.), Rz 19 unter Verweis auf zwei Urteile aus dem Jahr 1980). In der jüngeren das Problem des Provisorialrechtsschutzes betreffenden Rechtsprechung des EuGH wird diese grundsätzliche Verpflichtung der nationalen Gerichte folgendermaßen umschrieben: "Im übrigen hat das nationale Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit Gemeinschaftsrecht anzuwenden hat, dessen volle Wirkung sicherzustellen." (EuGH 21.2.1991, Rs. C-143/88 und C-92/89, Zuckerfabrik Süderdithmarschen, Slg. 1991, I-415 (I-534 ff.), Rz 30; EuGH 9.11.1995, Rs. C-465/93, Atlanta Fruchthandelsgesellschaft mbH, Slg. 1995, I-3761 (I-3781 ff.), Rz 42; EuGH 13.3.2007, C-432/05, Unibet Ltd., Slg. 2007, I-02271, Rz 67). Im Urteil Factortame heißt es dazu in Rz 21 wörtlich: "Die volle Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechtes würde auch dann abgeschwächt, wenn ein mit einem nach Gemeinschaftsrecht zu beurteilenden Rechtsstreit befasstes Gericht durch eine Vorschrift des nationalen Rechts daran gehindert werden könnte, einstweilige Anordnungen zu erlassen, um die volle Wirksamkeit der späteren Gerichtsentscheidung über das Bestehen der aus dem Gemeinschaftsrecht hergeleiteten Rechte sicherzustellen."
3.3. Der Verfassungsgerichtshof hat in seiner Judikatur zu Individualanträgen nach Art140 B-VG - welche auch auf den hier vorliegenden Individualantrag nach Art139 B-VG übertragbar ist - festgehalten, dass ein solcher Antrag im Hinblick auf den auch vom Gerichtshof wahrzunehmenden Anwendungsvorrang des Unionsrechtes u.a. dann unzulässig wäre, wenn der bekämpften Norm unmittelbar anwendbares Unionsrecht entgegenstünde, weil in diesem Fall auszuschließen wäre, dass der Antragsteller durch die bekämpfte Norm in seinen Rechten verletzt sein könnte. Anders als bei der Entscheidung der Präjudizialitätsfrage in von Amts wegen eingeleiteten Normenprüfungsverfahren könne ein Individualantrag nur dann als zulässig angesehen werden, wenn feststehe, dass der Anwendung der bekämpften Norm nicht unmittelbar anwendbares Unionsrecht entgegenstehe (vgl. VfSlg. 15.771/2000 mit Hinweisen auf Literatur). Nur im Rahmen der Prüfung dieser Prozessvoraussetzung für ein Verfahren, das der Sache nach Fragen des innerstaatlichen Verfassungsrechtes betrifft, kann somit die Frage der Unionsrechtskonformität bzw. -widrigkeit eine Rolle spielen.
3.4. Im Zusammenhang mit der Klärung dieser Frage kann aber aus dem Unionsrecht für die Gewährung von Provisorialrechtsschutz, der seinem Wesen nach dazu bestimmt ist, die Wirkungen einer Endentscheidung in der Sache vorab zu sichern, nicht jedoch das endgültige Prozessziel vorwegzunehmen, weder eine Berechtigung noch gar eine Verpflichtung hergeleitet werden: Müsste nämlich zur Klärung der Frage, ob die antragstellende Gesellschaft von der bekämpften Norm betroffen ist, ein Vorabentscheidungsverfahren nach Art267 AEUV beantragt und durchgeführt werden und käme der EuGH schließlich zum Ergebnis, dass der von der antragstellenden Gesellschaft bekämpften Regelung unmittelbar anwendbare unionsrechtliche Vorschriften entgegenstehen, dann würde aus der Sicht des vorliegenden Antrags (lediglich) feststehen, dass die bekämpfte innerstaatliche Vorschrift nicht anzuwenden und der Antrag daher mangels Betroffenheit der antragstellenden Gesellschaft zurückzuweisen ist. Käme der EuGH hingegen zum gegenteiligen Ergebnis, so hätte der Verfassungsgerichtshof ebenfalls in der Sache selbst keine unionsrechtliche Frage, sondern lediglich die in seine Zuständigkeit fallenden verfassungsrechtlichen Fragen zu prüfen.
3.5. Da somit im Hinblick auf die vom Verfassungsgerichtshof im Rahmen seiner Zuständigkeit wahrzunehmenden Rechtswidrigkeiten die Gewährung von Provisorialrechtsschutz im vorliegenden Fall bei keiner denkbaren Konstellation der Durchsetzung von Unionsrecht im Rahmen einer dem Gerichtshof obliegenden Sachentscheidung dient, erweist sich der darauf gerichtete Antrag als unzulässig (vgl. VfSlg. 16.127/2001, 17.722/2005).
4. Bei diesem Ergebnis erübrigt es sich zu prüfen, ob aus dem Unionsrecht allgemein eine Verpflichtung des Verfassungsgerichtshofes zur Erlassung einstweiliger Anordnungen abzuleiten wäre, obwohl im innerstaatlichen Recht eine gesetzliche Ermächtigung zur Setzung entsprechender Akte eines Provisorialrechtsschutzes nicht vorhanden ist.
III.
Da somit die Voraussetzungen für die Erlassung einer einstweiligen Anordnung durch den Verfassungsgerichtshof nicht vorliegen, ist dem darauf abzielenden Antrag keine Folge zu geben. Dies ist gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen worden.