JudikaturVfGH

U75/11 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung

Entscheidung
28. November 2011

Spruch

I.1. Der Beschwerdeführer ist durch die angefochtene Entscheidung, soweit damit seine Beschwerde an den Asylgerichtshof gegen die mit Bescheid des Bundesasylamtes verfügte Ausweisung abgewiesen wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art8 EMRK verletzt worden.

Die Entscheidung wird insoweit aufgehoben.

2. Der Bund (Bundeskanzler) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.620,-- bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu bezahlen.

II. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

Entscheidungsgründe:

I. Sachverhalt, Beschwerdevorbringen und Vorverfahren

1.1. Der Beschwerdeführer ist indischer Staatsangehöriger und stellte am 2. Mai 2006 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz (im Folgenden auch als Asylantrag bezeichnet). Diesen begründete er im Wesentlichen damit, dass er von Anhängern politischer Parteien mit dem Umbringen bedroht sowie von der Polizei mehrmals verhaftet und misshandelt worden sei.

1.2. Das Bundesasylamt wies den Antrag mit Bescheid vom 5. Oktober 2006 gemäß §3 Abs1 Asylgesetz 2005, BGBl. I 100/2005, ab und erkannte dem Einschreiter den Status des Asylberechtigten nicht zu (Spruchpunkt I.); weiters wurde ihm gemäß §8 Abs1 Z1 leg.cit. der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Indien nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.), und wurde er gemäß §10 Abs1 Z2 leg.cit. aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Indien ausgewiesen (Spruchpunkt III.).

1.3. Dagegen erhob der Einschreiter mit Schreiben vom 24. Oktober 2006 Berufung (nunmehr: Beschwerde), die der Asylgerichtshof mit Erkenntnis vom 12. November 2010 gemäß §§3, 8 und 10 AsylG 2005 abwies.

1.3.1. Im Erkenntnis kommt der Asylgerichtshof mit näherer Begründung zum Ergebnis, dass keine Verfolgung des Beschwerdeführers im Herkunftsstaat glaubhaft gemacht worden oder eine solche anders hervorgekommen sei. Deshalb wies er die Beschwerde gegen die Abweisung des Asylantrags als unbegründet ab.

1.3.2. Auch in Zusammenhang mit der Nichtzuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat wurde vom Asylgerichtshof die Beschwerde als unbegründet abgewiesen.

1.3.3. Gleiches erfolgte hinsichtlich der Verfügung der Ausweisung. Dazu heißt es in der Begründung des Asylgerichtshofes unter anderem:

"In gegenständlichem Fall brachte der BF

[= Beschwerdeführer] vor, in Österreich eine Lebensgefährtin, Frau [...], und einen gemeinsamen Sohn, [...], der am 24.3.2010 geboren worden wäre, zu haben. Da der BF dem Asylgerichtshof jedoch genauere Angaben betreffend Beginn und Dauer dieser Lebensgemeinschaft vorenthielt und auch jeglichen Nachweis bezüglich der Geburt seines Sohnes, beispielsweise eine Geburtsurkunde zum Beweis seiner Vaterschaft, schuldig blieb, konnte der BF folglich das in Art8 EMRK geforderte Vorliegen eines Familienlebens im Sinne des Art8 EMRK nicht ausreichend belegen.

Sollten allerdings tatsächlich familiäre Anknüpfungspunkte vorliegen, so ist darauf hinzuweisen, dass die vom BF behauptete Lebensgemeinschaft offenbar (zumal Hinweise darauf in den Niederschriften vor dem Bundesasylamt fehlen) erst zu einem Zeitpunkt eingegangen wurde, zu dem der Asylantrag bereits mit erstbehördlichem Bescheid abgewiesen und sein Beschwerdeverfahren anhängig war. Infolge dessen war der aufenthaltsrechtliche Status des BF zu diesem Zeitpunkt völlig ungewiss und konnte er bei Eingehen der Lebensgemeinschaft und auch bei der Geburt seines Sohnes im März dieses Jahres nicht davon ausgehen, auch bei negativem Ausgang seines Asylverfahrens gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin und seinem Sohn weiterhin in Österreich leben zu können."

2. Gegen die Entscheidung des Asylgerichtshofes

richtet sich die auf Art144a B-VG gestützte Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof. Der Beschwerdeführer macht darin die Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes BGBl. 390/1973) sowie auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art8 EMRK geltend und beantragt die kostenpflichtige Aufhebung der angefochtenen Entscheidung.

3. Der Asylgerichtshof legte die Verwaltungs- und Gerichtsakten vor und erstattete eine Gegenschrift, in der er beantragt, die Beschwerde als unbegründet abzuweisen.

II. Erwägungen

Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

A. Die Beschwerde ist begründet, soweit sie sich

gegen die verfügte Ausweisung wendet.

1. In der Sache

1. Ein Eingriff in das durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte - unter Gesetzesvorbehalt stehende - Recht ist dann verfassungswidrig, wenn der ihn verfügende Bescheid ohne jede Rechtsgrundlage ergangen ist, auf einer dem Art8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht oder wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheides eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hat; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn die Behörde einen so schweren Fehler begangen hat, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn sie der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art8 Abs1 EMRK widersprechenden und durch Art8 Abs2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hat (vgl. VfSlg. 11.638/1988, 15.051/1997, 15.400/1999, 16.657/2002). Dieser Maßstab gilt auch für Entscheidungen des Asylgerichtshofes (s. etwa VfSlg. 18.832/2009).

2. Dem belangten Asylgerichtshof ist ein in die Verfassungssphäre reichender Fehler vorzuwerfen:

2.1.1. Im Verfahren über die Berufung/Beschwerde des Einschreiters erging mit Schreiben des Asylgerichtshofes vom 5. August 2010 eine (auf die §§37 und 39 Abs2 AVG iVm §23 Abs1 Asylgerichtshofgesetz gestützte) "Verfahrensanordnung betreffend Aufforderung zur schriftlichen Stellungnahme zur Situation in Österreich und Einräumung des Parteiengehörs zur aktuellen Lage im Herkunftsstaat". Die ersten drei Fragen dieser Aufforderung lauten:

"1. Sind Sie in Österreich verheiratet oder leben Sie hier in einer eingetragenen Partnerschaft oder ständigen Lebensgemeinschaft?

2. Haben Sie in Österreich lebende Kinder?

3. Haben Sie in Österreich andere nahe Verwandte oder Verwandte, von denen Sie finanziell abhängig sind?"

In Beantwortung der Aufforderung übermittelte der Einschreiter dem Asylgerichtshof ein selbst verfasstes Schreiben, in welchem es unter anderem heißt:

"Antwort zur Frage 1:

Möchte bekannt geben das[s] ich eine Lebensgemeinschaft habe und wir heiraten möchten.

Antwort zur Frage 2:

Ja ich habe einen Sohn geboren am 24.3.2010.

Antwort zur Frage 3:

Habe keine Verwandte"

Auch in Beantwortung von Frage 13 der Aufforderung ("Haben Sie eine andere besondere Bindung an Österreich, die Sie anführen möchten?") erwähnte der Einschreiter nochmals ausdrücklich:

"Meine Bindung an Österreich ist mein Sohn ...[Name] und meine Lebensgefährtin ...[Name]!"

2.1.2. Im Aufforderungsschreiben des Asylgerichtshofes findet sich hinsichtlich der Fragen 1., 2. und 3. folgender Hinweis:

"Werden diese Fragen nicht mit Bescheinigungsmitteln unterlegt und unter Nennung der Namen und Adresse der jeweiligen Familienangehörigen beantwortet, geht der Asylgerichtshof davon aus, dass sich keine Familienangehörigen im Bundesgebiet befinden."

2.2. Offensichtlich unter Zugrundelegung dieses Hinweises kommt der Asylgerichtshof in der angefochtenen Entscheidung zum Ergebnis, dass der Einschreiter "das in Art8 EMRK geforderte Vorliegen eines Familienlebens im Sinne des Art8 EMRK nicht ausreichend belegen (konnte)". Die Behörde stützt diese Auffassung darauf,

Keiner der beiden Umstände ist aber ein tauglicher Grund, um die Existenz entsprechender familiärer Bindungen bei der Interessenabwägung nach Art8 EMRK zu ignorieren:

Dass der Einschreiter keine Angaben über den Beginn und die Dauer der Lebensgemeinschaft machte, kann ihm schon deshalb nicht zum Nachteil gereichen, weil der Asylgerichtshof nicht danach gefragt hatte - weder in der (oben wörtlich zitierten) Frage 1 noch in anderen Fragen der Aufforderung.

Aber auch das Unterbleiben der Übermittlung von

Belegen über die Geburt seines Sohnes durfte nicht zu der (im Aufforderungsschreiben angekündigten) Fiktion führen, dass der Asylgerichtshof bei fehlender Vorlage von Bescheinigungsmitteln "davon aus(geht), dass sich keine Familienangehörigen im Bundesgebiet befinden".

Dies verbietet sich aufgrund des aus §37 AVG erfließenden Grundsatzes der materiellen Wahrheit (wonach die Behörde den wahren [objektiven] Sachverhalt festzustellen hat) in Verbindung mit der in §39 Abs2 AVG normierten Offizialmaxime (der zufolge die Behörde von Amts wegen den für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhalt zu ermitteln hat).

In Anbetracht dessen, dass der Einschreiter in seiner Beantwortung der Aufforderung unmissverständlich vorgebracht hat, in Österreich eine Lebensgefährtin und einen Sohn zu haben (und überdies deren Namen in der Antwort auf Frage 13 angeführt hat), wäre es Aufgabe des Asylgerichtshofes gewesen, eine entsprechende Ermittlungstätigkeit (etwa durch Anforderung einer Geburtsurkunde bzw. eines Meldezettels) zu entfalten, um den beiden eben erwähnten Verfahrensgrundsätzen - und in weiterer Folge der durch Art8 EMRK gebotenen Berücksichtigung eines allfälligen Familienlebens des Einschreiters - Rechnung zu tragen.

Aus dem Gerichtsakt ist jedoch kein weiterer Verfahrensschritt seitens des Asylgerichtshofes zwischen dem Einlangen des Antwortschreibens des Beschwerdeführers und der Beschlussfassung über die angefochtene Entscheidung ersichtlich. Nicht nachvollziehbar ist unter diesen Umständen auch, dass der Asylgerichtshof (unter Berufung auf §67d AVG iVm §23 Asylgerichtshofgesetz sowie auf §41 Abs7 Asylgesetz 2005) von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen hat.

2.3. Unzureichend für eine zu Lasten des Beschwerdeführers ausfallende Interessenabwägung nach Art8 EMRK ist auch das vom Asylgerichtshof - gleichsam eventualiter ("sollten allerdings tatsächlich familiäre Anknüpfungspunkte vorliegen") - ins Treffen geführte Argument, dass die Lebensgemeinschaft offenbar erst zu einem Zeitpunkt eingegangen worden sei, zu dem der Asylantrag bereits mit Bescheid des Bundesasylamtes abgewiesen und das Beschwerdeverfahren (vor dem Asylgerichtshof) anhängig war, der Aufenthaltsstatus des Einschreiters infolgedessen ungewiss gewesen sei und er deshalb nicht auf eine Fortsetzung des Zusammenlebens mit Lebensgefährtin und Sohn vertrauen habe können (Zitat s. oben, Pkt. I.1.3.3).

Zwar ist die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die betreffende Person ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst war, bei der Abwägung mit in Betracht zu ziehen (s. etwa

VfSlg. 18.832/2009, S 1142, und die dort zitierte Judikatur des EGMR). Das enthebt den Asylgerichtshof aber nicht seiner Verpflichtung, bei der Interessenabwägung auf die konkrete Situation im Einzelfall einzugehen (s. zB VfSlg. 18.223/2007, 18.417/2008, 18.524/2008, 18.832/2009).

2.4. Der Asylgerichtshof hat also ohne ausreichende Ermittlungstätigkeit das Bestehen eines Familienlebens des Beschwerdeführers im Ergebnis verneint bzw. - soweit er als Hypothese vom Vorliegen eines Familienlebens ausgegangen ist - eine unzulängliche Interessenabwägung nach Art8 EMRK vorgenommen. Infolgedessen wurde der Beschwerdeführer durch die verfügte Ausweisung in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt.

2. Ergebnis und damit in Zusammenhang stehende Ausführungen

1. Die angefochtene Entscheidung ist aufzuheben,

soweit damit die Beschwerde an den Asylgerichtshof gegen die mit Bescheid des Bundesasylamtes verfügte Ausweisung abgewiesen wird.

2. Die Kostenentscheidung stützt sich auf §§88 iVm 88a VfGG. Die teilweise Erfolglosigkeit der Beschwerde (vgl. nachfolgenden Pkt. B) kann dabei außer Betracht bleiben, da dieser Teil keinen zusätzlichen Prozessaufwand verursacht hat. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 400,-- sowie die Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 220,-- enthalten.

3. Eine mündliche Verhandlung war entbehrlich (§19 Abs4 erster Satz VfGG).

B. Die Behandlung der Beschwerde wird aus folgenden Gründen abgelehnt, soweit sie sich gegen die Abweisung des Asylantrages (Antrages auf internationalen Schutz) sowie gegen die Nichtzuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten richtet:

Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde gemäß Art144a B-VG ablehnen, wenn von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144a Abs2 B-VG). Ein solcher Fall liegt vor, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.

Soweit hinsichtlich der Abweisung des Asylantrages und der Nichtzuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten überhaupt (in der Beschwerde nicht näher dargelegte) Rechtsverletzungen in Frage kommen, wären sie im vorliegenden Fall nur die Folge einer - allenfalls grob - unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind diesbezüglich nicht anzustellen.

Demgemäß wurde beschlossen, von einer Behandlung der Beschwerde abzusehen, soweit sie sich gegen die Abweisung des Asylantrages und die Nichtzuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten richtet (§19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG).

Rückverweise